58.

Schon liegt mein Buch durch viele Jahre

Verpfändet bei dem rothen Wein,

Und mein Gebet und meine Lehre

Sind's, die der Schenke Glanz verleih'n.

Betrachte nur des Wirthes Güte:

Denn, was wir Trunkene gethan,

Das sieht das Auge seiner Gnade

Für eine schöne Handlung an.

Wascht mir die Bücher meiner Weisheit,

Wascht mir sie insgesammt mit Wein!

Denn, dass der Himmel weisen Herzen

Beständig grolle, seh' ich ein.

Das Herz, gleich einem Zirkel, hatte

Nach jeder Seite sich gedreh't,

Indess es nun in jenem Kreise

Verwirrt auf festem Fusse steht.

So rührend sang der holde Sänger,

Vom Schmerz der Liebe übermannt,

Dass selbst den Weisesten der Erde

Blut klebte auf der Wimpern Rand.

Froh blühte ich, weil – wie auf Rosen,

Die eines Baches Lippe küsst –

Der schlankesten Zipresse Schatten

Auch auf mein Haupt gefallen ist.

»O Herz, von Götzen ford're Anmuth,

Wenn du ein Schönheitskenner bist!«

So sprach, wer in des Blitzes Kunde

Ein vielerfahr'ner Seher ist.

Mein rosenfarb'ner Greis erlaubte

Von der in Blau gehüllten Schaar

Nie Ungebührliches zu sprechen,

Wenn Manches auch zu sagen war;

Nein, mit gefälschter Herzensmünze

Zahlt nimmermehr Hafis ihn aus:

Es kennt ja die geheimen Fehler,

Wer mit uns lebt in Einem Haus.

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 1, S. 449-451.
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