Mein ideales Stubenmädchen

[350] Sie las die schwerverständlichsten Bücher, arbeitete von 6 Uhr morgens rastlos bis 11 Uhr nachts, nährte sich hauptsächlich von Tee und eingebrocktem Schwarzbrot, klagte nie, war stets gut aufgelegt, betrachtete das Leben als eine unentrinnbare schwere Verpflichtung, gegen die anzukämpfen einfach eine Unmöglichkeit sei! Sie verstand es gar nicht, wie man so dumm-frech sein könne, aufzubegehren, da tausend Mächte sich gegen unser Lebensglück stündlich verschwören, uns ins Verderben hinabzuziehen!?! Trotz ihrer jugendlichen beweglichen Schönheit gab sie stets ununterbrochen nach, singend, wie wenn Alles glatt ginge auf Erden, und nahezu sogar fröhlich. Nie ein tragischer Laut verlassener Hilflosigkeiten! Die Pflicht beherrschte sie, wie ein idealer Kapellmeister sein ideales Orchester, sie verstand es nicht, aufzubegehren mit dem Schicksale, sie empfand Alles als unentrinnbare Notwendigkeiten dieses Lebens. Infolgedessen, ja infolgedessen allein, sang sie, und jede Krone, die man ihr schenkte, war für sie ein besonderes freudiges unerwartetes Ereignis in ihrem süßen unbeachteten Dasein!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 350-351.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]