[227] Man hat mir von der geehrten Direktion aus einen ausnahmsweisen Ausgang erlaubt aus den rostroten Ziegelmauern des Sanatoriums, von 6 bis 7 Uhr abends. Es war noch sehr schwül, aber man ahnte bereits an gewissen Wiesendüften und Lufthauchen die Segnungen des anbrechenden Abends.
Der Haushüter schloß auf mit einer Miene, die besagte: »Mir kann's schließlich egal sein, ob der Kerl sich irgendwo auf die Schienen legt. Westbahn, Südbahn, Verbindungsbahn, vor rasende Automobile, oder ob er brav zurückkommt.«
Ich betrat die staubgraue graustaubige Dorfstraße. Überall Frieden und Gesundheit, inmitten von Armseligkeit, Trostlosigkeit und Wiesen, die es zu nichts bringen konnten wegen Staub.
Da erblickte ich die elfjährige braungebrannte Schusterstochter, der ich einen Blick voll Freundschaft und Verehrung gab. Sie erwiderte: »Ich lebe hinter Kerkermauern, ich habe jetzt zum erstenmal einen menschlich-warmen Blick empfangen – – –.« Das sagte sie mit ihren edlen sanften Augen, aber deutlicher als mit Worten, die überhaupt nichts besagen!
Dann sah ich in einem Hochparterrefenster die herrliche Fünfzehnjährige, Fräulein L. Ich sagte zu ihr: »Wissen Sie es bereits, daß alle Männer feig, niederträchtig, heimtückisch und nachsichtslose Mordgesellen sind an solchen Schönheiten wie Sie?!?«
»Ich weiß es«, erwiderte sie mit ihren wunderbaren Augen.[227]
»Ich bin vorläufig eine erstehenswerte preiswürdige Ware. Aber ich werde mir meinen schändlichen feigen Käufer wenigstens gut aussuchen – –.«
Ich erwiderte: »Amen – – –.«
Dann traf ich Frau S. Sie hatte alles, alles bereits hinter sich, und ging zwischen den verstaubten Wiesen spazieren. Sie sagte: »Ich kann gar nicht in diese vielen Fenster blicken, hinter denen die dumme Jugend die Märchenwelt erwartet. Ich möchte sie alle abstechen wie Gänse, um ihnen die langjährigen Martyrien zu ersparen. Wir alle, die wir da sind, sind Dichterinnen; aber die Männer spekulieren an der Börse des Lebens. Wir haben ewig so viel Hoffnung und Dankbarkeit in uns, zu weinen für eine besonders schöne Stunde.«
Da ging die Fünfzehnjährige vorüber, mit ihren Träumen und Schäumen und einem neuen Hut aus Wien. Die Dame sah, daß ich sie unbeschreiblich liebevoll anblickte, anstarrte. Da sagte sie: »Recht so! Vielleicht wird dann der frech-begehrende-zerstörende-infame Blick der anderen Männer keinen solchen Eindruck mehr auf sie machen – – –.« Sie ging weiter zwischen den verstaubten Wiesen.
Ich kam an der Straße an einem verstaubten Heiligenbilde vorbei, das wie aus hellgrauem Ton von einem unmündigen Kinde blöd-ungeschickt hergestellt aussah – – –. Da sagte ich innerlich zu dem Heiligen: »Wer du auch seist, verleihe dieser süßen Fünfzehnjährigen die Erfahrungen der Dame auf den verstaubten Wiesenwegen und meine eigenen – – –!«
Ein Schriftsteller älteren Datums würde nun[228] schreiben: »Da sah mich der hellgraue, verstaubte Heilige an der Dorfstraße so merkwürdig an, so gewissermaßen gnädig verständnisvoll – – –.« Aber mein moderner Impressionismus, romantischer Idealismus, zwingt mich, mitzuteilen, daß das Antlitz des Heiligen ganz unverändert blieb, wie wenn man selbst von ihm diesmal etwas völlig und gänzlich Unmögliches verlangt, erbeten hätte – – –.
Die Fünfzehnjährige ging unbeschreiblich elastischen, geflügelten Schrittes die staubgraue graustaubige Dorfstraße hinab. Sie wußte es, sie könne einen jeden haben, den sie nur wolle. Aber wen sie von allen diesen wollen solle, das, das wußte sie nicht![229]
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