Der Nebenmensch

[333] Die Nebenmenschen tun für den Anderen nur gerade Das, was anscheinend in ihrer Lage unbedingt notwendig, ja fast sogar unentrinnbar ist. Es gibt sogar Schurken, die sich dieser notwendigen Verpflichtung Jago-mäßig entziehen und sich erfreuen an dem Unglück der Anderen! Aber welches schlechte Geschäft machen sie dabei! Die »zertretene Seele« rächt sich, sogar im Magen- und Darm- Apparate, die Funktionen lassen unmerklich nach, weil man unmenschlich war. Es ist ein sehr schlechtes Geschäft, an Andere nicht zu denken, was hat man denn von seinem krankhaften bösartigen Eigensinne?!? Jeder wendet sich ja doch unwillkürlich ab, erblickt den Teufel im Menschen! Während der Gutmütige sich selbst hundertfach belohnt fühlt, ja sogar körperlich elastischer, Lebensfreudiger wird und seine Un-Elastizitäten wenigstens teilweise verliert! Die Menschen sind grausamblöd-brutal, aber es geht Gott sei Dank Alles schließlich an ihnen selbst aus. Jeder wird unbedingt bestraft für sein eigenes Vergehen, und Niemand entgeht dem Schicksal, das er sich selbst eigentlich bereitet hat seit Jahren. Niemand entgeht sich eigentlich selbst und seinen Seelenlosigkeiten, Unmenschlichkeiten, und je mehr er daran[333] glaubt, desto schwerer wird er dafür unmerklich bestraft! Die Zigarette, die Du Jemandem schenkst, schenkst Du eigentlich doch nur Dir! Was man sich selbst nämlich spendet, entzieht man sich direkt. Wer keine Freude hat am Spenden, ist ein Bettler! Er weiß nicht, was ihm fehlt, aber sein eigenes Leben fehlt ihm! Einmengungen in mysteriöse Lebensbedürfnisse (Spieler-Leidenschaft, das allerstupideste von der Welt ausgenommen) fremder, den Ärzten sowie den sogenannten Allernächsten vollkommen unbekannter Bedürfnisse sind direkte Verbrechen, die noch dazu mit dem heimtückischen Deckmantel besten Wohlmeinens frech zugedeckt werden!

Welche Edel-Weisheit, Selbstlosigkeit, ja geistige Anmut gehören denn dazu, Jemandem in seinem labyrinthisch komplizierten Schicksale wirklich helfen zu können!? Die Meisten begnügen sich mit frech-dummen Ratschlägen, die scheinbar nur ihrer eigenen Geistigkeit zugute kommen. Dem Anderen helfen wollen, d.h. können, ist eine geistig-seelische tiefste Wissenschaft, die mit sogenannter falscher Gutmütigkeit oder bequemer Wohlmeinung nicht das Geringste zu tun hat, sondern eher im Gegenteile. Es ist die höchste Lebenskunst, den Mysterien eines Anderen, also Fremden, folgen zu können, und ihm auf seinen schwierigen Lebenswegen irgendwie helfen zu können! Diese Jour-Gespräche über Lebens-Schicksale sind direkte Verbrechen! Diese verbrecherisch-naive-falsche Art, Anderen helfen zu wollen!!! Pfui Teufel. Dieser absolute Mangel an echtem Verantwortungsgefühl, statt gesprächsweisem Hin und Her wie von den »verständnislosen« Ärzten! Niemand nimmt den Anderen bitter ernst, begnügt[334] sich mit Gesprächen bei Himbeer-Marmelade. »Gemütlichkeit« ist das Verbrechen des menschlichen Verkehres, Alles soll überkleistert werden! Also Betrug, echteste Herzlosigkeit!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 333-335.
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