[191] Sie war eine bleiche Dame von vierzig Jahren. Sie hatte eine Welt verloren. Sie besass noch eine Welt, monsieur Fripp und monsieur Frapp, ein Aquarium und zwei goldgrüne Inséparables, mit einem Wort die Menagerie. Fripp sagte immer: »Gute Frau – –«, aber nur mit den Augen. Dann lächelte sie so, gleich war es wieder weg, husch – – –. Frapp, der Staar, sagte: »Arme Stefanie, Steff, Steff, Steff – – –.«
Das Aquarium enthielt Goldfische, einen kleinen Springbrunnen, schöne grüne Wasserpflanzen und glänzende weisse Kieselsteine. Das hatte ihr der Herr Schwiegersohn geschenkt.
Der Schwiegersohn kam jeden Abend, küsste die bleiche Dame. Das hiess:
»Du weisst schon, wen ich da mitküsse – –!?«
So küsste er sie.
Sie sagte oft zu dem Neffen, der bei ihr wohnte und wie ein Sohn aufgehoben war und kein sehr glücklicher Mensch war: »Du mit deinen Ideen, Du bist ja wie Jesus Christus – – –.«
Aber die reine, die wahre Christin war sie, denn sie hatte die Leidensstationen durchgemacht und hatte[191] ihr Ich verloren und lebte in denen, die nicht mehr waren und lebte für die, die waren und für die unschuldigen, intelligenten Thiere – – –. »Was kann ich Georg bieten?!« dachte sie, »ein bischen Frieden und Tafelspitz mit Paradeis-Sauce – – – – –.«
Der Hund sprang meterhoch an ihr empor, der Staar sagte: »arme Steff – –« und die Goldfische waren riesig dankbar, indem sie herumschwammen und glitzerten und schwiegen.
Einmal lag einer im Lavoir.
»Was ist das – – –?!« sagte der Neffe, »warum liegt er im Lavoir – –?!«
»Der arme Kerl ist krank – –« sagte die Dame, »er muss im Salzwasser liegen.«
»Woran erkennst Du das, dass er krank ist –?!« sagte der Neffe.
»No weisst Du – – –! Er wird doch ganz traurig!?«
Das war wirklich rührend. Der Neffe stand daher fünf Minuten über das Lavoir gebeugt, wo das Goldfischlein die Cur gebrauchte und Soolenbäder nahm.
»Er wird schon kräftiger – –« sagte er.
Die Dame sass, ein bischen fröstelnd, beim Ofen und sagte: »Nein, er wird sterben – – –. Georg, heute bekommst Du wieder deine geliebten »gateaux fourrés« mit Marillensaft.«
Einmal sagte der Neffe: »Da habe ich einen Freund, der Schiffbruch gelitten hat. Er war in Brasilien und nach einem Jahre ist er zurückgekehrt. Darf ich ihn mitbringen?!«[192]
»Nein – –« sagte die Dame.
Am nächsten Tage sagte sie: »Bringe deinen Freund, welcher Schiffbruch gelitten hat – –.«
Um acht Uhr Abends erschien ein junger Mann, mit einem Antlitz wie Hölderlin.
Nach dem Souper sagte der Neffe: »Was isst man in Rio – –?!«
Er meinte: »Erzähle überhaupt – – –.«
Der Schiffbrüchige erzählte von Bananen und Ananas, von den schwer schälbaren honigsüssen Orangen, von den giftigen Schararaka's, von den Onza's, die in der Dämmerung brüllen, von den Königspalmen, palmeira reale, von den breitblättrigen Musacéen, von den weisschimmernden Sternbildern, den feinen Nationalgerichten, der Tramway, die in den Urwald führt und von den bleichen Frauen mit den Mandolinen-Augen und der sammtenen Haut und den Diamanten und Smaragden im braunen Haar – – –.
Die Dame lag in einer Chaiselongue.
»Haben Sie Kolibris gesehen – –« sagte sie mechanisch. Sie dachte an ihre Kindheit, wo man gelernt hatte: »Die Honigvögelchen, auch Blumenvögelchen genannt, sind die kleinsten Vögel von der Welt –.«
»Ich habe einen mit dem Schmetterlingsnetz gefangen. Er flimmerte und flirrte über einer Blüthe, wie ein Nachtschmetterling es thut und senkte seinen langen Schnabel in den Kelch der Blüthe. Der Brasilianer sagt daher: ›Beja flor – – der die Blume küsst!‹«[193] »Haben Sie ihn getödtet – –?!« fragte die Dame.
»Nein, ich habe ihn wieder freigelassen – –« sagte Hölderlin.
Die Dame lächelte fast seelig; sie dachte: »Er ist gut – –. Er muss auch Etwas verloren haben –.«
»Ah, Rio – –« sagte er, »wie sehne ich mich nach Dir!«
»Warum sind Sie zurückgekehrt – –?!« sagte die Dame sanft.
»Ich schrieb in einem Comptoir und draussen küssten Vögelchen die Blumen! Beja flor – – –!«
Der Neffe sagte: »Hier kann man arbeiten – – wer stört Uns?!«
Die Dame dachte an den Kolibri, der flimmerte und flirrte wie ein Nachtschmetterling und dem man das Leben geschenkt hatte, obzwar er schon im Netze war. Die Uhr sang Elf, Frapp murmelte träumend »arme St St St – – –«, die goldgrünen Inséparables schliefen eng aneinander gedrückt, Fripp sah die Dame an mit seinen Augen voll Liebe und die Goldfische standen unbeweglich unter einem Felsen von Tuff. Nur der, der Soolenbäder gebraucht hatte, schlief extra, unter einem grünen Blatt, gleichsam in freier Mutter Natur, denn er war ein Abgehärteter – – –.
»Kommen Sie bald wieder – – –!« sagte die Dame beim Abschied zu dem Brasilianer.
Am nächsten Tage lehrte sie den Staar: »Beja flor – – der die Blume küsst.«[194]
»Bessa florrr – –« sagte der Staar, »arme Stefanie, arme Steff, Steff, Steff – – florrr!«
Die Dame sass beim Ofen und fröstelte – – –.
Dann kam der Schwiegersohn und küsste sie.
Das hiess: »Du weisst schon, wen ich da mitküsse – – –!?«
So küsste er sie.
Beja flor![195]
Ausgewählte Ausgaben von
Wie ich es sehe
|
Buchempfehlung
Im Dreißigjährigen Krieg bejubeln die deutschen Protestanten den Schwedenkönig Gustav Adolf. Leubelfing schwärmt geradezu für ihn und schafft es endlich, als Page in seine persönlichen Dienste zu treten. Was niemand ahnt: sie ist ein Mädchen.
42 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.
468 Seiten, 19.80 Euro