Der kleine Tuk.

[216] Ja, das war der kleine Tuk; er hieß eigentlich nicht Tuk, aber zu der Zeit, als er noch nicht richtig sprechen konnte, da nannte er sich selbst Tuk; das soll Karl bedeuten, und es ist gut, wenn man das weiß; er sollte auf seine Schwester Marie achtgeben, die noch viel kleiner als er war, und dann sollte er auch seine Aufgabe lernen, aber beides wollte nicht auf einmal gehen. Der Knabe faß mit seiner kleinen Schwester auf dem Schoß und sang alle die Lieder, die er wußte und inzwischen schielten die Augen nach dem Geographiebuche, welches offen[217] vor ihm lag; er sollte bis morgen alle Städte von Seeland mit ihren Merkwürdigkeiten hersagen können.

Nun kam seine Mutter nach Hause und nahm die kleine Marie; Tuk lief ans Fenster und las, daß er sich fast die Augen ausgelesen hätte, denn es wurde schon dunkel, aber die Mutter hatte nicht die Mittel, Licht zu kaufen.

»Da geht die alte Waschfrau drüben aus der Gasse!« sagte die Mutter, indem sie aus dem Fenster blickte. »Sie kann sich kaum selbst schleppen und doch muß sie den Eimer vom Brunnen tragen; spring' hinaus, kleiner Tuk, sei ein guter Junge und hilf der alten Frau!«

Tuk sprang sogleich hin und half; da er aber wieder zurückkam, war es ganz finster geworden, und von Licht war keine Rede. Nun sollte er ins Bett, das war eine alte Schlafbank; in dieser lag er und dachte an seine Geographieaufgabe und an alles, was der Lehrer erzählt hatte. Es hätte freilich gelesen werden müssen, aber das konnte er nun doch nicht. Das Geographiebuch steckte er unter das Kopfkissen, denn er hatte gehört, daß das bedeutend helfe, um seine Aufgabe zu behalten; aber darauf kann man sich nicht verlassen.

Da lag er nun und dachte, und da war es auf einmal, als wenn ihn jemand auf Augen und Mund küßte; er schlief und schlief doch auch nicht, es war gerade, als ob die alte Waschfrau ihn mit ihren sanften Augen anblickte und zu ihm sagte: »Es würde eine große Schande sein, wenn Du Deine Aufgabe nicht gelernt hättest! Du hast mir geholfen, jetzt werde ich Dir helfen, und der liebe Gott wird es immer thun.«

Und mit einem Male kribbelte und krabbelte das Buch unter dem Kopf des kleinen Tuk.

»Kikeriki! putput!« das war eine Henne und die kam aus Kjöge. »Ich bin eins von den Hühnern aus Kjöge!« Und dann sagte sie, wie viele Einwohner dort seien, und sprach von der Schlacht, die dort geliefert worden sei, und die war gar nicht der Rede wert.[218]

»Kribbel, krabbel, bums!« da fiel einer; das war ein hölzerner Vogel, der jetzt ankam; es war der Papagei vom Vogelschießen in Prästo. Der sagte, daß dort eben soviel Einwohner seien, als er Nägel im Leibe habe; und er war recht stolz: »Thorwaldsen hat bei mir an der Ecke gewohnt. Bums! Ich liege herrlich!«

Aber der kleine Tuk lachte nicht, er war auf einmal zu Pferde. Im Galopp, im Galopp ging es. Ein prächtig gekleideter Ritter mit glänzendem Helm und wallendem Federbusch hatte ihn vor sich auf dem Pferde, und sie ritten durch den Wald nach der alten Stadt Vordingborg, und dieses war eine große lebhafte Stadt; hohe Türme prangten auf der Königsburg, und die Lichter leuchteten weit durch die Fenster hinaus; drinnen war Gesang und Tanz! König Waldemar und geputzte junge Hoffräulein tanzten mit einander. – Es wurde Morgen und sowie die Sonne erschien, sank die Stadt und das Schloß des Königs zusammen, ein Turm nach dem andern, zuletzt stand nur noch ein einziger auf dem Hügel, wo das Schloß gestanden hatte, und die Stadt war klein und arm, und die Schulknaben kamen mit ihren Büchern unter dem Arm und sagten: »Zweitausend Einwohner,« aber das war nicht wahr, soviel waren da nicht.

Und der kleine Tuk lag in seinem Bette, es war ihm, als ob er träumte und doch wieder nicht träumte; aber es war jemand dicht neben ihm.

»Kleiner Tuk, kleiner Tuk!« sprach es; das war ein Seemann, eine ganz kleine Figur, als wenn es ein Kadett wäre. »Ich soll vielmals grüßen von Corsör. Das ist eine Stadt, welche im Aufblühen ist; es ist eine lebhafte Stadt, sie hat Dampfschiffe und Postwagen; früher wurde sie immer häßlich genannt, aber das war eine veraltete Ansicht.« – »Ich liege am Meer,« sagte Corsör; »ich besitze Landstraßen und Lufthaine, und ich habe einen Dichter geboren, der belustigend war, und das sind sie nicht alle. Ich habe ein Schiff zur Fahrt rings[219] um die Erde aussenden wollen, ich that es nicht, hätte es aber thun können, und dann dufte ich herrlich, dicht am Thore blühen die schönsten Rosen!«

Der kleine Tuk sah dieselben, es wurde ihm rot und grün vor den Augen, als aber Ruhe in das Farbenspiel kam, da war es ein großer, waldbewachsener Abhang dicht bei dem klaren Meerbusen; und hoch oben lag eine prächtige, alte Kirche mit zwei hohen, spitzen Kirchtürmen. Aus dem Abhange sprangen die Quellen in dicken Wasserstrahlen hervor, sodaß es plätscherte und dicht daneben stand ein alter König mit einer goldenen Krone auf seinem langen Haar, das war der König Hroar bei den Quellen, bei der Stadt Roeskilde (Roesquelle), wie man sie jetzt nennt. Und über den Abhang hin gingen alle Könige und Königinnen Dänemarks Hand in Hand, alle mit den goldenen Kronen auf dem Kopfe, in die alte Kirche, und die Orgel spielte und die Quellen rieselten. Der kleine Tuk sah alles, hörte alles. »Vergiß die Stände nicht!« sagte der König Hroar.

Auf einmal war alles wieder fort; ja, wo war es geblieben? Es war gerade, als ob man ein Blatt in einem Buche umschlägt. Und nun stand eine alte Frau da, es war eine Jäterin, sie kam von Sorö, wo Gras auf dem Markte wächst. Sie hatte ihre graue Leinwandschürze über den Kopf und den Rücken hinabhängen; diese war naß, es mußte geregnet haben. »Ja, geregnet hat es!« sagte sie und dann erzählte sie manches belustigende aus Holbergs Komödien und wußte von Waldemar und Absalon; aber auf einmal schrumpfte sie zusammen und wackelte mit dem Kopf; es war gerade, als ob sie springen wollte. »Koax!« sagte sie, »es ist naß, es ist Todenstille in Sorö!« Sie war auf einmal ein Frosch, »Koax!« und dann war sie wieder die alte Frau. »Man muß sich nach der Witterung kleiden!« sagte sie. »Es ist naß, es ist naß! Meine Stadt ist gerade wie eine Flasche; beim Pfropfen muß man hinein, und da muß man auch wieder hinaus! Ich habe früher Fische gehabt, und jetzt habe ich frische, rotwangige Knaben auf[220] dem Boden der Flasche; da lernen sie Weisheit: Griechisch! Griechisch! Koax!« Das klang gerade, als ob die Frösche quakten oder als ob man mit großen Stiefeln im Moorwasser geht. Es war immer derselbe Laut, so einförmig, so langweilig, so ermüdend, daß der kleine Tuk fest einschlief und das that ihm wohl.

Aber auch in diesem Schlaf kam ein Traum, oder was es sonst war; seine kleine Schwester Marie mit den blauen Augen und den gelben, gelockten Haaren war auf einmal ein erwachsenes schönes Mädchen, und ohne Flügel zu haben, konnte sie fliegen, und sie flogen über Seeland, über die grünen Wälder und die blauen Gewässer dahin.

»Hörst Du die Hühner krähen, kleiner Tuk? Kikeriki! Die Hühner fliegen aus der Stadt Kjöge auf! Du bekommst einen Hühnerhof, Du wirst weder Hunger noch Not leiden! Den Vogel wirst Du abschießen, wie man sagt, Du wirst ein reicher und glücklicher Mann werden! Dein Haus wird stolz prangen wie der Turm Waldemars, und reich wird es gebaut werden mit Statuen von Marmor, gleich denen von Prästo, Du verstehst mich wohl! Dein Name wird mit Ruhm weit durch die Welt fliegen, wie das Schiff, welches von Corsör hätte ausgehen sollen, und in der Stadt Roeskilde – ›gedenke der Stände!‹ sagte der König Hroar – da wirst Du gut und klug sprechen, kleiner Tuk, und wenn Du dann einst in Dein Grab kommst, dann sollst Du so ruhig schlummern –«.

»Als ob ich in Sorö läge!« sagte Tuk, und dann erwachte er; es war heller Morgen, er konnte sich nicht des mindesten von seinem Traum erinnern, aber das sollte er auch nicht, denn man darf nicht wissen, was geschehen wird.

Er sprang aus dem Bette und las in seinem Buch, und da wußte er seine Aufgabe sogleich. Die alte Waschfrau steckte den Kopf zur Thüre herein und sagte:[221]

»Schönen Dank für Deine Hülfe gestern, Du liebes Kind! Der liebe Gott lasse Deinen besten Traum in Erfüllung gehen!«

Der kleine Tuk wußte gar nicht, was er geträumt hatte, aber der liebe Gott wußte es.

Quelle:
Andersen, H[ans] C[hristian]: Sämmtliche Märchen. Leipzig 31[um 1900], S. 216-222.
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