87.

Die Faste schwand, dem Feste weichend.

In Aufruhr ist das Herz versetzt;

In Schenken hat der Wein gegohren,

Und Wein verlangen soll man jetzt.

Die Zeit für die so schweren Seelen

Der Tugendprahler ist dahin,

Indem die Zeit der Lust und Wonne

Für alle Zechenden erschien.

Was trifft wohl Jenen für ein Tadel,

Der, so wie ich, getrunken Wein?

Nicht Schande kann es und nicht Sünde

Für die verliebten Zecher sein.

Ein Trunkenbold, in dessen Herzen

Sich nimmer Falsch und Trug geregt,

Ist besser als ein Tugendprahler,

Der Falsch und Trug im Herzen trägt.

Ich bin kein gleissnerischer Zecher

Und bin kein Freund der Heuchelei,

Und Gott, der das Geheimste kennt,

Ist Zeuge, dass dies Wahrheit sei:

Ich thu', was Gott zu thun befohlen,

Und handle gegen Niemand schlecht,

Und was man mir als unrecht schildert,

Das schild're nimmer ich als recht.

Was thut's, wenn ich und du zusammen

Ein Gläschen leeren oder mehr?

Stammt ja der Wein vom Blut der Reben,

Und nicht von deinem Blute her.

Dies halte ich für keinen Fehler,

Der Ander'n Nachtheil bringen kann:

Und wär's ein Fehler auch zu nennen;

Wo lebt der fehlerfreie Mann?

Lass das Warum und Wie, und trinke,

Hafis, durch eine kurze Zeit!

Bei Gottes Weisheit sind die Worte:

Wie und Warum – Unmöglichkeit.

Quelle:
Diwan des großen lyrischen Dichters Hafis. 3 Bände, Wien 1858, Band 1, S. 269-271.
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