Mord

[176] »Herr Peter Altenberg, jetzt bin ich aber wirklich recht neugierig, wie Sie mir diesen Fall der ermordeten jungen schönen Frau durch eine ehemalige Kollegin, Choristin, in Ihrer mich immerhin interessierenden hochmodernen oder sogar abnorm aparten Art irgendwie erklären werden!«

Nichts einfacher als Das, mein lieber Herr! Man hat eben nicht fast absichtlich mit Leuten freundschaftlich (ha ha hi hi hia!) zu verkehren, um sich nur an ihrem bösen, also ungerechten Schicksale zu weiden, und sein eigenes, ebenso ungerecht vorteilhafteres, dadurch, durch den Kontrast, erst als besonderes Lebensglück zu empfinden, während man sonst seine Wohnung, seine zwei Dienstboten, seine »Fetzen« (vulgo Kleider), seine Ringe, seine allerhand blöden Überflüssigkeiten, selbstverständlich nicht von selbst als etwas Besonderes empfände! Man verkehrt also als »zufällig hochgekommene Choristin« mit Einer aus demselben Stande, um sich durch ihr Unglück erst am eigenen Glücke so recht erfreuen[176] zu können, sich weiden sogar zu können! Fern sei es mir, die Hackenschläge der vom Leben in die Ecke gedrückten unglückseligen Choristin irgendwie menschlich auch nur erklären zu wollen, pfui Teufel,

aber mit »Enterbten dieses Lebens« angeblich freundschaftlich verkehren zu wollen, um ihr Unglück so recht zu genießen, finde ich auch nicht gerade überaus menschlich anständig! »Enterbte des Schicksals« sind immerhin naturgemäße Gefahren für Die, die irgendwie zufällig hienieden »geerbt« haben! Als der ex-officio-Verteidiger der Unglücklichen, Irregeleiteten, Das gelesen hatte, dachte er: »Ach was, Quatsch, Unsinn! Unausgegorene Philosophie eines Lebens-Unkundigen! Aber einen guten Typ hat er mir gegeben! Na, wie meint er also?! ›Es ist immerhin mit gewissen Gefahren möglicherweise verbunden, wenn Menschen, die in gleichen Stellungen hochgekommen, sich absichtlich freundschaftlich (ha ha ha!) an Solche, die zurückgeblieben und gleichsam verstoßen sind hienieden, heranmachen, um ihr eigenes Lebensglück dadurch tausendfach erst zu genießen! Es erzeugt mit der Zeit Verzweiflung, tödlichen Haß und Rache!

Meine Herren! Tout comprendre c'est tout pardonner; das ist natürlich eine jener exaltiert-übertriebenen Phrasen der Franzosen, des französischen Geistes! Aber sagen wir Gemäßigteren mit einer gewissen verantworteten Gerechtigkeitsliebe: Alles Verstehen heißt wenigstens ein bißchen milde dadurch werden, und wenigstens Etwas davon verstehen! Meine Herren, Verzeihen ist in gewissen Fällen eine feige Gemeinheit,[177] aber Erklären ist die Betätigung eines richtig funktionierenden Gehirns, das rundum und um denkt!«

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 176-178.
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