Antwort an Egon Friedell

[142] Sehr geehrte Redaktion! Meine herzliche Anerkennung für den Essay des Dr. Friedell über Peter Altenberg. Da ich aber seit ungefähr 58 Jahren mit dem von mir hochgeschätzten, wenn auch exzentrischen[142] (außerhalb des Gewohnten), Dichter eng befreundet bin und durch mancherlei gemeinsame Interessen mit ihm verknüpft bin, so gestatten Sie mir zu seiner Charakterzeichnung (Charakter?!) einiges hinzuzufügen. Als jemand den Dichter im vorigen Jahre im Stadtpark traf, stellte sich dieser folgendermaßen vor: »Erlaube mir, mich Ihnen vorzustellen: Der Mann ohne jegliches Vorurteil hienieden!«

Damit ist eigentlich alles gesagt: Historisches, Gewohntes, Überkommenes, Lebenslüge, Abbröckelndes, Fadenscheiniges, Duckmäuserisches gibt es nicht! Das Leben beginnt mit 1. Januar 1917 oder am 2., am 3., am 7., oder 4. Juni 1918! Immer beginnt es, neu, frisch, entwicklungsschwanger, voll von geklärten Denknebeln, den Wahrhaftigkeiten alles Seins stets um einige Meter näherrückend! Und dann, eine einfache Idee des Dichters! Weshalb soll man nicht alles in zwanzig Zeilen lieber, rascher, prompter, definitiver, radikaler, rücksichtsloser, dezidierter ausdrücken als auf zwanzig bis fünfzig Seiten?! Oder, eine weitere Exzentrizität dieses Menschen: An Gedichten sind Vers und Reim hinderlich. Also mache man schöne, tiefe Gedichte ohne diese Anstrengungen! Oder: von der Elastizität des Leibes hängt allein die Elastizität des Geistes ab. Unelastische Menschen werden das für horrend, für bizarr, ja für gemein halten und dem Dichter seinen Dichtertitel absprechen! Mit einem Wort, man hält nur den für einen Dichter, der die Vorurteile, in denen man dahinlebt, dahinkriecht, dahinkeucht, nicht beleidigt! Wenn der Dichter von den Frauen, predigt: Keine anmutige, zarte, süße, feine, besondere [143] Seele möglich ohne anmutigen, zarten, gazellenartigen Körperbau, so wird er nur die »Gazellen« für sich gewinnen, während die »Tramperln« ihn verleugnen werden! Dichter sein heißt bei ihm ausschließlich: die Welt aufklären, veredeln, vergeistigen, entmaterialisieren prunklos einfach machen mit Hilfe des ernst oder bitterböse oder drohend oder überlegen lächelnd gebrachten Wortes! Vor allem: kurz und präzis sein! Nicht herum reden, sondern hinein! Und dann: aus einem Dichter muß man sich, wenn man geschickt ist, die Zibeben herausholen und das andere eventuell als unverdaulich nicht weiter regardieren. Jedenfalls erschaut er seherisch in allem und jedem die, wenn auch tief verborgene Möglichkeit zu höheren, feineren Entwicklungen, und deshalb allein schon hat er mich alle die langen Jahre hindurch eigentlich niemals enttäuscht und habe ich ihm mancherlei wertvolle Anregung in jeglicher Sphäre des Menschentums zu verdanken!

Ergebenst Ihr

P.A.

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 142-144.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]