58.

Der Sprosser sprach des Morgens einst

Zur neu entsprossten Rose:

»Sei nicht so spröd', denn Viele blüh'n

Gleich dir im Gartenschoosse.«

Die Rose lächelte: »Mich hat

Die Wahrheit nie betrübet;

Doch kein Verliebter spricht so hart

Mit Jener, die er liebet.«

Der Liebe Duft steigt ewig nicht

Dem Manne zu Gehirne,

Der nicht am Staub der Schenkenthür

Gerieben sich die Stirne.

Willst du aus jenem Gemmenglas

Rubinenwein geniessen,

Musst an den Dolch der Wimper du

Erst manche Perle spiessen.

Als gestern auf der Flur Ĭrēm's

Bei sanfter Lüfte Säuseln

Der Hyacinthe Haar begann

Der Morgenwind zu kräuseln,

Da sprach ich: »Thronsitz Dschem's! Wo ist

Dein Glas, das Welten zeiget?«

»Weh, – sprach sie – dass das wache Glück

Zum Schlummer sich geneiget!«

Nein, keine Zunge spricht es aus

Das grosse Wort der Liebe;

O Schenke, bringe Wein und sprich

Nichts mehr von diesem Triebe!

Hafisens Thräne warf Geduld

Und Einsicht in die Fluthen:

Wie anders? Bergen konnt' er nicht

Des Liebesgrames Gluthen.

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 1, S. 193-195.
Lizenz:
Kategorien: