Erster Schneefall

[191] Merkwürdig ist das Leben.

Wieder ein erster Schneefall, der Alles in Erstaunen setzt!

Die Zeitungen besprechen die weiße flockige, leichthin schwindende Decke auf alten[191]

rotbraunen Dächern, und eben dort, wo sie noch leichthin flockig liegt.

Noch eben war es rotgoldener Herbst.

Noch glaubte man, und schon glaubt man nicht mehr. Man hätte niemals glauben sollen!

Die Winter-Gewandungen sind noch zu schwer, zu lastend, zu überflüssig,

die Herbst-Mäntel jedoch wehen Dir zu flatternd um die Hüften.

Paula ist in Innsbruck verheiratet,

bestaunt die weiße Nordkette, die herabblinkt

auf den breiten Stadt-Hauptplatz.

Anspruchslose finden sich zurecht im

ewigen gleichen faden Hin und Her des Lebens.

Doch gibt es Seelen, nein, Geister,

die, nach vorwärts strebend, aufwärts,

Gleichmäßigkeit als stetige Selbstvergiftung,

Intoxikation, empfinden! Als Vernichtung!

Wenn nichts Besonderes vorgeht,

gibt es nichts Besonderes,

wozu dann überhaupt Deiner Seele reiches Maß?!?

Bist Du zufrieden mit dem kargen Bißchen,

»noch keinen Magen-Krebs haben«?!?

Wie wenig Überflüssiges, Überschüssiges, Besonderes, schenkte Dir da Natur in ihrer Sommers-Überpracht,

wenn Du mit Deinem kriecherischen

feig erbeuteten Frieden Deiner allzu

gleichmäßigen Tage Dich endgültig zufrieden gibst?!?

Wieder ist ein »erster Schneefall«, 3. 12. 1917,

und die braunroten alten Dächer werden leichthin flockig weiß, lange hält es nicht.

[192] Erstaunst Du, daß es so wenig zum

wirklichen Erstaunen gebe?! Erstaune,

daß Du darüber noch erstaunst!?!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 191-193.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]