Sechste Rune.

[67] Wäinämöinen alt und wahrhaft

Rüstete sich aufzubrechen

Nach der grausig kalten Gegend,

Nach dem nimmerhellen Nordland.


Nahm sein Roß, das strohhalmleichte,

Nahm das erbsenrankengleiche,

Legte an den Zaun dem goldnen,

Tat die Halfter an dem schmucken,

Setzte ihm sich auf den Rücken,

Sprengte rittlings drauf von dannen,

Ritt gemächlich seines Weges

Und durchmaß im Trab die Strecke

Mit dem Roß, dem strohhalmleichten,

Mit dem erbsenrankengleichen.


Trabte durch Wäinöläs Fluren,

Durch die Flächen Kalewalas,

Immer näher rückt das Ziel ihm,

Weiter schwindet ihm die Heimat,

Sprengte längs der Meeresküste,

An der weiten Wasserfläche,

Trocken blieb der Huf des Rosses,

Unbefeuchtet seine Füße.


Doch der junge Joukahainen,

Dieser magre Lappenjüngling,[68]

Hegte Groll seit langer Zeit her,

War seit vielen Tagen neidisch

Auf den alten Wäinämöinen,

Auf den ew'gen Zaubersprecher.


Schafft sich einen Feuerbogen,

Bildet wohl die edle Wölbung,

Fertigt sie aus feinem Eisen,

Gießt das Rückenstück aus Kupfer,

Legt es aus mit gutem Golde,

Spart auch nicht an Silberzierat.


Woher nimmt er wohl die Sehne,

Woraus mag den Strang er machen?

Aus des Hiisi-Elens Sehnen,

Aus des Lempo-Flachses Fäden.


Fertig war des Bogens Fügung,

Ganz vollendet war die Armbrust,

Schön von Anblick war der Bogen,

Kostbar war die gute Armbrust;

Auf dem Rücken stand ein Rößlein,

Längs des Schaftes lief ein Füllen,

Auf dem Bug schlief eine Jungfrau,

Und ein Häslein an der Kerbe.


Schnitzt' sich dann ein Häuflein Pfeile,

Dreifach waren sie befiedert,

Drechselte den Schaft aus Eichen,

Macht' die Spitz' aus harz'gem Holze;

War er mit dem Schnitzen fertig,

So befiedert' er die Pfeile

Mit der Schwalbe schmalen Federn,

Mit des Sperlings Schwanzgefieder.


Danach schärfte er die Pfeile,

Härtete die Bolzenspitzen[69]

In dem schwarzen Saft der Schlange,

In dem Blute gift'ger Nattern.


Fertig hatte er die Pfeile,

Wohl bespannet seinen Bogen,

Wartete auf Wäinämöinen,

Daß den Wogenfreund er fasse,

Spähte morgens, spähte abends,

Spähte auch zur Mittagstunde.


Harrte lang auf Wäinämöinen,

Harrte lange, ward nicht müde,

Lauernd saß er an dem Fenster,

Wachte an des Zaunes Ecke,

Horchte an des Weges Ende,

Spähte an dem Ackersaume;

Auf dem Rücken hing der Köcher,

In dem Arm der gute Bogen.


Spähte dann noch weiter draußen,

Drüben an dem andern Hause,

An der Feuerspitze Ende,

An der Bucht der schmalen Zunge,

An dem Gischt des Wasserfalles,

An des heil'gen Stromes Strudel.


So an einem Tage endlich

Warf er um die Morgenstunde

Gegen Nordwest seine Blicke,

Wandte seinen Kopf zur Sonne,

Sah ein Dunkles auf dem Meere,

Auf den Fluten etwas Blaues:

Steigt Gewölk wohl auf im Osten,

Oder ist's die Morgendämmerung?


Nicht war es Gewölk im Osten,

Keineswegs die Morgendämmrung,[70]

Wäinämöinen war's der alte,

Dieser ew'ge Zaubersprecher,

Zog dort seinen Weg zum Nordland,

Ritt drauf los zum Düsterlande,

Auf dem Roß, dem strohhalmleichten,

Auf dem erbsenrankengleichen.


Hastig faßte Joukahainen,

Dieser magre Lappenjüngling,

Seinen flammenschnellen Bogen,

Wendete den schöngeformten

Nach dem Haupte Wäinämöinens,

Um den Wogenfreund zu töten.


Doch da fragte ihn die Mutter,

Forscht' ihn aus die greise Alte:

Wohin wendest du den Bogen,

Den mit Eisen wohlbeschlagnen?


Joukahainen gab zur Antwort,

Redet Worte solcher Weise:

Dahin wende ich den Bogen,

Den mit Eisen wohlbeschlagnen:

Nach dem Haupte Wäinämöinens,

Um den Wogenfreund zu töten,

Wäinämöinen will ich treffen,

Ihn, den ew'gen Zaubersprecher,

Durch das Herz und durch die Leber,

Durch das Fleisch des Schulterblattes.


Sie verwehrte ihm zu schießen,

Nicht erlaubte es die Mutter:

Schieße nicht auf Wäinämöinen,

Töte nicht den Sohn Kalewas,

Wäinö ist von großem Stamme,

Ist ein Schwestersohn des Schwagers.[71]


Schießest du auf Wäinämöinen,

Tötest du den Sohn Kalewas,

Dann entfliehet alle Freude,

Schwindet der Gesang von hinnen;

Besser ist die Freud' auf Erden,

Schöner der Gesang hier oben,

Als in Unterweltsgefilden,

In des Totenreiches Höfen.


Doch der junge Joukahainen

Übersann nur kurze Zeit es,

Hielt zurück sich nur ein Weilchen;

Trieb die eine Hand zum Schießen,

Wollte es die andre hindern,

Auf die Sehne drückt der Finger.


Endlich sprach er diese Worte,

Ließ sich solcherweise hören:

Möge immerhin entfliehen

Alle Freude von der Erde,

Mögen alle Lieder schwinden,

Schießen werd' ich, unbekümmert.


Spannt dann seinen Feuerbogen,

Stützt die kupferreiche Waffe

Auf das linke seiner Knie,

Stemmt den rechten seiner Füße,

Zieht den Pfeil dann aus dem Köcher,

Holt hervor den federreichen,

Wählt den allergradsten Bolzen

Mit dem allerbesten Schafte,

Diesen setzt er auf den Bogen,

Fügt ihn an die Flachsessehne.


Richtet dann den Feuerbogen

An der rechten seiner Schultern,

Stellt sich hin, um loszuschießen[72]

Auf den alten Wäinämöinen,

Redet selber diese Worte:


Geh nun los, du Birkenspitze,

Strecke dich, du Fichtenrücken,

Gleite ab, du Flachsessehne;

Wenn die Hand zu niedrig zielet,

Mag der Pfeil sich höher richten,

Zielt die Hand zu sehr nach oben,

Mag der Pfeil nach unten gehen!


Rasch bewegte er den Drücker,

Schoß den ersten Pfeil behende,

Viel zu hoch enteilte dieser,

Über seinen Kopf zum Himmel,

Daß die Wolken schier zerbersten,

Daß die Lämmerwolken wirbeln.


Schoß dann weiter unbekümmert,

Schoß den zweiten seiner Pfeile,

Viel zu niedrig eilte dieser,

In des Mutterbodens Tiefe,

Der zur Unterwelt schier einsinkt,

Seine Kruste jäh zerspaltend.


Alsbald schoß er ab den dritten,

Grade ging der Pfeile dritter

In die Milz des blauen Elens,

Traf des alten Wäinämöinens

Roß mit strohhalmleichtem Körper,

Traf das erbsenrankengleiche

Durch das Fleisch am Kummetknochen,

Durch die linke seiner Schultern.


Wäinämöinen so der alte

Griff die Flut mit seinen Fingern,

Teilte mit der Hand die Wogen,[73]

Schlug mit seiner Faust die Brandung,

Von des blauen Elens Rücken,

Von dem Roß, dem leichten, stürzend.


Es entstand ein großer Sturmwind,

In dem Meere mächt'ge Wallung,

Trug den alten Wäinämöinen,

Schwemmt' ihn weiter fort vom Lande

Auf den weiten Wasserstrecken,

Auf der freien Meeresfläche.


Darauf prahlte Joukahainen

Selber laut auf diese Weise:

Wirst, o alter Wäinämöinen,

Nimmermehr mit wachen Augen,

Nimmermehr in deinem Leben,

Nie solang das Mondlicht leuchtet,

Durch Wäinöläs Fluren wandeln,

Durch die Flächen Kalewalas!


Schwimm dahin nun sechs der Jahre,

Sieben Sommer treib einher nun,

Rauschend fahr dahin acht Jahre

In den weiten Wasserstrecken,

In den schrankenlosen Fluten,

Wie die Tanne sechs der Jahre,

Wie die Fichte sieben Jahre,

Acht der Jahre wie ein Baumstumpf!


Ging dann wieder in die Stube,

Wo die Mutter also fragte:

Hast auf Wäinö du geschossen,

Hast du Kalews Sohn getroffen?


Gab der junge Joukahainen

Ihr zur Antwort diese Worte:

Hab' auf Wäinö wohl geschossen,[74]

Habe Kalews Sohn getroffen,

Daß er nun das Meer durchfege,

Er die Fluten munter kehre;

In des Meeres Wellenwirbel,

In des Wassers Wogentiefe

Fiel der Alte mit den Fingern,

Stürzt' er mit dem Handgelenke,

Krümmte sich auf eine Seite,

Blieb dann auf dem Rücken liegen,

Um so durch die Flut zu treiben,

Durch die Wellen hinzusteuern.


Doch die Mutter sprach die Worte:

Schlecht hast du getan, du Ärmster,

Daß auf Wäinö du geschossen,

Daß du Kalews Sohn getroffen,

Ihn, den Helden Suwantolas,

Ihn, die Zierde Kalewalas.

Quelle:
Kalewala. 2 Bände, Berlin [o.J.], Band 1, S. 67-75.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Spitteler, Carl

Conrad der Leutnant

Conrad der Leutnant

Seine naturalistische Darstellung eines Vater-Sohn Konfliktes leitet Spitteler 1898 mit einem Programm zum »Inneren Monolog« ein. Zwei Jahre später erscheint Schnitzlers »Leutnant Gustl" der als Schlüsseltext und Einführung des inneren Monologes in die deutsche Literatur gilt.

110 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon