Vor dem Konkurse

[184] Die Mutter sitzt mit ihren beiden Töchtern im Concert-Garten.

Es ist kühl. Manchesmal rauschen die Platanen, brausen gleichsam auf.

Um den Springbrunnen stehen lila Schwertlilien, wiegen sich wie Pendel.

Die Töchter haben kurze Frühlings-Mäntel an aus brauner Moiré-Seide, braune Strohhüte mit weissen Schierlings-Dolden, des fleurs françaises.

»Hast Du der Näherin geschrieben, dem Claviermeister – – –?!« sagt die Mutter.

»Ich habe vergessen – – –« sagt Marie.

»Vergessen – – –?!«

»Ja, ich habe vergessen – –. Überall schleppst Du Alles mit, Mama! Wir sind in einem Garten. Ich lasse Alles zu Hause – – – – – –.«

»Du – – –.«

»Ja, ich. Sich loslösen können, ist künstlerisch –!«

Die jüngere Schwester legt ihre Hand sanft auf die der »Künstler-Natur«. Diese sagt: »Man könnte ein Gedicht machen: ›Die Schwertlilien im Parke‹.«

Der Vater kommt mit dem Sohne.

»Ohne Überrock – –?!« sagt die Dame; »Du bist leichtsinnig. Bist Du denn ein junger Mensch, Papa?!«[184]

»Ich wusste nicht, dass es kühl ist – –« sagt er.

Otto, zu den jungen Mädchen: »Wie schön Ihr seid – – –!«

Marie: »Was ist es für ein Stück, das die Kapelle jetzt spielt?!«

Otto: »Du kennst es nicht?! Schäme Dich! Manon ist es.«

Sie: »Eine oberflächliche Musik – – –.«

Pause.

Otto: »Dieser Concert-Garten war so vor hundert Jahren. Ewig haben sie Potpourri's gespielt. Maria Theresia, Kaiser Franz – – –. Man wird noch spielen Potpourri's aus Martha, aus Lohengrin, es werden Leute dasitzen, die fliegen können, oder zehntausend Ziegelschlager – – –.«

»Ich habe das nicht sehr gern – – –« sagt Marie.

Die Andere erhebt sich, setzt sich neben den Vater – – –.

»Du frierst – – –« sagt die Mutter zu diesem; »so leichtsinnig zu sein! Stelle wenigstens deine Füsse auf das Tischbrett.«

Die jüngere Tochter fühlt: »Er bebt, er friert nicht –.«

Die Andere sagt: »Wie kann man für Massenet schwärmen?! Er ist süsslich wie Bouguereau. Otto, warum sprichst Du nicht mit mir über Massenet?! Hältst Du mich für unwürdig?!«

»Lass ihn – – –« sagt die Mutter, »monsieur ist schlecht aufgelegt, siehst Du es nicht?!«[185]

Otto erbleicht.

Es ist kühl. Manchesmal rauschen die Platanen, brausen gleichsam auf.

Die lila Schwertlilien um den Springbrunnen wiegen sich wie Pendel. Marie fühlt: »Ihr Schwertlilien im Parke – – –!«

»Soupiren wir – – –« sagt die Mutter.

»Ich nehme Brathuhn mit Marillen-Compot« sagt Marie.

»Und Du?!« sagt die Mutter zur jüngeren Tochter.

»Ich weiss es nicht – – –.«

»Und Du, Papa?!«

»Ich nehme nichts – – –.«

Otto: »Papa muss essen. Er hat Mittags nichts gegessen. Und überhaupt – – – – –.«

»Ich nehme nichts – – –.«

»Natürlich, wenn man friert – –« sagt die Mutter.

Die jüngere Tochter fühlt: »Wenn man bebt –.«

»So gehen wir Alle nach Hause« sagt die Mutter, »und kaufen uns am Wege Schinken und Aspik; ich schicke den Diener zu Demel um Beignet's, dann kannst Du auch deine beiden Karten schreiben, Marie –.«

»Hören wir noch dieses Stück an – –« sagt Marie, »es ist Ouverture Tannhäuser.«

Der Kapellmeister ist ein blasser Mann von vierzig Jahren.

Marie denkt: »Möchtest Du in der Hof-Oper auf dem Drehsesselchen sitzen, bleicher Mann, und dem Arnold Rosé gebieten – – –?!«[186]

Die Ouverture beginnt.

Die weltentrückten Pilger kommen langsam durch den dunklen Tannenwald.

Die Violinen steigen in den Himmel, gleichsam in leuchtenden leidenschaftlichen Spiralen, höher, immer höher, wo das Ewige wohnt – – –.

Es ist kühl. Manchesmal rauschen die Platanen, brausen gleichsam auf. Die lila Schwertlilien wiegen sich wie Pendel.

Maria lauscht – – –. Die Violinen steigen in den Himmel, in leuchtenden leidenschaftlichen Spiralen – – – – –.

Die Andere hat ihre Hand auf die geliebte Hand des Vaters gelegt – – – – –.[187]

Quelle:
Peter Altenberg: Wie ich es sehe. Berlin 8–91914, S. 184-188.
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