Vorlieb

[53] Alle Menschen nehmen »vorlieb«. Das ist ihr Unglück, obzwar es scheinbar ihre »Rettung« ist. Nicht »vorlieb« nehmen, macht Dich sogleich vor[53] Dir selbst zum »gekrönten Märtyrer dieses armseligen Daseins!« Weil Dir nichts genügt und vieles Dich bald oder noch balder enttäuscht, bist Du vor Dir selbst vor allem der »heilige Ungenügsame!« Schaue doch mit Schrecken, mit Grauen fast, um Dich rundum herum, womit alle »es sich genügen lassen«, nachgeben, verstummen und sich hinschleppen?!? Könntest Du ein Jahr lang mit dieser Anna B. glücklich sein?! Nicht eine Stunde. Aber das, siehe, bringen alle zusamm', zu ihrem Heile, nein, zu ihrem Unheile! Jede Maschine hat ihre unerbittlichen Gesetze, selbst deiner doch Dir gehörigen Uhr kannst Du es nicht beibringen, sie solle bei 1/25 erst auf 5 Minuten nach 3 stehen. »Vorlieb« nehmen mit irgend etwas hienieden, heißt, seiner, ach so komplizierten Lebensmaschine etwas gebieten, was sie dennoch nicht leisten kann! »Nimm mit nichts ›vorlieb‹!« sagte ich zu meinem wunderbar schönen schlanken, aschblonden, 15jährigen Töchterchen, das ich gar nicht habe, »nimm mit nichts vorlieb, Kind, diesen Segenswunsch gebe ich Dir mit in dein blühendes Leben, ich, dein Vater, den Du gar nicht hast!«

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 53-54.
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Mein Lebensabend: [Reprint der Originalausgabe von 1919]