[312] In Dänemark liegt ein altes Schloß, das heißt Kronburg, es liegt ganz dicht am Sund, wo die großen Schiffe jeden Tag zu Hunderten vorbeifahren, sowohl englische, als russische und deutsche, und sie begrüßen das alte Schloß mit Kanonen: »Bum!« und das alte Schloß antwortet mit Kanonen: »Bum!« Denn so sagen die Kanonen »Guten[313] Tag!« »Schönen Dank!« – Im Winter segeln da keine Schiffe, alsdann ist alles mit Eis bedeckt, bis hinunter zur schwedischen Küste, sodaß das Wasser wie eine große Landstraße aussieht. Da weht die dänische Flagge und die dänische und schwedische Bevölkerung sagt einander: »Guten Tag!« »Schönen Dank!«, aber nicht mit Kanonen, nein, mit freundlichem Handschlag, und der eine holt Weißbrot und Brezeln bei dem andern, denn fremde Kost schmeckt am besten. Aber das Herrlichste am Ganzen ist doch das alte Kronburg, und unter diesem ist es, wo Holger Danske in dem tiefen, finstern Keller sitzt, wo niemand hinkommt. Er ist in Eisen und Stahl gekleidet und stützt sein Haupt auf die starken Arme, sein langer Bart hängt über den Marmortisch hinaus, worin er fest gewachsen ist, er schläft und träumt, aber im Traum sieht er alles, was oben in Dänemark vorgeht. Jeden Weihnachtsabend kommt ein Engel Gottes und sagt ihm, daß das richtig ist, was er geträumt hat, und daß er ruhig wieder schlafen kann, denn Dänemark befindet sich noch in keiner wirklichen Gefahr. Gerät es aber dereinst in solche, ja, dann wird der alte Holger Danske sich erheben, sodaß der Tisch berstet, wenn er den Bart zurückzieht. Dann kommt er wieder hervor und schlägt so gewaltig darein, daß er in allen Ländern der Erde gehört wird.
Ein alter Großvater saß und erzählte alles dieses vom Holger Danske seinem kleinen Enkel, und der kleine Knabe wußte, daß das, was der Großvater sagte, wahr sei. Während der Alte saß und erzählte, schnitzte er an einem großen Holzbilde, welches Holger Danske darstellen und an dem Vorderteil eines Schiffes angebracht werden sollte; denn der alte Großvater war Bildschnitzer, und das ist ein Mann, der Figuren für die äußerste Spitze der Schiffe ausschneidet, je nachdem jedes Schiff benannt werden soll, und hier hatte er nun Holger Danske ausgeschnitzt, der schlank und stolz mit seinem langen Bart dastand und in der einen Hand das breite Schlachtschwert[314] hielt, während er sich mit der andern Hand auf das dänische Reichswappen stützte.
Der alte Großvater erzählte so viel von ausgezeichneten dänischen Männern und Frauen, daß es dem kleinen Enkel am Ende vorkam, als wisse er nun ebensoviel, wie Holger Danske wissen könne, der es ja doch nur träumte; und als der Kleine in sein Bett kam, dachte er so viel daran, daß er sein Kinn gegen die Bettdecke preßte und meinte, er habe einen langen Bart, der daran festgewachsen sei.
Aber der alte Großvater blieb bei seiner Arbeit sitzen und schnitzte an dem letzten Teil desselben, das war das dänische Wappen; als er fertig war, betrachtete er das Ganze und dachte an alles, was er gelesen und gehört, und was er diesen Abend dem kleinen Knaben erzählt hatte; und er nickte, trocknete seine Brille ab, setzte sie wieder auf und sagte: »Ja, während meiner Lebenszeit kehrt Holger Danske wohl nicht wieder, aber der Knabe dort im Bette kann ihn vielleicht zu sehen bekommen und mit dabei sein, wenn es einst wirklich gilt.« Und der alte Großvater nickte, und je mehr er seinen Holger Danske anblickte, desto deutlicher wurde es ihm, daß es ein gutes Bild sei, was er gemacht habe; es schien ihm Farbe zu bekommen, und daß der Harnisch wie Eisen und Stahl glänzte; die Herzen im dänischen Wappen wurden mehr und mehr rot, und die Löwen sprangen, mit der Goldkrone auf dem Kopf.
»Das ist doch das schönste Wappen, was man auf der Erde hat!« sagte der Alte. »Die Löwen sind die Stärke und die Herzen die Milde und Liebe!« Er betrachtete den ersten Löwen und gedachte des Königs Knud, der das große England an Dänemarks Thron fesselte, und er blickte den zweiten Löwen an, und er dachte an Waldemar, der Dänemark vereinigte und die wendischen Länder bezwang, er besah den dritten Löwen und dachte an Margarethe, die Dänemark, Schweden und Norwegen vereinigte. Indem er aber die roten Herzen[315] betrachtete, da leuchteten sie noch stärker als zuvor, sie wurden zu Flammen, die sich bewegten, und sein Geist folgte einer jeden derselben.
Die erste Flamme führte ihn in ein enges, dunkles Gefängnis hinein. Da saß eine Gefangene, ein schönes Weib, Christian des Vierten Tochter: Eleonore Ulfeld, und die Flamme setzte sich einer Rose gleich an ihren Busen und blühte mit ihrem Herzen in einander, sie, die edelste und beste aller dänischen Frauen.
»Ja, das ist ein Herz in Dänemarks Wappen!« sagte der alte Großvater.
Und sein Geist folgte der zweiten Flamme, die ihn auf das Meer hinausführte, wo die Kanonen donnerten, wo die Schiffe in Rauch gehüllt lagen; und die Flamme heftete sich als Ordensband auf Hvitfeldt's Brust, als er zur Errettung der Flotte sich und sein Schiff in die Luft sprengte.
Die dritte Flamme führte ihn nach Grönlands erbärmlichen Hütten, wo der Prediger Hans Egede mit Liebe in Wort und That stand, die Flamme war ein Stern auf seiner Brust, ein Herz zum dänischen Wappen.
Und des alten Großvaters Geist ging der schwebenden Flamme voran, denn sein Geist wußte, wohin die Flamme wollte. In der ärmlichen Stube der Bäuerin stand Friedrich der Sechste und schrieb seinen Namen mit Kreide an den Balken. Die Flamme bebte auf seiner Brust, bebte in seinem Herzen; in der Stube des Bauers wurde sein Herz ein Herz im dänischen Wappen. Und der alte Großvater trocknete seine Augen, denn er hatte König Friedrich mit den silberweißen Haaren und den ehrlichen, blauen Augen gekannt und für ihn gelebt, und er faltete seine Hände und blickte still vor sich hin. Da trat des alten Großvaters Schwiegertochter herein und sagte, daß es schon spät sei, nun solle er ruhen, denn der Abendtisch sei gedeckt.[316]
»Aber schön ist es, was Du gemacht hast, Großvater!« sagte sie. »Holger Danske und unser ganzes Wappen! – Es ist mir gerade, als hätte ich das Gesicht schon früher gesehen!«
»Nein, das hast Du wohl nicht gesehen!« sagte der alte Großvater, »aber ich habe es gesehen, und ich habe gestrebt, es ins Holz zu schneiden, so wie ich es in der Erinnerung erhalten habe. Damals war es, als die Engländer auf der Rhede lagen, am zweiten April, als wir zeigten, daß wir alte Dänen waren! Auf ›Dänemark‹, wo ich in Steen Bille's Geschwader stand, hatte ich einen Mann zur Seite; es war, als fürchteten sich die Kugeln vor ihm! Lustig sang er alte Lieder und schoß und kämpfte, als wäre er mehr als ein Mensch. Ich erinnere mich seines Antlitzes noch; aber woher er kam, wohin er ging, weiß ich nicht, weiß niemand. Ich habe oft gedacht, das könnte der alte Holger Danske wohl selbst gewesen sein, der von Kronburg heruntergeschwommen war und uns in der Gefahr half. Das war nun mein Gedanke und dort steht sein Bild.«
Dasselbe warf einen großen Schatten gegen die Wand hinauf, selbst über einen Teil der Decke, es sah aus, als wäre es der wirkliche Holger Danske selbst, der dahinter stände, denn der Schatten bewegte sich, aber es konnte auch daher rühren, daß die Flamme des Lichtes nicht gleichmäßig brannte. Und die Schwiegertochter küßte den alten Großvater und führte ihn nach dem großen Lehnstuhl vor dem Tisch, und sie und ihr Mann, der ja des alten Großvaters Sohn und Vater des kleinen Knaben war, der im Bett lag, saßen und speisten ihr Abendbrot. Der alte Großvater sprach von den dänischen Löwen und den dänischen Herzen, von der Stärke und der Milde, und ganz deutlich erklärte er, daß es noch eine Stärke außer der gebe, welche im Schwert liege, und er zeigte nach dem Schrank, wo alte Bücher lagen, wo Holberg's sämtliche Komödien lagen, die so oft gelesen worden waren, denn sie[317] waren so ergötzlich, daß man meinte, alle Personen vergangener Tage darin zu erkennen.
»Sieh, der hat auch zu schlagen verstanden!« sagte der alte Großvater. »Er hat das Unverständige und Eckige des Volkes, solange er konnte, gegeißelt!« und der Großvater nickte zum Spiegel hin, wo der Kalender mit dem »runden Turm«1 darauf stand und sagte: »Tycho Brahe war auch einer, der das Schwert gebrauchte, nicht um in Fleisch und Bein zu hauen, sondern um einen deutlicheren Weg zwischen alle Sterne des Himmels hinauf zu hauen! – Und dann er, dessen Vater meinem Stande angehörte, des alten Bildschnitzers Sohn, er, den wir selbst gesehen haben mit dem weißen Haar und den breiten Schultern, er, der in allen Ländern der Erde genannt wird! Ja, er konnte hauen, ich kann nur schnitzen! Ja, Holger Danske kann in vielen Gestalten kommen, sodaß man in allen Ländern von Dänemarks Stärke hört. Wollen wir nun Bertel's2 Gesundheit trinken?«
Aber der kleine Knabe im Bette sah deutlich das alte Kronburg mit dem Öresund, den wirklichen Holger Danske, der tief unten mit dem Bart im Marmortisch festgewachsen saß und von allem, was hier oben geschieht, träumte. Holger Danske träumte auch von der kleinen, ärmlichen Stube, wo der Bildschnitzer saß, er hörte alles, was da gesprochen wurde, und nickte im Traum und sagte:
»Ja, erinnert Euch meiner nur, Ihr dänischen Leute, behaltet mich im Andenken! Ich komme in der Stunde der Not!« –
Draußen vor der Kronburg schien der klare Tag und der Wind trug die Töne des Jägerhorns herüber vom Nachbarland; die Schiffe segelten vorbei und grüßten: »Bum! bum!« und von Kronburg antwortete es: »Bum! Bum!« Aber Holger Danske[318] erwachte nicht, so stark sie auch schossen, denn es war ja nur: »Guten Tag!« – »Schönen Dank!« Da muß anders geschossen werden, bevor er erwachen wird; aber er erwacht einmal wohl, denn es ist Kern in Holger Danske.
Ausgewählte Ausgaben von
Märchen
|
Buchempfehlung
Der 1890 erschienene Roman erzählt die Geschichte der Maria Wolfsberg, deren Vater sie nötigt, einen anderen Mann als den, den sie liebt, zu heiraten. Liebe, Schuld und Wahrheit in Wien gegen Ende des 19. Jahrhunderts.
140 Seiten, 7.80 Euro
Buchempfehlung
Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.
424 Seiten, 19.80 Euro