Künstlertum

[257] Jeder Künstler versucht es unwillkürlich, seine Lebens-Energieen, seine geistig-seelischen Spannkräfte, ich möchte sagen, ununterbrochen ins Maßlose zu steigern, ohne die geringste anständige oder verständige Rücksicht, daß gerade diese seine zarte komplizierte Lebens-Maschinerie die größten Rücksichten in jeder Beziehung erfordert! »Krebs« besonders ist gerade die schreckliche Folge einer ununterbrochenen Überbürdung der Nerven. Man hat trotz aller seiner von Schicksals Gnaden gespendeten Talente seiner Natur gemäß still zu folgen, da sie sonst bald Geist und Seele und Talent in Dir zerstört! Vorzeitig zugrunde gehen, irgendwie, ist ein Verbrechen wider die Natur. Mit 30 Jahren sei Dir nichts mehr verziehen, in irgendeiner Sphäre. Bis dahin konntest Du, durftest Du vielleicht ein Sünder sein. Ein »Deine heiligen Kräfte« blöd Erschöpfer.

Das Gehirn später aber beherrsche allein den Menschen, wie Bismarck das Deutsche Reich! Niemand und Nichts bringe Dich von Deinem einzigen richtigen Wege ab! Ehrgeiz, Eitelkeit, soziale Position, Geldgier sind Deine an Dir ewig unbewußt fressenden, zehrenden, Dich aufzehrenden Gifte. Du kannst Deinem Dir vom Schicksale vorgezeichneten Wege unter keiner Bedingung Dich entziehen. Denn die Rache kommt in irgendeiner Form einer schleichenden[257] heimtückischen »Stoffwechsel-Erkrankung«, die zu besiegen Du dann nicht mehr die Fähigkeit hast!

Hie und da können die Mysterien von Karlsbad, Franzensbad, Pistyan, Herz-Heilbäder, Dir, Unglückseligem, noch ein wenig scheinbar hinüberhelfen! Aber mit welchen Kosten, mit welchem Aufwand von fast übermenschlichen Energien ist es verbunden! Und wie lange dauert es trotzdem?!? Lebe also, wenn auch nicht bequem, doch Deiner eigenen Natur gemäß, und gib Deine Pläne von Ehrgeiz, Eitelkeit, sozialer Position endgültig auf: ›Otium cum dignitate!‹ sei Dein altes ewiges Merkwort. Lasse die Anderen um Dich herum hasten und sich überanstrengen. Zehn Jahre später wirst Du sie alle besiegt und untergekriegt haben! Sie erschöpfen sich leider unbewußt, haben von dem armen Kapital ihrer Lebens-Energien keine Ahnung. Plötzlich bleiben sie auf der Strecke liegen, wie getötete Krieger! Sei also vorsichtig! Sei Sieger!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 257-258.
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