Krüppel

[193] Die »Krüppel« dieses Lebens, sei es auch nur in bezug auf »unmusikalischsein« oder »freiturnen«,[193] »tauchen«, »trampolin-springen«, »dichten«, »stelzengehen« nach rückwärts im Tango-Takte, hassen selbstverständlich die Nicht-Krüppel dieses Lebens, der Kerzengerade-Rückige den Un-kerzengeraden! Aber siehe, noch viel mehr haßt der Nicht-Krüppel den in irgendeiner Weise Krüppelhaften! Da beginnt nämlich die wirkliche »Selektion«, die organische naturgemäße Aristokratie!

Selbst der Rock, den ich mir konstruieren lasse, muß der mir ganz von selbst eigentlich schon von Schicksals Gnaden oder Ungnaden zugemessene Rock sein, an dem weder Schneider noch »Gesellschaft« irgendetwas noch herumzuändern haben! Weißt du, Verlogenster aller Verlogenen, ob dicke gefleckte Horn-Knöpfe, weite Ärmel und breiter Gürtel zu Dir wirklich passen?!? Du hast es Dir, wie manches Andere, von Anderen zugelegt, weil Du von selbst modern zu sein nicht die Fähigkeit hast!

Deine Dienstboten sogar, eigentlich aber das ganze lange verlogene Leben.

Solange man sich nicht besonders um sie kümmert, sondern kalt-korrekt,

ist Alles in verhältnismäßiger Ordnung.

Aber kaum interessiert man sich menschlich-teilnahmsvoll für ihr dienendes Schicksal, für ihr »Unter-geordnet-sein«, für ihre Sklaverei,

so »übernehmen sie sich sogleich«, und werden ungezogen und anspruchsvoll, frech, zudringlich,

wie alle sogenannte Freunde Dichtern gegenüber.

Man soll eben niemals »Distanzen« ändern.[194]

Du bist Der, der Du bist, und

ich bin Der, der ich bin, eine Kluft, ein Abgrund trennt Uns, mein Freund! Für ewig!

Ich habe Unermeßliches erlitten durch meine Auffassung von »Gleichberechtigtsein«. Ich wurde der »geprügelte Hund« und Er, der »Nichtigste aller Nichtigen«, der Herr mit der Peitsche! Ich kam zu spät zur Besinnung meiner »geistig-seelischen Kraft«! Ich hoffte auf »Noblesse«, die nicht vorhanden war! Ich hätte sofort sagen, schreien, kreischen müssen: »Schauen Sie, daß Sie sofort abfahren, verschwinden!« Aber ich erhoffte es mir immer ihm zuliebe, daß er sich besinnen würde, wer er sei und wer ich sei! Aber er be sann sich nie!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 193-195.
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