Sie bittet um Keuschheit

[290] 1

Du keusche Seele, die du mich

Anreizest keusch zu lieben dich,

Wann wird denn deine keusche Brunst

Verzehret haben allen Dunst?


2

Ich wollte, daß mein Herz und Sinn

So keusch wie deine möchten blühn.

Ich wollte, daß mein Fleisch und Blut

Wie deines wär, o keusches Gut.


3

Ich weiß, daß du, o keuscher Gast,

Dein Lusthaus in der Keuschheit hast.

Ich weiß, daß dir mit keuschem Herzen

Beliebt zu spielen und zu scherzen.


4

Du bist der Keuschen Bräutigam,

Der Keuschheit Ursprung, Wurzel, Stamm.

Du gibst und säest keuschen Rat,

Wer dir nur folgt auf frischem Pfad.
[290]

5

So säe denn auch keusche Lust

In mein Gemüt und meine Brust.

Vertreib aus meinem Fleisch und Blut

Alls, was zum Fleisch anreizen tut.


6

Zeuch mich mit deiner Keuschheit an,

Verhüll mich mit der Keuschheit Fahn,

Daß ich, du Keuscher, frisch und frei

Dein keuscher Tempel ewig sei.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 290-291.
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