Vierte Geschichte.

[291] Prinz und Prinzessin.


Gretchen mußte wieder ausruhen. Da hüpfte dort auf dem Schnee, der Stelle, wo sie saß, gerade gegenüber, eine große Krähe, die hatte lange gesessen, sie betrachtet und mit dem Kopfe gewackelt; nun sagte sie: »Kra; kra! – gut' Tag! gut' Tag!« Besser konnte sie es nicht herausbringen, aber sie meinte es gut mit dem kleinen Mädchen und fragte, wohin sie allein in die weite Welt hinausgehe. Das Wort »allein« verstand Gretchen sehr wohl und fühlte recht, wie viel darin lag, und dann erzählte sie der Krähe ihr ganzes Leben und Geschick, und fragte, ob sie Karl nicht gesehen habe.

Die Krähe nickte ganz bedächtig und sagte: »Das könnte sein!«

»Wie? Glaubst Du?« rief das kleine Mädchen, und hätte fast die Krähe tot gedrückt, so küßte sie diese.

»Vernünftig, vernünftig!« sagte die Krähe. »Ich glaube, ich weiß, – ich glaube, es kann der kleine Karl sein! aber nun hat er Dich sicher über der Prinzessin vergessen!«

»Wohnt er bei einer Prinzessin?« fragte Gretchen.

»Ja, höre!« sagte die Krähe. »Aber es fällt mir schwer, Deine Sprache zu reden. Verstehst Du die Krähensprache, dann will ich besser erzählen!«

»Nein, diese habe ich nicht gelernt!« sagte Gretchen, »aber die Großmutter konnte sie, und auch die P-Sprache konnte sie sprechen.1 Hätte ich es nur gelernt!«[291]

»Schadet gar nichts!« sagte die Krähe. »Ich werde erzählen, so gut ich kann, aber schlecht wird es immer!« Dann erzählte sie, was sie wußte.

»In diesem Königreich, in welchem wir jetzt sitzen, wohnt eine Prinzessin, die ist ganz außerordentlich klug, aber sie hat auch alle Zeitungen, die es in der Welt giebt, gelesen und wieder vergessen, so klug ist sie. Vor kurzem sitzt sie auf dem Throne und das ist doch nicht angenehm, sagt man, da fängt sie an ein Lied zu singen: ›Weshalb sollte ich mich nicht verheiraten?‹ ›Höre, da ist etwas daran,‹ sagte sie, und so wollte sie sich verheiraten, aber sie wollte einen Mann haben, der zu antworten verstand, wenn man mit ihm sprach, einen, der nicht nur stand und vornehm aussah, denn das ist zu langweilig. Nun ließ sie alle Hofdamen zusammentrommeln, und als diese hörten, was sie wollte, wurden sie sehr vergnügt. ›Das mag ich leiden!‹ sagten sie, ›daran dachte ich neulich auch!‹ – Du kannst glauben, daß jedes Wort, was ich sage, wahr ist!« sagte die Krähe. »Ich habe eine zahme Geliebte, die geht frei im Schlosse umher, und die hat mir alles erzählt!«

Die Geliebte war natürlicherweise auch eine Krähe. Denn eine Krähe sucht die andere, und das bleibt immer eine Krähe.

»Die Zeitungen kamen sogleich mit einem Rande von Herzen und der Prinzessin Namenszug heraus. Man konnte darin lesen, daß es jedem jungen Mann, der gut aussah, frei stehe, auf das Schloß zu kommen und mit der Prinzessin zu sprechen, und derjenige, welcher rede, daß man hören könne, er sei dort zu Hause, und der am besten spreche, den wolle die Prinzessin zum Mann nehmen! – Ja, ja!« sagte die Krähe, »Du kannst es mir glauben, es ist so gewiß wahr, als ich hier sitze. Die Leute strömten herzu, da war ein Gedränge und ein Laufen, aber es glückte nicht, weder den ersten noch den zweiten Tag. Sie konnten alle gut sprechen, wenn sie draußen auf der Straße waren, aber wenn sie in das Schloßthor traten und sahen die Wachen in Silber und die Treppen hinauf die Diener[292] in Gold, und die großen, erleuchteten Säle, dann wurden sie verwirrt; und standen sie vor dem Throne, wo die Prinzessin saß, dann wußten sie nichts zu sagen, als das letzte Wort, was sie gesprochen hatte, und sie kümmerte sich nicht darum, das noch einmal zu hören. Es war gerade, als ob die Leute dadrinnen Schnupftabak auf den Magen bekommen hätten und in den Schlaf gefallen wären, bis sie wieder auf die Straße kamen; dann konnten sie wieder sprechen. Da stand eine ganze Reihe vom Stadtthor an bis zum Schloß. Ich war selbst drinnen, um es zu sehen!« sagte die Krähe. »Sie wurden sowohl hungrig wie durstig! Aber auf dem Schloß erhielten sie nicht einmal ein Glas Wasser. Zwar hatten einige der Klügsten Butterbrot mitgenommen, aber sie teilten nicht mit ihrem Nachbar, sie dachten: ›Laß ihn nur hungrig aussehen, dann nimmt die Prinzessin ihn nicht!‹«

»Aber Karl, der kleine Karl?« fragte Gretchen. »Wann kam der? War er unter der Menge?«

»Warte, warte, nun sind wir gerade bei ihm! Es war am dritten Tag, da kam eine kleine Person, ohne Pferd oder Wagen, ganz fröhlich gerade auf das Schloß marschiert; seine Augen glänzten wie Deine, er hatte schöne, lange Haare, aber sonst ärmliche Kleider.«

»Das war Karl!« jubelte Gretchen. »O, dann habe ich ihn gefunden!« und dann klatschte sie in die Hände.

»Er hatte ein kleines Ränzel auf dem Rücken!« sagte die Krähe.

»Nein, das war sicher sein Schlitten,« sagte Gretchen, »denn mit dem Schlitten ging er fort!«

»Das kann wohl sein,« sagte die Krähe, »ich sah nicht so genau danach; aber das weiß ich von meiner zahmen Geliebten, daß, wie er in das Schloßthor kam und die Leibwache in Silber und die Treppe hinauf die Diener in Gold sah, er nicht im mindesten verlegen wurde, nickte und zu ihnen sagte: ›Das muß langweilig sein, auf der Treppe zu stehen, ich gehe[293] lieber hinein!‹ Da glänzten die Säle von Lichtern; Geheimräte und Staatsräte gingen auf bloßen Füßen und trugen Goldgefäße; man konnte wohl bedenklich werden; seine Stiefel knarrten gewaltig laut, aber ihm wurde doch nicht bange!«

»Das ist ganz gewiß Karl!« sagte Gretchen. »Ich weiß, er hatte neue Stiefel, ich habe sie in der Großmutter Stube knarren hören!«

»Ja, sie knarrten,« sagte die Krähe, »und fröhlich ging er gerade zur Prinzessin hinein, die auf einer großen Perle saß, welche so groß wie ein Spinnrad war. Alle Hofdamen mit ihren Jungfern und den Jungfern der Jungfern, und alle Ritter mit ihren Dienern und den Dienern der Diener, die wieder einen Burschen hielten, standen ringsherum aufgestellt; und je näher sie der Thür standen, desto stolzer sahen sie aus. Des Dieners Dieners Burschen, der immer in Pantoffeln geht, darf man kaum anzusehen wagen, so stolz steht er in der Thür.«

»Das muß greulich sein!« sagte das kleine Gretchen. »Und Karl hat doch die Prinzessin erhalten?«

»Wäre ich nicht Krähe gewesen, so hätte ich sie genommen, und das ungeachtet ich verlobt bin. Er soll ebenso gut gesprochen haben, wie ich spreche, wenn ich die Krähensprache rede, das habe ich von meiner zahmen Geliebten gehört. Er war fröhlich und niedlich; er war gar nicht gekommen zum Freien, sondern nur, um der Prinzessin Klugheit zu hören, und die fand er gut, und sie fand ihn wieder gut.«

»Ja, sicher, das war Karl!« sagte Gretchen. »Er war so klug, er konnte die Kopfrechnung mit Brüchen! – O, willst Du mich nicht auf dem Schlosse einführen?«

»Ja, das ist leicht gesagt!« sagte die Krähe. »Aber wie machen wir das? Ich werde darüber mit meiner zahmen Geliebten sprechen; sie kann uns wohl Rat erteilen; denn das muß ich Dir sagen, so ein kleines Mädchen, wie Du bist, bekommt nie Erlaubnis, hineinzukommen!«[294]

»Ja, die erhalte ich!« sagte Gretchen. »Wenn Karl hört, daß ich da bin, kommt er sogleich heraus und holt mich!«

»Erwarte mich dort am Gitter!« sagte die Krähe, wackelte mit dem Kopf und flog davon.

Erst als es spät Abend war, kehrte die Krähe zurück. »Rar! rar!« sagte sie. »Ich soll Dich vielmal von ihr grüßen, und hier ist ein kleines Brot für Dich, das nahm sie aus der Küche, da ist Brot genug und Du bist sicher hungrig! – Es ist nicht möglich, daß Du in das Schloß hineinkommst. Du hast ja bloße Füße. Die Wachen in Silber und die Diener in Gold würden es nicht erlauben. Aber weine nicht, Du sollst schon hinaufkommen. Meine Geliebte kennt eine kleine Hintertreppe, die zum Schlafgemach führt, und sie weiß, wo sie den Schlüssel erhalten kann.«

Sie gingen in den Garten hinein, in die große Allee, wo das eine Blatt nach dem andern abfiel, und als auf dem Schlosse die Lichter ausgelöscht wurden, das eine nach dem andern, führte die Krähe das kleine Gretchen zu einer Hinterthür, die angelehnt stand.

O, wie Gretchens Herz vor Angst und Sehnsucht pochte! Es war ihr, als ob sie etwas Böses thun wollte, und sie wollte ja doch nur wissen, ob der kleine Karl da sei. Ja, er mußte hier sein; sie gedachte ganz deutlich seiner klaren Augen, seines langen Haares; sie konnte ihn lächeln sehen, wie damals, als sie daheim unter den Rosen saßen. Er würde sicher froh sein, sie zu erblicken, zu hören, welchen langen Weg sie um seinetwillen zurückgelegt, zu wissen, wie betrübt sie alle daheim gewesen, als er nicht wiedergekommen. O, das war eine Furcht und eine Freude!

Nun waren sie auf der Treppe. Da brannte eine kleine Lampe auf einem Schranke, und mitten auf dem Fußboden stand die zahme Krähe und wendete den Kopf nach allen Seiten und betrachtete Gretchen, die sich verneigte, wie die Großmutter sie gelehrt hatte.[295]

»Mein Verlobter hat mir sehr viel Gutes von Ihnen gesagt, mein kleines Fräulein,« sagte die zahme Krähe, »Ihr Lebenslauf ist auch sehr rührend! – Wollen Sie die Lampe nehmen, dann werde ich vorangehen. Wir gehen hier den geraden Weg, denn da begegnen wir niemand!«

»Es ist mir, als käme gerade jemand hinter uns!« sagte Gretchen, und es sauste an ihr vorbei; es war wie Schatten an der Wand entlang, Pferde mit fliegenden Mähnen und dünnen Beinen, Jägerburschen, Herren und Damen zu Pferde.

»Das sind nur Träume!« sagte die Krähe, »die kommen und holen der hohen Herrschaft Gedanken zur Jagd ab. Das ist recht gut, dann können Sie sie besser im Bette betrachten. Aber ich hoffe, wenn Sie zu Ehren und Würden gelangen, daß Sie dann ein dankbares Herz zeigen werden.«

»Darüber bedarf es keiner Worte!« sagte die Krähe vom Wald.

Nun kamen sie in den ersten Saal, der war von rosenrotem Atlas mit künstlichen Blumen an den Wänden hinauf. Hier sausten die Träume schon an ihnen vorüber, aber sie fuhren so schnell, daß Gretchen nicht die hohen Herrschaften zu sehen bekam. Ein Saal war immer prächtiger als der andere, ja man konnte wohl betäubt werden, und nun waren sie im Schlafgemach. Die Decke hier glich einer großen Palme mit Blättern von Glas, kostbarem Glas, und mitten auf dem Fußboden hingen an einem dicken Stengel von Gold zwei Betten, von denen jedes wie eine Lilie aussah. Das eine Bett war weiß, in diesem lag die Prinzessin; das andere war rot und in diesem sollte Gretchen den kleinen Karl suchen. Sie bog eines der roten Blätter zur Seite, und da sah sie einen braunen Nacken. – O, das war Karl! – Sie rief ganz laut seinen Namen, hielt die Lampe gegen ihn hin – die Träume sausten zu Pferde wieder in die Stube herein – er erwachte, wendete das Haupt und – es war nicht der kleine Karl.

Der Prinz glich ihm nur im Nacken, aber jung und hüsch[296] war er. Und aus dem weißen Lilienblatt blinzelte die Prinzessin hervor, und fragte, was das sei. Da weinte das kleine Gretchen und erzählte ihre ganze Geschichte und alles, was die Krähen für sie gethan hatten.

»Du armes Kind!« sagten der Prinz und die Prinzessin, belobten die Krähen und sagten, daß sie gar nicht böse auf sie seien, aber sie sollten es doch nicht wieder thun. Übrigens sollten sie eine Belohnung erhalten.

»Wollt Ihr frei fliegen?« fragte die Prinzessin. »Oder wollt Ihr feste Anstellung als Hofkrähen haben mit allem, was da in der Küche abfällt?«

Beide Krähen verneigten sich und baten um feste Anstellung, denn sie gedachten des Alters und sagten, es sei schön, etwas für das Alter zu haben.

Der Prinz stand aus seinem Bette auf und ließ Gretchen darin schlafen, mehr konnte er wirklich nicht thun. Sie faltete ihre kleinen Hände und dachte: »Wie gut sind die Menschen[297] und Tiere!« und dann schloß sie ihre Augen und schlief sanft. Alle Träume kamen wieder hereingeflogen und da sahen sie wie Gottes Engel aus, und sie zogen einen kleinen Schlitten, auf welchem Karl saß und nickte. Aber das Ganze war nur Traum, und deshalb war es auch wieder fort, als sie erwachte.

Am nächsten Tage wurde sie vom Kopf bis zu Fuß in Seide und Samt gekleidet; es wurde ihr angeboten, auf dem Schloß zu bleiben und gute Tage zu genießen, aber sie bat nur um einen kleinen Wagen mit einem Pferd davor, und um ein Paar Schuhe, dann wollte sie wieder in die weite Welt hinausfahren und Karl suchen.

Sie erhielt sowohl Schuhe und Muff, sie wurde niedlich gekleidet, und als sie fort wollte, hielt vor der Thür eine neue Kutsche von reinem Gold; des Prinzen und der Prinzessin Wappen glänzte an derselben wie ein Stern. Kutscher, Diener und Vorreiter, denn da waren auch Vorreiter, saßen mit Goldkronen auf dem Kopfe. Der Prinz und die Prinzessin halfen ihr selbst in den Wagen und wünschten ihr alles Glück. Die Waldkrähe, welche nun verheiratet war, begleitete sie die ersten drei Meilen; sie saß ihr zur Seite, denn sie konnte nicht ertragen, rückwärts zu fahren. Die andere Krähe stand in der Thür und schlug mit den Flügeln, sie kam nicht mit, denn sie litt an Kopfschmerzen, seitdem sie feste Anstellung und zu viel zu essen erhalten hatte. Inwendig war die Kutsche mit Zuckerbrezeln gefüttert, und im Sitze waren Früchte und Pfeffernüsse.

»Lebe wohl! Lebe wohl!« riefen der Prinz und die Prinzessin, das kleine Gretchen weinte und die Krähe weinte auch. – So ging es die ersten Meilen, da sagte auch die Krähe Lebewohl, und das war der schwerste Abschied. Sie flog in einen Baum hinauf und schlug mit ihren schwarzen Flügeln, so lange sie den Wagen, welcher wie der klare Sonnenschein glänzte, erblicken konnte.

1

Ein Kauderwelsch der Kinder.

Quelle:
Andersen, H[ans] C[hristian]: Sämmtliche Märchen. Leipzig 31[um 1900], S. 291-298.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Märchen
Märchen und Geschichten
Der Tannenbaum. Ein Märchen
Mutter Holunder und andere Märchen
Hans Christian Andersen Märchen: Bilder von Nikolaus Heidelbach. Sonderausgabe
Hans Christian Andersen:Sämtliche Märchen

Buchempfehlung

Schnitzler, Arthur

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol / Anatols Größenwahn

Anatol, ein »Hypochonder der Liebe«, diskutiert mit seinem Freund Max die Probleme mit seinen jeweiligen Liebschaften. Ist sie treu? Ist es wahre Liebe? Wer trägt Schuld an dem Scheitern? Max rät ihm zu einem Experiment unter Hypnose. »Anatols Größenwahn« ist eine später angehängte Schlußszene.

88 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Hochromantik

Große Erzählungen der Hochromantik

Zwischen 1804 und 1815 ist Heidelberg das intellektuelle Zentrum einer Bewegung, die sich von dort aus in der Welt verbreitet. Individuelles Erleben von Idylle und Harmonie, die Innerlichkeit der Seele sind die zentralen Themen der Hochromantik als Gegenbewegung zur von der Antike inspirierten Klassik und der vernunftgetriebenen Aufklärung. Acht der ganz großen Erzählungen der Hochromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe zusammengestellt.

390 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon