Fernwirkung

[203] Drei Tage, nachdem ich durch Sturz von einer Steinstiege meinen linken Arm gebrochen hatte, der um 1/212 Uhr mitternachts vom Dozenten J. Sternberg eingerichtet und eingegipst wurde, erhielt ich zugleich aus Hamburg und aus Berlin folgende Schreiben:
[203]

Hamburg, den 9. Dezember 1917


Die Nervenbahnen der rechten Hemisphäre beherrschen die linke, die der linken Hirnhälfte die rechte Körperhälfte. Die rechte Hirnhälfte ist widerstands- und arbeitsunfähiger als die linke. Die linke Großhirnhälfte hat für das animalische Leben die gleichen Funktionen wie die rechte, außerdem hat sie auch noch den größten Teil des höheren geistigen Lebens zu leiten. Das linke Gehirn wird gelegentlich versagen, da es den größeren Teil der Arbeit zu leisten hat, auch ungeachtet seiner größeren Widerstandsfähigkeit, besonders bei einseitiger Tätigkeit. Die Entlastung der linken Gehirnhälfte erziehen wir durch Schonung, d.h. Schlaf, Erholung und Ruhe. Die Mitheranziehung der rechten Gehirnhälfte zur intellektuellen Arbeit verwirklichen wir durch Kräftigung der linken Körperhälfte, die gleichbedeutend ist mit einer Stärkung des vernachlässigten rechten Gehirns: Die Ausbildung der linken Hand erhöht in besonderer Weise die geistige Leistungsfähigkeit.

Die Wirkung der Linksübung auf das Gehirn ist geradzu eklatant.

Das haben die Japaner zuerst erkannt und jedes Kind wird dazu angehalten, alle Verrichtungen der rechten Hand auch mit der linken zu üben. Die geistige Ausdauer und Tätigkeit dieser kleinen Menschen ist bekannt genug. Es gibt eben für Den kaum eine Ermüdung, dessen rechte Hirnhälfte durch entsprechende Erziehung und Übung zur Unterstützung und Entlastung der linken jederzeit[204] herangezogen werden kann. Lionardo da Vinci, Michel Angelo, Holbein, Adolf Menzel sind Ambidexter gewesen.

Im Daseinskampf, der sich immer schwerer gestaltet, wird der am besten bestehen, der über den ganzen Reichtum organischer Mittel verfügt, die dem Menschen verliehen worden sind.


Reinhard Gerling-Berlin


Hamburg, den 20. Dezember 1917 Osterstr. 49


Lieber, lieber Peter Altenberg!


Nun ist wieder die Zeit da, wo ich einen Gruß von Ihnen bekam! Vergessen Sie mich nicht!!!

Seit zwei Jahren führe ich kein Tagebuch mehr – in Ihren Märchen »steht alles drin!« Meine latenten Kräfte gebrauche ich, um in mir selbst entwicklungsfähige Möglichkeiten zu entdecken. Seit zwei Jahren schreibe ich mit der linken Hand Ihre Märchen ab. Ich habe eine neue Hand, einen neuen Arm, ein neues Gehirn – zu »seelisch-geistigen Betätigungen« bekommen!

Peter Altenberg, Sie sind in mein Leben eingesponnen, und wenn ich mich von Ihnen trennen wollte, müßte ich mich von »mir« trennen!

Weih–Nacht–Liebe! Die feiere ich jeden Abend, seit ich Sie habe!!!!

Ihre

Helene.

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 203-205.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Lebensabend
Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]