Die freie Künstlerschaft

[52] Als ein berühmter Künstler des Burgtheaters in der »Pilsenetzer Bierhalle«, an meinem Stammtische, meine heilige blonde Freundin kennenlernte, und bemerkte, daß sie Zigaretten rauchte und ohne Hut dasaß, mit einem blaubraunen P.A.-Kollier, offenem Halse, und überhaupt schrecklich apart und außergewöhnlich aussah, konnte er nicht umhin, als sie aus einem gewichtigen unaufschiebbaren Grunde für einige Minuten sich von meinem Tische entfernte, an mich sogleich die wichtigste Frage seines geängstigten, gequälten, in Unruhe versetzten, bürgerlich-gutmütigen Herzens zu stellen: »Wovon lebt diese merkwürdige, interessante und wahrscheinlich überaus wertvolle junge Dame?! Ist sie ›von Haus aus‹ so unabhängig gestellt, daß sie tun und lassen kann, was sie will?! Ist sie eine ›Waise‹?! Oder eine Millionärin?!«

»Nein, sie ist ganz arm und hängt sehr an mir!«

Siehe, die bürgerlich funktionierenden Menschen, wenn sie auch »beruflich« zufällig Künstler sind, verzeihen Einem Alles, Alles, Alles, wenn man das Einzige, was auch sie nur unter einer anderen Maske erstreben, Geld, besitzen. Ich hätte nur sagen müssen: Meine heilige Freundin hat von ihrer Großmutter aus 150000 Kronen zu erwarten, und das erregte Bedenken des Künstlers wäre sogleich geschwunden, und vielleicht hätte er mir sogar herzlich gratuliert!

Quelle:
Altenberg, Peter: Mein Lebensabend. Berlin 1–81919, S. 52.
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