[101] Ich trage seit dem 9. März 1917, meinem 58. Geburtstage, Sandalen an nackten Füßen. Seitdem erlebe, erleide ich die »Sünden Wiens« an den armen Lungen und, ziemlich bedeutungsloser, an meinen nackten Füßen! Füße kann man zehnmal täglich reinigen, aber Lungen?!? Sämtliche Geschäfte betrachten Trottoir und Straße, von sieben morgens an als Ablagerungsstätten für den Staub[101] der Staubtücher, der Fußmatten, der Teppiche! Den »geliebten« Hunden werden die Trottoirs als »Klosetts« direkt liebevoll anerzogen! Das »Staub auf die Passanten herunterschütten« von Fenstern der Stockwerke aus ist polizeilich verboten, aber dasselbe »Verbrechen«, aus den Geschäftsläden im Parterre, also noch direkter, ist scheinbar erlaubt, sonst täten es ja doch nicht Alle! Auf »selbstverständliche Anständigkeit« seinem unschuldigen fremden Nebenmenschen gegenüber darf man sich doch heutzutage noch nicht verlassen; da sind schon drakonische Verordnungen mit hohen Geldstrafen besser am Platze! Straßenstaub und Mist trocken in die Luft wirbeln, wie es unsere Straßenkehrer tun, statt zuerst es mit Gießkannen niederzuschlagen und in einen unschädlichen Brei zu verwandeln, ist ebenfalls ein Verbrechen an den Lungen und an meinen nackten Füßen. Jede gute Neuerung erzeugt auch von selbst richtigere Überblicke über die konservativen inveterierten Laster. Unsere Art, die Straße, die Trottoirs als »Mistgrube« zu betrachten, ist ein »hygienisches Verbrechen«! Nicht Jedermanns Sache ist es, den Anderen helfen zu wollen; ich will es. Nichts Richtiges ist zu unwichtig, um dafür nicht ein »Danton, Marat, Robespierre« sogleich zu werden. Ich, wie erwähnt, kann ja täglich zehnmal meine nackten Füße rein waschen; aber Ihr Eure nackten hilflosen Lungen?!? Für Staubtücher auf die Straße ausgestaubt 100 Kronen für die »Kriegsblinden«! Nein, 200 Kronen! »Hygienische Reinlichkeit« ist eine Art von unbewußter »physiologischer[102] Genialität«, aber Wien besitzt sie eben nicht. Es besitzt dafür, auch ein »Gnadengeschenk der Götter«, die »gutmütige Gleichgültigkeit«! Im »Volksgarten« liegt Zentimeter-dick eine Staubschichte, die von Promenierenden und Kindern stetig aufgewirbelt wird. Fuhren von herrlichem Donausande und ununterbrochene Hand-Spritz-wägelchen könnten ein »Paradies« gestalten, aber Niemand nimmt sich die Mühe. Da kann man nur sagen: Heiliger Rathauspark, und »Anlage um die Minoritenkirche herum«! Dort ist die Luft wenigstens so rein und staubfrei wie es in einer Großstadt überhaupt sein kann. Man muß erst mit nackten Füßen gehen, um die Verbrechen an den fremden Lungen ganz zu verstehen und zu hassen!
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