60.

Erinn're dich an jene Zeiten,

Wo noch dein Dorf mein Wohnort war,

Wo noch der Staub an deiner Pforte

Das Aug' mir machte hell und klar!

Wie Lilien wahr und wahr wie Rosen

– Weil reinen Umgang ich gepflegt –

Bewegte sich mir auf der Zunge,

Was sich im Herzen dir bewegt.

Wenn Sinniges das Herz vernommen

Vom alten Manne: dem Verstand,

So commentirte stets die Liebe

Das, was es allzu schwierig fand.

Beschlossen war's in meinem Herzen:

Nicht leben wollt' ich ohne Freund;

Was thu' ich nun, da mein Bemühen

Und das des Herzens fruchtlos scheint?

Als ich, der Freunde denkend, gestern

Zur Schenke ging mit frohem Muth,

Da fiel ein Weinkrug mir in's Auge,

Den Fuss in Thon, das Herz in Blut:

Ich suchte eifrigst zu erforschen

Des Trennungsschmerzes wahren Grund;

Doch hier gab des Verstandes Mufti

Nur seinen Unverstand mir kund.

Du hast ganz Recht: das Türkissiegel

Des Bul-Ĭshāk erglänzte hell,

Allein die Tage seines Glückes

Entschwanden leider allzu schnell.

O über diese Qual und Härte

In dieser netzumstrickten Welt!

O über jene Huld und Gnade,

Die seinem Kreise nie gefehlt!

Sah'st du, Hafis, das stolze Repphuhn,

Wie es mit lautem Schall gelacht

Und an des Schicksalsfalken Kralle

Der Sorgen ledig nie gedacht?

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 1, S. 453-455.
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