Erinnerung

[61] Ich verstehe das alles nicht von der Kindheit, von diesem Gegensatze nämlich der Kindertage und der späteren. Das verstehe ich nicht. Denn hierin habe ich doch eine Kontrolle, da ich 49 Jahre alt bin und mit 9 Jahren nach Vöslau kam im Sommer. Der Arzt hatte zu meiner wunderbar schönen überzarten Mama gesagt: »Da Sie also Ihren geliebten Gatten während der Sommermonate nicht in Wien für sich einsam arbeiten lassen wollen, andererseits aber Sie und Ihr Söhnchen sehr zart organisiert sind, so rate ich Ihnen dringend zu Vöslau. Es ist trockene staubfreie Luft, stundenlange Tannenwälder, ein Bad von 22 Grad Réaumur, und ihr geliebter Gatte kann jeden Abend hinausgelangen.« Ich lernte das grünbewachsene Geländer des kleinen Bahnhofes damals fanatisch lieben, die lange eigentlich melancholische Bahnhofstraße mit dem braunen Bache, in welchem Wäsche gewaschen wurde oder Enten ein Bad nahmen, das nur die letzte Vorbereitung war zum Abgestochenwerden. Rechts war die riesige Spinnfabrik. Man wußte nichts von ihr, als daß der Direktor ein persönlicher Freund meines Vaters sei. Man war erstaunt, an einem Landaufenthalt eine große Spinnfabrik anzutreffen, mit Gärten und Blumenbeeten und stark vergittert und schweigsam. Man sah Rauch aus langen dünnen Schloten und dachte nicht weiter nach. Dann kam man zum Bade, wo es nach Linden roch und nach den sonngedörrten Planken, die das Bad umfriedeten. Bänke waren da für die Ausruhenden vom[61] Bade, für die Wartenden und Erwartenden. Die graublaue Quelle kam aus dem Innern der Erde und floß über Kieselgrund. Die Natur bot nirgends eine Pracht und Fülle, aber jede Eiche war bekannt und beliebt auf dem schütteren trockenen Wiesengrunde. Im Walde waren Büsche mit roten Beeren, mit schwarzen Beeren und mit hellgrünen Beeren, und Blumen waren nur zu zählen. Die Tannen würzten an heißen Stellen die Luft. Dem Boden fehlte entschieden Wasser, und die angeschnittenen Tannen gaben Harz von sich, ihren Lebensbalsam. »In drei Jahren müssen sie daran zugrunde gehen«, sagte unser Hofmeister, »aber der Herr Baron wird davon leben.« »Es tut ihnen aber wenigstens nicht weh«, erwiderte ich. – »Weißt du es?!« sagte mein geliebter Hofmeister. Bei der »Waldandacht« begann eigentlich erst für mich die Wildnis. Diese Waldschlucht bis Merkenstein kam mir vor wie unentdeckte Wege zum Viktoria-Nyanza. Ich war erstaunt, daß man keine scharfen Beile benötigte, um sich durch undurchdringliches Gestrüppe einen Weg zu bahnen. Immerhin war es eine Waldschlucht, die sich hinzog ins Unendliche. Der Name »Merkenstein«, dort, wo das Tal endete, war wie der Name »Ewigkeit«. In Vöslau selbst liebte ich alles, alles, jeden Gartenzaun, und die Blicke in die trostlose Ebene, wo das Bahngeleise war. Im Jahre 1866 wurden die Sachsen in den Gartenhäusern einquartiert, und am Vormittage lagen sie auf der »Waldwiese« und sangen und rauchten. Meine liebe Mama wohnte damals in der Villa »Rademacher«, am Rande der Waldwiese, hatte mich, zwei Dienstboten[62] und eine Kinderfrau, und wußte vom Kriege nur, daß die Sachsen im Gartenhäuschen einquartiert waren und auf der Waldwiese vormittags sangen und rauchten! Das Wasser des Bades war graublau und sehr angenehm lau, aber sehr bald hatte man dennoch genug und legte sich in die Sonne. Der Lindenduft kam von allen Seiten und man war sehr glücklich. Besonders Mama liebte man fanatisch. Nichts liebte man so wie Mama. Eigentlich krankhaft. Nun, und siehe, mit 49 Jahren besuchte ich eine teuere Freundin, die dort zur Erholung weilte, im Sommer 1906. Und alle meine Kindheitsgefühle kamen wiederauferstehend zum Vorschein, wie Eingesargtes, das lebendig wird. Nichts, nichts nichts, hatte sich verändert, nichts war verblaßt, alles wirkte wie einst! 39 Jahre waren spurlos an meiner Seele vorübergegangen und sämtliche Impressionen des Knaben erstanden in ungeschwächter Kraft. Mama, du bist im Grabe, Dienstboten und Bonnen sind verheiratet oder gestorben. Mein Vater ist verarmt, und die Spinnfabrik gehört irgend jemand, wahrscheinlich einer Aktiengesellschaft. Im Bade duftet es nach Lindenblüten, wenn die Zeit kommt. Und was sonst an Neuerungen ist, meldet die Kurkommission in ihren Broschüren! Ich aber spüre es nicht in meiner Seele, daß 39 Jahre vergangen sind, da ich Vöslau lieb hatte und alles, was drum und dran war. Kindheit, in mir bist du also nicht gestorben und verdorben![63]

Quelle:
Peter Altenberg: Märchen des Lebens. Berlin 7–81924, S. 61-64.
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