Mama

[142] Meine Mama ist tot. Nichts von ihr ist übrig, sie ist aus der Welt verschwunden.

Wenn sie für das Theater, eine Soiree, einen Ball frisiert, angezogen wurde, war ich als Kind verzweifelt und wie in Todesangst. Ihr Weggehen abends aus der Wohnung kränkte mich unbeschreiblich. Die Bonne sagte: »Schau' doch, was du für eine schöne Mama hast – – –«. Niemand begriff meinen Schmerz. Sie ging in die Welt, die nicht die meine, die unsere war, und zwar sogar mit Freuden. Ich war tief unglücklich. Ich sah die Zimmer mit den Öllampen, wie nach einem verheerenden Kriege, wie nach einem Unglücksfalle. Den Spiegel, an dem sie frisiert wurde, das Lavoir, in dem sie ihre zarten Hände gewaschen hatte, den Schlafrock, die Pantoffeln. Alles war so in Unordnung geraten; nur weg, weg, weg in das Vergnügen hinein! Niemand hatte Sinn und Zeit für meinen Schmerz, weder die alte gute Köchin noch das liebenswürdige Stubenmädchen, noch die Bonne. Alle setzten sich zusammen und tratschten und waren vergnügter als sonst. Ich aber hatte mein Liebstes verloren, während die anderen einen »freien Abend« gewonnen hatten.

Vor einigen Tagen stand ich nachts 2 Uhr vor dem Hause Franzensbrückenstraße 3. Ich sah zu den dunklen Fenstern hinauf im 2. Stockwerk. Hier also, um diese stille Stunde, war meine schöne Mama in unendlichen Leiden gelegen, hatte mich zur Welt gebracht. Ich hörte gleichsam mein erstes Winseln, sah Mama zu Tode erschöpft von ihrer Lebenspflicht.[142]

Also ich war da; das Verhängnis meines Daseins war nicht mehr rückgängig zu machen, ich war verurteilt für die endlosen Verirrungen; ich schrie, aber die Hebamme sagte wahrscheinlich: »O, eine gesunde Lunge!«

Nun stehe ich da, vor diesen Fenstern, in derselben Nachtstunde, höre gleichsam Mamas Seufzer wieder. Ich bin glatzköpfig und ziemlich verkommen und 48 Jahre alt und habe es zu nichts gebracht trotz herrlicher Anlagen.

Mama ist tot. Nichts von ihr ist übrig. Sie ist aus der Welt verschwunden auf Nimmerwiedersehen. Sie hat mir einen gesunden Leib, Intelligenz und Seele mitgegeben, also ihre Verpflichtung als Mutter ideal erfüllt. Sie ruhe in Frieden – – –.[143]

Quelle:
Peter Altenberg: Märchen des Lebens. Berlin 7–81924, S. 142-144.
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