Sie begehrt in die Brust Christi

[313] 1

Gegrüßet seist du, süße Brust,

Die mir zum Trost und ewger Lust

So mildiglich geflossen.

Du Balsamritz, du Rosentür,

Du reicher Mund, durch den sich mir

Mein Heilstrom ausgegossen.

Ach, wasch doch ab und schweif geschwind

Von meiner Brust weg alle Sünd.
[313]

2

Ich sehne mich in dich hinein,

In dich, du hochgewünschter Schrein,

Sehn ich mich einzuschließen.

Du hast den Schatz, das Herz, in dir,

Das meine Seele für und für

An sich will ziehn und küssen.

Ach, laß mich doch zu meinem Schatz,

Du freudenreicher Herzensplatz.


3

Ich suche Ruh für meine Seel,

Sie will in dich, du stille Höhl,

Du Ruhestätt der Müden.

Ich bin verjagt und auf der Flucht

Und werde von dem Feind gesucht,

Ach, bring mich doch in Frieden!

Ach, laß mich ein zur rechten Zeit,

Du meine Burg und Sicherheit!


4

Ich nahe mich mit keuscher Brunst

Zu dir und suche deine Gunst,

Du goldne Lebenspforte.

Mein Leben hänget bloß daran,

Daß ich mir Atem schöpfen kann

In dir und deinem Orte.

Ach, zeuch mich doch in dich hinein,

Daß ich nicht darf ohn Atem sein.


5

Du hast mich ja schon längst getröst,

Da du am Kreuz dich mir entblößt

Und mütterlich gezeiget.

Da du dein Wasser und dein Blut,[314]

Die rosenfarbne Gnadenflut,

Dem harten Speer gezweiget.

Vollziehs, doch nun zu deiner Lust,

O Brust, o süße Jesus-Brust.


6

Schau, ich setz an meins Geistes Mund

Und saug an deiner offnen Wund,

Als einer Rosenblume.

Ich zieh in mich deins Herzens Saft,

Den edelen Geruch und Kraft

Und stärk mich dir zum Ruhme.

O Jesus, meiner Seelen Lust,

Vergönne mir doch deine Brust!

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 313-315.
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