Die Zuckerfabrik

[49] Ein ungeheurer Hof. An den Mauerpforten sassen die ärarischen Zuckerbeamten und rauchten ärarischen Tabak aus kurzen Pfeifen.

Es roch nach Oel-Schmiere und verwesendem Rüben-Brei.

Hie und da kam ein Duft von nasser Wäsche, von Suppe, von weissen Akazien.

Draussen lag die Ebene und sonnte sich.

Hellblaue wunderbare Flachsfelder, hellgrüne modefarbige Kukuruzfelder, braungrüne Kartoffelfelder.

Ueberhaupt Felder, Felder, Felder – – –.

Lange Reihen von weissen Akazienbäumen zu beiden Seiten breiter Feldstrassen.

Frische Winde strichen über die ungeheure Ebene und in der Ferne lag ein Wäldchen von Tannenbäumen – – –.

Irgendwo sang ein Vogel: »trrrr – – trrrr – – trrrr – –«

Das Fräulein »Schwarzkirscherl« ging langsam zwischen den Akazien auf der breiten Feldstrasse.

Sie verstand Alles.[49]

Die Natur, die weite blühende Ebene sprachen zu ihr und sie verstand Alles – – –.

Nachmittags sass sie träge im Gärtchen, vor dem kleinen weissen Beamtenhause. Es war ein Gemüsegärtchen. Lauter ganz kleine Felder mit Suppenkräutern. In der Ferne lag ein Wäldchen von Tannenbäumen.

Der Herr Fabriksdirektor stand bei ihr.

Sie verstand Alles – – –.

Er sprach über die Rübe, die Wohngebäude, das kleine Leben – –.

Er war wie ein Aristokrat. Er stand über den Sachen, ohne Leidenschaft. Er führte Conversation wie ein feiner Schauspieler – – –.

Was war er denn?!

Ein gewissenhafter Beamter, ein Streber, ein Resignirter, ein Verbannter –?!

Jedesfalls hatte er feine Manieren, so als Gegensatz – – –.

Wahrscheinlich dachte er: »Dieses gottverfluchte Nest« und »Ich bin des Zucker-Königs Kanzler« und »Oh blonde Jozsika, Verwaltersgattin – –!«

Die Suppengemüse standen aus der Erde heraus wie »Julienne naturelle«. Sie wirkten gleichsam belebend auf die Geschmacksnerven. Man empfand sie bereits als stundenlang gesotten, gleichsam trocken gesotten in der lieben Nachmittagssonne – – –,

Der Fabriksdirektor und das Fräulein sassen im Schatten der weissen Mauer.

Die Akazien sandten schwere dicke Parfums.[50]

Von der Ebene kamen frische Winde, angefüllt mit Erdgeruch und süssem Kukuruzduft – – –.

Der Fabriksdirektor sass neben ihr und sprach wie ein feiner Schauspieler.

Sie verstand Alles – – –.

»Du bist der Feind – – –«, fühlte sie, »der Feind alles dessen, was in dieser Einsamkeit in Frieden blüht, der Feind dieses grossen stinkenden Hofes, der Feind deines Herren, der Feind deines Berufes, der Feind deiner Frau, der Feind deiner Leute, der Feind dieser grossen Ebene mit ihren wunderbaren blauen Flachsfeldern und den endlosen Reihen weisser Bäume – –, der Feind von Allem, was Du nicht begreifst, der Feind deiner selbst – – –.«

»Was ist das für ein Vogel, der heute den ganzen Vormittag gesungen hat – – –?!« sagte sie.

»Ich habe keinen gehört – – –.«

»Er hat immer ›trrrr – – trrrr – – trrrr – –‹ gesungen.«

»Die Wiesenschnarre – –« sagte er.

Sie wurde ganz roth – –.

»Es war wie Gesang – –«, sagte sie, »das Leitmotiv der Ebene.«

Er dachte: »Diese verbildeten grossstädtischen Geschöpfe – –.«

Er war wirklich der Feind – – –.

Sie verstand Alles – –.


Abends war Kränzchen.

Ein grosser kahler weisser Saal. Zigeuner spielten.[51]

Die Violinen sangen sich ganz aus dem Leben heraus. Sie waren wie wahnsinnige Dichter, wie trübsinnige edle Künstler – – –.

Das Cymbalon war das »verschwommene Gemüth«, das leise in dem Leben summt und wie im Traume aufseufzt und verstummt – – –.

Das Cello aber sagte laut und schwer: »Man kann nicht leben –!«

Nur die Klarinetten gaben sich dem Rausch des Daseins hin und kreischten freudig wie die Rekruten, die auf drei Jahre genommen sind und – – – »was bleibt uns übrig?!« – – –

Das Fräulein »Schwarzkirscherl« stand da, in einem feinen weissen Kleide und machte grosse Augen und lauschte – – –.

Sie verstand Alles – – –.

Die jungen Beamten der Fabrik tanzten wie der »entfesselte Orkan«.

Hier öffnete das junge unverbrauchte Leben eine seiner Ventilklappen und liess Begeisterung und Jugendlust ausströmen – – –.

Es zischte fasst – – –.

Die Damen aber waren schon ruinirt, zerpatscht vom Leben und machten Alles mit Mühe mit und ohne Gracie – – –.

Nur Einige hatten mysteriöse Allüren. Wie Menschen, die im Rausch vergessen wollen. Dann erwachen sie, legen das zerknitterte Kleid zusammen und zanken mit irgend Jemand – – –.

In diesem Zuckerfabrikshof lag dumpfe Resignation[52] neben strenger englischer Prüderie und gleich daneben »Sodom und Gomorrha«.

Aber die Zigeuner entflammten eine Welt, in der Friedrich Schiller und L. von Beethoven wie Forellen im Gebirgsbach athmen würden –.

Das Fräulein mit ihren unergründlichen schwarzen Augen stand da und lauschte – – –.

Sie verstand Alles – – –.

Der Fabriksdirektor kam und bat um einen Tanz.

Die Klarinetten kreischten wie die Rekruten, die auf drei Jahre genommen sind. Was lassen sie zurück – –?! Aber sie singen ausserordentlich lustige Lieder, ausgelassene, furchtbare, mit einer Stimme, die nicht ist wie das Tönen der Natur –.

Der Fabriksdirektor drückte das junge Mädchen sanft an sich – –.

Er fühlte diesen süssen warmen Leib – – –.

Sie tanzten ganz langsam – –.

Es war wie eine Erlösung für Ihn – –.

»Er ist mein Feind – –« fühlte sie.

Er drückte sie sanft an sich – – –.

Sie hörte die Klarinetten kreischen, wie die Rekruten, die – – –.

Das Cymbalon seufzte auf und verstummte – – Sie verstand Alles – – –. Das Leben kam über sie – – –.

Am nächsten Morgen spazierten sie auf dem frischen sonnigen Feldwege zwischen hellblauen Flachsfeldern und hellgrünen Kukuruzfeldern – –.[53]

Sie sagte: »Ah, hören Sie – –?! Die Wiesenschnarre – – –.«

»Es ist der Vogel der Ebene – – –« sagte er, »das Leitmotiv dieser Symphonie ›Flachland‹ – –«.

»Schauspieler – – –«, dachte sie und verstand gar nichts mehr – – –.

Vor Ihnen zogen die Zigeuner dahin mit ihren Instrumentenkästen – –

Wie in schwarzen staubigen Särgen lag die Musik –.

Die Zigeuner stritten, gestikulirten – –:

»Dieses gottverfluchte Nest«; »der Königs-Kanzler hat Uns betrogen – –.«

Eine ungeheure Helle lag über der Ebene.

Frische Winde schwammen eilig über die Felder –.

In der Ferne lag ein Wäldchen von Tannenbäumen wie eine geheimnissvolle dunkle Insel – – –.

»Ich spüre das Cymbalon – –« sagte das Fräulein.

Er aber hörte die Klarinetten, den kurzen scharfen Ton der Daseins-Räusche – – – – –.

Die Zigeuner zogen in die Ebene hinaus und stritten – – –.

»Basta – – –!«, sagte der Kapellmeister und nahm den schwarzen lackirten Hut ab und liess seine schwarzen Locken im Morgenwinde spielen – – –.[54]

Quelle:
Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin 8–91914, S. 49-55.
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