83.

Keiner lebt, der nicht als Opfer

Jener Doppellocke fiel,

Denn, wer traf nicht Unglücksnetze

Auf dem Wege nach dem Ziel?

Spiegelt sich in deiner Wange

Nicht der Gottheit Strahlenglanz?

Ja in Wahrheit; und hierüber

Schwindet jeder Zweifel ganz.

Nicht dein Antlitz mehr zu schauen

Macht der Frömmler mir zur Pflicht:

Schämt er sich denn vor dem Schöpfer

Und vor deinem Antlitz nicht?

Weine, Morgenkerze, weine

Über mich und über dich!

Denn geheime Gluth verzehret

Wohl nicht minder dich als mich.

Gott den Herrn ruf' ich zum Zeugen,

– Und sein Zeugniss gilt fürwahr –

Dass mehr Blut als ich schon Thränen

Nie vergoss der Zeugen Schaar.

So zu kosen wie dein Auge

Wünschte die Narzisse sehr:

Doch das arme Aug', von Liebe

Und von Schimmer ist es leer!

Schmücke doch, um Gotteswillen,

Nicht dein Haar mit solcher Pracht,

Sonst bekomm' ich hundert Streite

Mit dem Ostwind jede Nacht!

Gestern ging Er. »Götze«, – sprach ich –

»Wort zu halten sei dir Pflicht!«

Und Er sprach: »Du irr'st, o Lehrer!

Diese Zeit kennt Treue nicht.«[259]

Da dein Aug' selbst frommen Klausnern

Ihre armen Herzen raubt,

Halte ich dir nachzufolgen

Nimmermehr für unerlaubt.

Komm zurück, o Herzensfackel,

Komm, denn ohne dein Gesicht

Gibt es bei dem Zechgelage

Keine Freude und kein Licht!

Wenn der Wirth mein Meister wurde,

Ändert das die Sache? Nein;

Schliesst doch jedes Haupt des Menschen

Ein Geheimniss Gottes ein.

Zu der Sonne aufzurufen:

»Sieh' doch, mir entquillt das Licht!«

Schickt sich – wie Verständ'ge wissen –

Für Sŭhā, das Sternchen, nicht.

Für den Fremdling Sorge tragen

Gilt für eine edle That;

Dies Gesetz scheint mir, o Seele,

Nicht bekannt in deiner Stadt.

Wer da liebt, der wird getroffen

Von des Tadels Wurfgeschoss:

Schützt doch auch kein Schild den Helden,

Wirft mit Pfeilen ihn das Loos.

In des Frömmlers stiller Zelle,

In des Ssofi Klause gar

Ist der Winkel deiner Brauen

Der allein'ge Bet-Altar.

Der du deine Hand getauchet

In Hafisens Herzensblut,

Denk'st wohl nicht, der Koran Gottes

Räche einst den Übermuth.

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 1, S. 257-261.
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