Die Seele

[88] Seele des Menschen,

Du kannst nur durch Leid wachsen,

Dich vertiefen, stark werden, gedeihen,

ja sogar »in deiner Art« profitieren!

Weshalb sträubst Du Dich also gegen dein Leid, das Dir nur Segen bringt und Menschentum?!

Betrachte doch einmal genau die Seelen, die ohne Leid, sind! Ausgedörrt sind sie, ohne Tränen-Tau!

Hunger tut weh, aber »sattsein« tut vielleicht nochweher, deinem Menschentum nämlich in Dir!

Waren wir uns je näher, Mädchen,

als an dem Tage, da ich verreisen mußte?!?

Erkanntest Du mich plötzlich da nicht erst ganz in dem Bewußtsein des Verlustes?!?

Wußtest Du eigentlich bis dahin, Wer ich war,

Wer ich Dir war, Mädchen?!

Ahntest Du meine Unentbehrlichkeit?!

Und andererseits, ist es nicht klärend,

durch Leid aus selbstgeschaffenen Lebens-Lügen

vielleicht herauserrettet, heraus-operiert zu werden,

zu neuem besserem, nein, für Dich richtigerem

Dasein, gewonnen, freigemacht zu sein?!?[88]

Diese ewige feige Sehnsucht, sein äußeres

und inneres Gleichgewicht unter allen Umständen

nicht einzubüßen,

ist das Schandmal des Philisters hienieden!

Für seine Ruhe opfert er sein Selbst.

Denn nur aus Unruhe kann Schlechtes zu Besserem sich eventuell verändern!

Saget mir ja nichts vom gesunden und wichtigen »Erhalten der Kräfte, die man hat«.

Nein, Stoff-wechseln, auf daß durch Gnade deines Schicksals

Du aus deinen engen grauen moderigen Hüllen

endlich beweglich in die lichte Wahrheit fliegest!

Diogenes kann bleiben wie er ist, und Sokrates.

Aber Ihr Anderen, Millionen, sputet Euch doch,

aus Euren Lüge-Fetzen-Hüllen

zur wärmenden Sonne der Wahrhaftigkeiten!

Bleibt Ihr am Wege dabei kraftlos liegen, ist's immer noch

bei Eurer schamlos-konservativen Trägheit eine Art von Sieg!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 88-89.
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