XIII

[265] Es war am anderen Tag Alexander's Absicht keineswegs, sogleich, ohne alle dem Zartgefühl wohl anstehende Zurückhaltung, sich zu Erna's Einsamkeit hindrängen zu wollen. Ein Spiel des Zufalls und der Zerstreuung lenkte jedoch seinen Spazierritt unwillkührlich in die Gegend hin, wo sie wohnte, und ehe er es noch ahnete, fand er sich in ihrer Nähe, und von ihr, die mit ihren Kindern in der offenen Hausthür saß, bereits gesehen.

Es war daher jetzt unvermeidlich, sie zu begrüßen. Sie nahm ihn mit der ruhigen Haltung auf, die ein reines Bewußtseyn, verbunden mit festen Grundsätzen, gewähren, und gleich weit entfernt, ihn mit ausgezeichneter Zuvorkommenheit wie mit Zurücksetzung zu behandeln, war in der zwar interessanten, aber keineswegs sie individuell berührenden Unterhaltung, die sie einzuleiten wußte, auch nicht im mindesten die Rede von der Vergangenheit.

Alexander hatte von der Natur in seiner offenen, anmuthigen, Zutrauen erweckenden Bildung jenen glücklichen Empfehlungsbrief empfangen, der unwillkührlich die Herzen gewinnt, und der besonders durch den Zauber einer geheimen unerklärlichen Sympathie auf die Knospe zarter[265] Kinderliebe wirkt, die sich so gern im Schimmer ächten Wohlwollens erschließt.

Gleich im ersten Moment der Bekanntschaft hatte sich Otto schon mit der innigsten Neigung an ihn angeschmiegt. Jetzt lächelte auch der kleine, noch nicht jährige Wunibald ihm mit besonderer Freundlichkeit zu, und ließ sich selbst aus dem Arm der Mutter willig in den seinigen nehmen. Mit Rührung betrachtete er den süßen, in gesunder Lebensfülle aufquellenden Knaben, der – wie Otto mit den schönen Augen seiner Mutter ausgestattet – Wehmuth und vergebliche Wünsche in seine Seele blickte, und unter Liebkosungen ihn schaukelnd und mit ihm spielend stahl sich mitten unter dem Anschein ungetrübter Heiterkeit eine Thräne über seine Wange, die – nicht ungesehen von Erna – zur Erde fiel.

Mit dem Theetisch erschien auch Auguste. Das Gespräch lenkte sich auf Litteratur. Alexander erwähnte einiger neuen Erzeugnisse derselben, die gerade Aufsehen machten. Erna kannte sie noch nicht, und sein Vorschlag, sie ihr zu bringen und vorzulesen, wurde ohne Weigern von ihr angenommen. Beim Abschied bestimmte man den folgenden Tag schon zur Ausführung dieses Vorsatzes, und so wurde sein tägliches Kommen sehr bald eine ganz natürlich scheinende und im Hause nicht befremdende Erscheinung.[266]

Diese Stunden des Beisammenseyns, die bei dem glühendsten Interesse der Herzen für einander doch niemals sich gestatteten, dieses Interesse durch Worte zu berühren, waren die glücklichsten, welche Erna sowohl als Alexander jemals erlebt hatten.

Jener himmlische Zustand schlummernder Leidenschaften und schweigender Begierden, der das Wesen der Unschuld ist, wiegte an Erna's Seite Alexander's stürmisches Gemüth in die wohlthuende Stille des Friedens, und schuf ihm einen Traum von Glück, der wenigstens stets so lange dauerte, wie seine Anwesenheit bei ihr. In der göttlichen Offenbarung ihres hohen inneren Gehalts öffnete sich ihm eine Welt, wie sie sonst wohl nur dem Seligen sich erschließt, wo die marternde Sehnsucht schwieg, und das brennende Verlangen sich befriedigt fühlte, und wo es ihm klar ward, daß auch ihre Freundschaft ein Gut sei, groß genug, die Liebe aller anderen Frauen der Erde aufzuwiegen. Das entzauberte Saitenspiel seiner Heiterkeit, bisher nur in grellen Mistönen erklingend, stimmte sich allmählig wieder rein. – Ruhe, jene unerläßliche Basis alles Guten und Schönen, kehrte in seine Seele zurück, und versöhnte ihn mit dem Leben, das vorher aller seiner Kränze beraubt, jetzt wieder seine strahlende Lichtseite in der reinen Vertraulichkeit[267] ihm zukehrte, welcher Erna ihn würdigte.

Auch Erna gab sich ganz und innig den tadellosen Freuden dieses Umgangs hin, wenn gleich der geheime Kampf mit sich selbst, und das unnatürliche Ertödten ihrer lebhaftesten Gefühle leise und unvermerkt ihre Lebenskraft aufrieb.

Früher hätte sie wohl der grundlosen Eifersucht ihres Gatten das Opfer gebracht, Alexandern aus ihrer Gegenwart zu verbannen – aber jetzt – die Welt lag so tief und nichtig unter ihr, und ihr Scheideblick auf das ihr im Nebel hinschwindende Leben war zu erhaben, um mit irrdischer Sorge noch auf den kleinlichen Regungen gehässiger Leidenschaften zu verweilen – jetzt fand sie sich stark und selbstständig genug, sich über die Vorurtheile hinwegzusetzen, die wie ein giftiger Mehlthau auf ihre Freudenblüthen zu fallen drohten. Es war ihr unbezweifelt gewiß, daß ihr Einwirken auf Alexander ihn zu einem höheren Standpunkt erhoben, daß ihre Achtung und ihr Vertrauen den wilden Schmerz seiner Brust gestillt, ihn geadelt, gleichsam geheiligt hatte. Wie hätte sie diese Früchte ihres sanften Strebens aufgeben können, um einer Grille genug zu thun, die ihr reines Gewissen tief verachten mußte? Sie glaubte nicht, das Linovsky, sie kennend – es begehren werde – aber wäre es auch, so[268] fühlte sie doch bestimmt, dies sei der Punkt, wo weibliche Schwäche und Nachgiebigkeit sich zu weiblicher Kraft ermannen, und jedem vom leeren Schein hergenommenen Grund der Misbilligung kühn und unerschüttert begegnen müsse.

Nicht leichtsinnig und gedankenlos, sondern ernst erwägend schaute sie in die Zukunft, und läugnete sich die Wahrheit nicht ab, daß eine Neigung, wie die ihrige zu Alexandern, streng bekämpft werden müsse, um sich nicht selbst Gesetz zu werden. Daher versagte sie ihr jede Aeußerung, die sie hätte verrathen und seine freundlich eingelullten Hoffnungen wieder aufwecken können. Aber da die Stunden, die sie neben ihm verlebte, rein waren, und – schon längst vergangen, noch die himmlische Glorie einer Erinnerung trugen, die sie an keine verletzte Pflicht, an keine Entweihung ihrer Würde als Gattin und Mutter mahnte, so hätte es ihr Verrath an der Freundschaft geschienen, den einmal ihres Zutrauens werth Gefundenen einer einseitigen Laune Preis zu geben, die nur aus ungegründetem Argwohn hervorging.[269]

Quelle:
Charlotte von Ahlefeld: Erna. Altona 1820, S. 265-270.
Lizenz:
Kategorien: