Einst

Ich ging heute, 3 Uhr nachmittags, bei hellem Frühlingssonnenschein, 3. Mai 1907, auf der »Freiung« an einem Manne vorüber, der mich freundlich grüßte und ich, ich grüßte ihn höflich zurück – – –. Es war der Professor an der Universität für Augenheilkunde K. Ich liebte ihn einst fanatisch, er war 5 Jahre lang mein Hofmeister gewesen. Seitdem ist er grau geworden, Frau und Töchterchen sind ihm gestorben. Wenn wir so aneinander vorübergehen, höflich grüßend, ist es wie ein Rätsel, wohin die Dinge der Seele entschwinden!?! Ich glaube nicht, daß er Frau und Tochter lieber hatte wie einst mich, seinen Schüler. Und ich selbst hatte bestimmt nie, nie, nie einen Menschen lieber als ihn, den gütigen verständnisvollen Hofmeister. Ich schenkte ihm die Zärtlichkeit meiner Seele und er wußte sie mehr zu achten als später jene vielen Frauen, die mich schmählich verraten haben! Er wußte es, daß ich seine Güte, sein Verständnis für mich mit unendlicher Liebe vergälte, und wenn ich ihn niemals kränken hatte können, so war es deshalb, weil es eine Gemeinheit gewesen wäre aller seiner edlen Rücksicht gegenüber!

Meine Schwester, die rotgoldene Schönheit, hatte ihn auch sehr lieb, obzwar sie erst 13 Jahre alt war. Er behandelte sie mit ungeheurem Respekte. Viele fanden es übertrieben und unnatürlich, nur ich nicht. Ich gönnte ihm meine geliebte Schwester. Später heiratete er reich und die Fäden der Seele wurden abgeschnitten. Was hat er, was habe ich seitdem erlebt, erlitten?!? Nun traf ich ihn, 3. Mai 1907,[9] im Frühlingssonnenscheine, auf der »Freiung«; er grüßte freundlich, ich erwiderte den Gruß höflich-verlegen. Und dennoch bin ich einst fanatisch an dir gehangen, geliebter Hofmeister. Wohin entschwindet ihr, Dinge der Seele?!?

Mein exzeptionell geliebter Schmetterling war während meiner ganzen Kindheit der Apollofalter; ich kannte alle Nuancen seiner Färbungen. Die grellroten Ringelein und die grellgelben und die glasartig durchscheinenden Flügel. Mein geliebter Hofmeister und ich gingen auf Bergwiesen auf die Jagd nach Apollofaltern. Er sagte gemessen: »Nun, dieses ist ein wahres Prachtexemplar – – –.« Ich war wie berauscht von dem Fange. Andere müssen erst ein Nilpferd schießen oder einen uralten Elefanten im Kongolande, der alle Kniffe kennt des kühnen Erlegers. Aber ich erlegte bereits als Kind in der Sonnenglut ein seltenes Prachtexemplar von einem Apollofalter. Mein Hofmeister nahm an meinem Glücke lebhaft teil. Er sagte: »Wir bringen heute eine seltene Jagdbeute – – –«. Und meine wunderschöne Schwester von 13 Jahren sagte: »Gewiß haben Sie ihm den schönen Schmetterling verschafft, lieber Herr Hofmeister – – –«. Und der Hofmeister erwiderte: »Nein, er saß im ausgetrockneten Bachbette auf einer Hollunderstaude, Peter hat sich geschickt angeschlichen wie ein Indianer auf dem Kriegspfade – – –«. Ich hatte eine Sammlung von 300 Stück Apollofaltern, aber ein jeder war für mich Kenner ein von allen anderen grundverschiedenes Exemplar. Wo seid ihr, Zeiten der Liebe zu Hofmeister und Apollofalter?![10]

Quelle:
Peter Altenberg: Märchen des Lebens. Berlin 7–81924, S. 9-11.
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