[321] Sobald Dir, oh Mitleidens-voller Mann,
Jemand ganz bestimmter leid tut,
verlierst Du momentan die Kraft,
das Leid der Welt und aller fremden-verwandten Lebendigen
liebevoll-zärtlich in Dein Herz, in Dein nächst höheres Herz, Gehirn,
ihren Besserungen nachspürend,
aufzunehmen!
Jemand ist leider drin, okkupiert den Platz,[321]
wo vorher Raum genug war für das Leid der ganzen Welt!
Ein Name macht nunmehr Dein Auge trocken,
das kurz vorher für Alle zärtlich-feucht geschimmert, hatte!
Sei's eine Frau, ein Kind, ein Hund,
ja nur eine kleine Villa mit Gärtchen,
ja nur eine kleine Sammler-Leidenschaft für Marken, Münzen oder sonst etwas,
ja Alles raubt Dir Dein wunderbares freies
Mit-leiden mit Allen, Du wirst beschränkt,
es raubt Dir die Sehnsucht und die Kraft,
der Welt-Regenerierung tätig beizuwohnen!
Deshalb kannst Du auch nie den »Göttlichen Frieden« finden,
trotz allem Deinem Klein-Glück,
sondern nur so halbwegs einen Teil-Frieden,
einen Dreiviertel-Frieden, im Kampf des eigenen Empfindens!
Irgend etwas kann deshalb immer wieder plötzlich schief gehn
in Deinem scheinbar wohlgefügten Glücks-Gebäude!
Ich rate Dir, gib kleines Glück in handlichem Format,
wo Du ihm auch bequem begegnest, beizeiten auf!
Die Seele will, falls es überhaupt eine ist,
den Menschen helfen, nicht dem Einzelnen, der Einzelnen!
»Ich bin ein besserer Mensch! Siehe, wenn
mein Hund müde ist oder durstig oder hungrig
oder kränklich oder auch nur schlecht aufgelegt,[322]
ich weiß es gleich, ich spüre es, was er benötigt!«
Hund Du selber,
daß Du einem Hunde soviel Rücksicht,
soviel Sorgfalt weihest,
für Schubert, Beethoven, Mozart, Hugo Wolf, hatte Niemand solche zarte Nerven!
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Mein Lebensabend
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