Sie findet ihre Liebe am Kreuze

[251] 1

Ach, was hast du getan, ach, was hast du verschuldt,

Du Brunn der Freundlichkeit, du Ursprung aller Huld,

Daß du gekreuzigt bist!


2

Du unbeflecktes Kind, du reiner Jungfraunsohn,

Du sanftmutvolles Lamm, du weißer Keuschheit Thron,

Ach, was hast du getan!


3

Du himmelische Lieb, du kleiner großer Gott,

Ach, warum hängst du da! Ach, warum bist du tot!

Ach, warum ists geschehn!


4

Ists, daß du mir mein Herz mit deinem Pfeil verwundt,

So hast du wohl getan; denn schau, ich bin gesund,

Ich bin gesund davon!
[251]

5

Was leidest du denn dies? Weil du mir nichts getan?

Weil ich dich, o mein Kind, auch nie geklaget an

Und stets gepriesen hab.


6

Ach ja, ach du vergießt dein rosenfarbnes Blut,

Gleich wie ein Pelikan für seine Küchlein tut,

Daß ichs genießen soll!


7

Ists dies, du süßer Gott? Ists dies, mein Pelikan?

So fülle doch mein Herz und Seel damit ganz an

Und wandle mich in dich.


8

Denn schau, ich wünsche mir mit großer Innigkeit,

Dein Ebenbild zu sein und so zur Dankbarkeit

Für dich gekreuzigt stehn.


9

Drum werd ich dich, mein Kind, anrufen für und für

Und warten mit Geduld bei deiner Gnadentür,

Bis ich gekreuzigt bin.

Quelle:
Angelus Silesius: Sämtliche poetische Werke in drei Bänden. Band 2, München 1952, S. 251-252.
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