Erlebnis

[100] Ich erzähle eine Geschichte aus meinem Leben. Sie hat vielleicht nur Interesse, weil sie wahr ist. Aber das ist sie wenigstens buchstäblich.

Es war vor ungefähr 15 Jahren und ich hatte damals weder etwas veröffentlicht, noch je etwas geschrieben. Da sagte mir ein liebes gutmütiges Mädchen in einem Geschäfte: »Herr Doktor (irgend einen Titel mußte man mir doch geben), Herr Doktor, meine jüngere Schwester, das ›Sanfterl‹, wie wir sie alle nennen wegen ihrer Sanftmut, möcht' nur einmal im Jahr auf einen Ball geführt werden, nur zum Zuschauen. No, und weil sie diese noblen Grabenfiaker den ganzen Tag von ihrem G'schäft aus sieht, wo sie bedienstet ist, bildet sie sich halt den Fiakerball in der Gartenbaugesellschaft ein, das Dummerl. Ich vertrau' das Mäderl aber nur einem einzigen Menschen an, das sind Sie!«

Und so ging ich mit Elise auf den Fiakerball. Sie langweilte sich in meiner Gesellschaft entsetzlich, während ich ihre unbeschreibliche Schönheit stumm bewunderte. Plötzlich kam ein Fiaker und steckte ihr einen Zettel zu. Wie der Blitz verschwand dieser in ihren Händchen. Nach einer Viertelstunde mußte sie »irgendwohin« gehen, wohin ich nicht mitdurfte. Sie kam nicht mehr zurück. Ich suchte sie und fand sie nicht. Da fragte ich einen Bediensteten, ob es noch einen Raum gebe. Ja, im Souterrain säßen die Kavaliere, die Stammgäste der Herren Fiaker. Ich stürzte hinunter. Da saß an einem Tische mitten unter zehn Kavalieren Elise und trank Champagner.[100]

Bei mir hatte sie nur ein kleines Eis und zwei Wafferln bekommen. Mit einem Sperberblick ersah ich jenen Kavalier, der noch am nüchternsten war, stürzte auf ihn zu und flüsterte ihm ins Ohr: »Im Namen der Menschlichkeit, auf ein Wort!« Er erhob sich sofort, ging mit mir in eine Ecke. Ich sagte: »Dieses Mädchen wurde mir von ihrer älteren Schwester für die heutige Ballnacht anvertraut. Wenn sie betrunken sein wird, wird sie verloren sein! Das wissen Sie so gut wie ich! Adieu – – –.«

Ich ging hinauf, an meinen Tisch zurück. Fünf Minuten später war Elise bei mir. Sie saß da, bleich, verdrossen. Dann sagte sie: »Sie haben mir da eine schöne Sache angerichtet. So eine Blamage! Mit Ihnen geh' ich auch nicht mehr auf einen Ball«. Ich erwiderte: »Ich habe Sie zu beschützen, Elise, bis Sonnenaufgang, 5 Uhr früh, und bis das Haustor sich hinter Ihnen geschlossen haben wird!!! Von da an sind Sie frei«.

»Ah, gehen S' mit Ihnere faden Reden, da werd' ich aber wirklich gleich wild werden, wissen S', was die Kavaliere g'sagt haben?!? ›Gehen S' nur g'schwind hinauf, mit an solchen Narren, der auf an Ball mitten in der Nacht sagt: Im Namen der Menschlichkeit!‹, mit dem is nicht ganz richtig« –. »Ich fuhr mit ihr nach Hause. Am nächsten Tage sagte ihre Schwester zu mir: »No, wie hat sich das ›Sanfterl‹ benommen?!?«

»Ihrem Kosenamen entsprechend«, erwiderte ich.[101]

Quelle:
Peter Altenberg: Märchen des Lebens. Berlin 7–81924, S. 100-102.
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