Senectus

[127] Was hatte er eigentlich davon, noch vorhanden zu sein, ziemlich rüstig mit 87 Jahren?! Sein Geschäft[127] ging zwar »von selbst«; es hätte auch nicht anders geführt werden können, wenn er erst 49 Jahre alt wäre; seine Frau bemitleidete ihn, daß er nichts mehr vom Leben habe als das Leben. Vor dem Frühjahre fürchtete er sich, vor dem heißen dumpfen Sommer, vor dem Herbst und vor dem Winter. Er war weder musikalisch noch ein Naturfreund, noch schwärmte er für schöne Frauen je bloß wegen ihrer göttlichen Linien. (Im Wald ist es schattig und der See ist nicht schlecht, na ja, Alles für die Müßiggänger!) Die Frauen, diese Lieblichsten, ja hast Du denn, Alter, eigentlich Glücklichster aller Lebendigen, nicht einmal mehr dein Auge, dein begeisterungsfähiges altes Auge?! Nein, auch davon verstand er nichts. »Die Frauen, besonders die lieblichen, wollen von uns Ruinen nichts wissen, sie ekeln sich!« Ganz richtig und in Ordnung! Aber wir, wir, wir können sie doch gerade so bewundern, anbeten wie mit 20?! Was hat sich denn da verändert?! Dafür hatte der Alte keinerlei Organe. »Wenn sie mich nicht mehr mag, wie soll ich sie denn dann mögen?!« Pfui Teufel, alter häßlicher Wucherer! Wie wenn Du sagtest: »Ich liebe nicht den Flieder, weil er mich auch nicht lieb hat!?« Der Flieder »spendet« doch stets und stets, dir, Deiner alten Nase, deinem alten Auge, selbstlos, kümmert sich gar nicht um Das, was Du ihm für Duft und Farbe zu gegenbieten habest?! Wer als Greis fühlt, daß er nichts mehr genießen kann, den treffe gerechterweise die wertlose allzulange fade Stunde des allzulangen Tages, der allzulangen Nächte unbewaffnet gegen das schreckliche »Nirvana«! Wer sich beklagt, ist schuld an seiner[128] Klage, empfinden kannst Du bis zu deiner Sterbestunde; das genügt vollkommen. Gegen-Liebe erhoffen, erwarten, ist stupider frecher Jugend-Irrsinn!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 127-129.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]