Liebenswürdigkeit

[169] Liebenswürdig sein, sein wollen, sein können, sein müssen, ist für Viele oder eigentlich sehr Wenige, meistens physiologisch Vollkommene (Arme, Beine, Brustkasten, Schultern, Rücken etc. etc. etc.) ganz Dasselbe, wie viele andere organische unentrinnbare Bedürfnisse dieses ziemlich komplizierten und rätselvollen Daseins! Die Liebenswürdige will immer liebenswürdig sein, die gute Stimmung der Anderen, von irgend Etwas Belasteten, aus Eigenem erhöhen oder erhalten, ist so ganz frei von sich selbst, daß sie in der Lage ist, stets an die gute Stimmung der Anderen zu denken, ja, es als eine Art Ehrensache zu betrachten, daß man gerade in ihrer Gesellschaft auf seine verschiedenartigen Lebens-Belastungen plötzlich für Stunden unbewußt fast verzichte! Die Liebenswürdige überschreitet nicht gern die Grenze des allgemeinen, wenn auch ein wenig leidenschaftslosen Beisammenseins. Freilich muß es ihr ein fast unentrinnbares echtes Herzensbedürfnis, wegen nichts und wieder nichts so erfreuend wirken zu wollen, sein, denn sonst ist sie nur eine »Anerkennung[169] einheimsen wollende« lächerliche Gans, die ein angeblich einträgliches, aber tatsächlich sehr ermüdendes und fast ungehöriges unreelles Geschäft mit ihrem sogenannten guten Bekanntenkreise machen will! Edel-einfache liebenswürdige Gutmütigkeit ist durch keinen sogenannten »modernen Willen und Wunsch« zu erzielen, sondern erblüht nur von selbst aus der unbewußten Gnade eines den Meisten feindselig in irgendeiner Art gesinnten Schicksals, das sich schon in einer unidealen Art zu gehen oder ein Lokal zu betreten oder die Arme aufzustützen, unbewußt der eigenen armseligen Seele ununterbrochen dokumentiert und sie infolgedessen schwer belastet! Ja, sie demütigt vor sich selbst! Die Liebenswürdige will nach allen Seiten hin ununterbrochen geben, spenden, die allgemeine fade Stimmung erhöhen, und freut sich über den eventuellen Erfolg wie über einen eigentlich ganz unverdienten Sieg ihrer süß-kindlichen Persönlichkeit! Sie geht weg, und ist zufrieden, reell zufrieden, obzwar Niemand und sie selbst es am wenigsten weiß, weshalb, wodurch und wieso?!?

Am unangenehmsten ist es ihr, wenn sie auf dem nach-Hause-Wege sagen muß: »Dieser K. war heute den ganzen Abend lang so merkwürdig verstimmt, so in sich selbst verschlossen! Was dem armen Kerl nur gefehlt haben mag?! Vielleicht übrigens hat er Schulden!«

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 169-170.
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