77.

Schon lang ist's, dass der Sehnsucht Brand

Die Seele mir verzehrt

Durch Wünsche, die mein ödes Herz

Zu jeder Stunde nährt.

Der Mann in meinem Auge ist

Getaucht in Herzensblut,

Weil Seiner Wange Sonnenquell

In meinem Busen ruht.

Ein Lebenswasser ist das Nass

Aus jenem Zuckermund,

Ein Abglanz jenes hellen Mond's

Der Sonnenscheibe Rund.

Seit ich den Vers vernahm: »Ich blies

Von meinem Geist ihm ein«,

Erkannte ich, Sein sei ich ganz

Und Er, Er sei ganz mein.

Geheimnisse der Liebe fasst

Nicht jedes Herz; fürwahr,

Die sinnigen und hohen sind

Nur meiner Seele klar.

Schweig', Prediger, und deute mir

Den Glauben länger nicht:

Mein Glaub' in beiden Welten ist,

Nur was mein Liebling spricht.

Erkenne bis zum letzten Tag'

Es dankbar an, Hafis,

Dass Freund und Gast vom ersten an

Dir jener Götze hiess.

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 1, S. 245-247.
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