Zweite Rune.

[11] Alsobald schwang Wäinämöinen

Beide Füße auf die Heide,

Auf das meerumspülte Eiland,

Auf die baumentblößte Fläche.


Weilte darauf manche Jahre,

Lebte immerwährend weiter

Auf dem Eiland ohne Worte,

Auf der baumentblößten Fläche.


Dachte nach und überlegte,

Hegt' es lang in seinem Haupte:

Wer das Land ihm wohl besäen,

Wer den Samen streuen sollte?


Pellerwoinen, Sohn der Fluren,

Sampsa ist's, der Kleingeratne,

Der das Land ihm gut besäen,

Der den Samen streuen konnte.


Er besät das Land gar fleißig,

Wie das Land, so auch die Sümpfe,

Wie der Haine lockern Boden,

So die festen stein'gen Flächen.


Fichten sät er auf die Berge,

Tannen sät er auf die Hügel,

Heidekraut gibt er der Heide,

Zarte Schößlinge den Tälern.[12]


Birken pflanzt er in die Brüche,

Erlen in die lockre Erde,

Feuchtes Land bekommt der Faulbaum,

Weichen Boden auch die Weide,

Heil'gen Ort die Eberesche,

Wasserland die Wasserweide,

Schlechten Boden der Wacholder,

Und die Eiche Stromesufer.


Höher wuchsen schon die Bäume,

Schon erstanden junge Sprossen,

Tannen mit den Blütenwipfeln,

In die Breite wuchsen Föhren,

Birken stiegen in den Brüchen,

Erlen in der lockern Erde,

In dem feuchten Land der Faulbaum,

Schlechtgebettet der Wacholder,

Schöne Beeren am Wacholder,

Gute Frucht am Faulbeerbaume.


Wäinämöinen alt und wahrhaft

Macht sich auf, um zuzuschauen,

Wie des Sampsa Saat geraten,

Wie die Arbeit Pellerwoinens;

Sah die Bäume sich erheben,

Junge Sprossen munter wachsen:

Nur die Eiche will nicht keimen,

Wurzeln nicht der Baum Jumalas.


Ließ die Böse in der Freiheit

Ihres eignen Glücks genießen,

Wartet' annoch drei der Nächte,

Wartet' ebensoviel Tage,

Ging dann hin, um zuzuschauen,

Als die Woche hingeschwunden:[13]

Wachsen wollte nicht die Eiche,

Wurzeln nicht der Baum Jumalas.


Schaute dann der Mädchen viere,

Sah wohl fünf der Wasserbräute

Auf dem weichen Wiesenboden,

Auf dem feuchtbetauten Grase,

Auf der nebelreichen Spitze,

Auf dem dunstumwobnen Eiland;

Harkten da, was sie gemähet,

Zogen alles dann in Schwaden.


Aus dem Meere stieg ein Riese,

Stieg ein starker Held nach oben,

Drückt die Gräser, daß sie brennen,

Sie sich lichterloh entflammen,

Bis in Asche sie zergehen,

Bis sie ganz und gar verglühen.


Dort nun stand der Aschenhaufen,

Dort der Hügel trocknen Staubes,

Dahin tat ein zartes Blättchen,

Mit dem Blatt er eine Eichel,

Draus erwuchs die schöne Pflanze,

Stieg die üppig grüne Gerte

Gleich der Beere aus dem Boden,

In gegabelter Verzweigung.


Breitet aus schon ihre Äste,

Bauschet sich mit ihrer Krone,

Hebt den Wipfel bis zum Himmel,

Weit hinaus dehnt sie die Zweige,

Hält die Wolken auf im Laufe,

Läßt die Wölkchen selbst nicht ziehen,

Gönnt der Sonne nicht zu strahlen,

Gönnt dem Monde nicht zu leuchten.[14]


Wäinämöinen alt und wahrhaft

Dachte nach und überlegte:

Könnte man den Stamm doch stürzen,

Diesen schlanken Baum hier fällen!

Traurig ist der Menschen Leben,

Mühsam ist des Fisches Schwimmen,

Wenn ihm nicht die Sonne scheinet,

Nicht das liebe Mondlicht leuchtet.


Nirgends gab es einen Helden,

Nirgends einen solchen Riesen,

Der den Eichenstamm ihm fällte,

Der die hundert Wipfel stürzte.


Wäinämöinen alt und wahrhaft

Sprach dann selber diese Worte:

Mutter, die du mich getragen,

Schöpfungstochter, die mich nährte!

Send' mir von des Wassers Mächten

(Viel der Mächte sind im Wasser),

Diese Eiche umzustürzen,

Auszurotten ihre Bosheit,

Daß die Sonne wieder scheine,

Daß das liebe Mondlicht leuchte.


Da entstieg ein Mann dem Meere,

Hob ein Held sich aus den Wogen,

Zählt er gleich nicht zu den größten,

Keineswegs auch zu den kleinsten:

Lang gleich einem Männerdaumen,

Hoch wie eine Weiberspanne.


Kupfern war des Mannes Mütze,

Kupfern an dem Fuß die Stiefel,

Kupfern an der Hand die Handschuh',

Kupfern auch ihr Streifenzierat,[15]

Kupfern war am Leib der Gürtel,

Kupfern war das Beil im Gürtel,

Daumenslänge hat der Beilschaft,

Seine Schneide Nagels Höhe.


Wäinämöinen alt und wahrhaft

Überlegte und besann es:

Hat das Aussehn eines Mannes,

Hat das Wesen eines Helden,

Doch die Länge eines Daumens,

Kaum die Höh' des Rinderhufes.


Redet' darauf diese Worte,

Ließ sich selber so vernehmen:

Was bist du wohl für ein Männlein,

Du armseligster der Helden,

Besser kaum als ein Verstorbner,


Schöner kaum als ein Verblichner?

Sprach der kleine Mann vom Meere,

Antwort gab der Held der Fluten:

Bin gar wohl ein Mann, wenn einer,

Von dem Heldenvolk im Wasser,

Komme, um den Stamm zu fällen,

Um den Baum hier zu zertrümmern.


Wäinämöinen alt und wahrhaft

Redet selber diese Worte:

Nimmer hast du solche Kräfte,

Nimmer ist es dir gegeben,

Diesen großen Stamm zu stürzen,

Diesen Sonderbaum zu fällen.


Konnte kaum noch dieses sagen,

Kaum den Blick auf ihn noch lenken,

Als der Mann sich rasch verwandelnd

Sich zu einem Riesen reckte;[16]

Schleift die Füße auf der Erde,

Mit dem Haupt trägt er die Wolken,

Übers Knie reicht ihm der Bartschmuck,

An die Fersen seine Haare,

Klafterweite trennt die Augen,

Klafterbreit stehn ihm die Hosen,

Zweithalb Klafter von dem Kniekopf,

Zwei der Klafter von der Hüfte.


Wetzte hin und her das Eisen,

Strich behend die ebne Schneide

Mit sechs harten Kieselsteinen

Und mit sieben Schleifsteinsenden.


Fängt dann hastig an zu schreiten,

Hebt gar eilig seine Beine

Mit den überbreiten Hosen,

Die gebläht im Winde flattern,

Schwankt mit seinem ersten Schritte

Hin auf lockern Sandesboden,

Taumelt mit dem zweiten Schritte

Hin auf Land von dunkler Farbe,

Mit dem dritten Schritte endlich

Tritt er an der Eiche Wurzeln.


Haut den Baum mit seinem Beile,

Schlägt ihn mit der ebnen Schneide,

Einmal haut er, haut das zweite,

Schon zum dritten Male schlägt er,

Funken sprühen aus dem Beile,

Feuer fliehet aus der Eiche,

Will die Eiche niederwerfen,

Will den mächt'gen Baumstamm beugen.


Endlich bei dem dritten Male

Konnte er die Eiche fällen,

Brechen den gewalt'gen Baumstamm[17]

Und die hundert Wipfel senken;

Stieß der Eiche Stamm nach Osten,

Warf die Wipfel hin nach Westen,

Schleuderte das Laub nach Süden

Und die Äste nach dem Norden.


Wer dort einen Zweig genommen,

Der gewann sich ew'ge Wohlfahrt,

Wer den Wipfel an sich brachte,

Hatte ew'ge Zauberkunde,

Wer vom Laube was geschnitten,

Dem ward ew'ge Liebeswonne.


Was von Spänen ausgestreuet,

Was von Splittern fortgeflogen

Auf den klaren Meeresrücken,

Auf den flachen Wellenspiegel,

Ward vom Winde dort gewieget,

Von den Wellen dort beweget

Wie ein Boot in Wasserwogen,

Wie ein Schiff in Meeresfluten.


Nach dem Nordland trugen's Winde;

Nordlands Magd, die kleine Jungfrau,

Spülte ihren schönen Kopfputz,

Spült' und klopfte ihre Kleider

Auf des Strandes Wassersteinen,

Auf des Landes langer Spitze.


Sah die Späne in den Fluten,

Sammelt' sie in ihren Ranzen,

Trug im lang beriemten Ranzen

Sie nach Hause, nach dem Hofe,

Daß der Zaubrer daraus Pfeile,

Waffen sich der Schütze schaffe.[18]


Als die Eiche nun gefällt war,

Als gebeugt der stolze Baumstamm,

Konnt' die Sonne wieder scheinen,

Konnt' das liebe Mondlicht leuchten,

Weit dahin die Wolken schweifen,

Wölben sich des Himmels Bogen

Auf der nebelreichen Spitze,

Auf dem dunstumwobnen Eiland.


Schön erhoben sich die Haine,

Willig wuchsen da die Wälder,

Baumesblätter, Erdenkräuter,

Vögel sangen in den Bäumen,

Lustig lärmten heitre Drosseln

Und der Kuckuck ließ sich hören.


Beeren wuchsen aus dem Boden,

Goldne Blumen auf den Fluren,

Kräuter mancher Art entstanden

Und Gewächse jeder Weise;

Nur die Gerste wollte noch nicht,

Nicht die schöne Saat gedeihen.


Wäinämöinen alt und wahrhaft

Ging dahin und überlegte

An dem Strand des blauen Meeres,

An des mächt'gen Wassers Rande;

Fand dort bald der Körner sechse,

Sieben schöne Samenkörner,

An dem Strand des großen Meeres,

In dem lockern, sand'gen Lande;

Barg sie in dem Marderfelle,

In des Sommereichhorns Beinhaut.


Ging den Boden zu besäen,

Ging den Samen auszustreuen

An den Rand des Kalewbrunnens,[19]

An den Saum des Osmofeldes.

Sieh, da schnarrt vom Baum die Meise:

Nicht gedeihet Osmos Gerste,

Nicht der Hafer von Kalewa,

Wird der Boden nicht bereitet,

Wird die Waldung nicht gelichtet,

Nicht mit Feuer abgesenget.


Wäinämöinen alt und wahrhaft

Ließ ein scharfes Beil sich machen,

Fing die Waldung an zu fällen

Und den Hain mit Kraft zu schwenden,

Fällte Bäume aller Arten,

Nur die Birke ließ er stehen,

Einen Ruheplatz den Vögeln,

Wo der Kuckuck rufen könnte.


Her vom Himmel kam ein Adler,

Durch die Lüfte angeflogen,

Kam die Sache anzuschauen:

Weshalb ward denn stehn gelassen

Diese Birke unbeschädigt,

Nicht der schlanke Baum gefället?


Wäinämöinen gab zur Antwort:

Deshalb ward sie stehn gelassen,

Daß die Vögel auf ihr ruhen,

Daß des Himmels Aar hier sitze.


Sprach der Aar, des Himmels Vogel:

Gut gewiß ist deine Sorge,

Daß die Birke du gelassen,

Daß der schlanke Baum geblieben

Als ein Ruheplatz den Vögeln,

Daß ich selber darauf sitze.[20]


Feuer schlägt der Lüfte Vogel

Und verbreitet rasch die Flamme,

Bald versengt den Busch der Nordwind,

Nordost setzt ihn schnell in Asche,

Brennt die Bäume alle nieder,

Bis in Staub sie ganz zergehen.


Wäinämöinen alt und wahrhaft

Holt hervor der Körner sechse,

Holt die sieben Samenkörner

Aus dem Mardersack behende,

Aus der Haut des Sommereichhorns,

Aus dem Fell des Hermelines.


Geht das Land dann zu besäen,

Geht den Samen auszustreuen,

Redet selber diese Worte:

Hingebeugt werf' ich den Samen

Durch des Schöpfers Fingerspalten,

Mit der Hand des Machterfüllten,

Hin auf dieses Land zu wachsen,

Aus dem Boden hier zu sprossen.


Alte, die du unten weilest,

Erdenmutter, Flurengöttin,

Bring' den Rasen nun zum Drängen,

Bring' die Erde du zum Treiben;

Nimmer wird die Kraft der Erde,

Nimmer ihre Macht je fehlen,

Wenn die Geberinnen Gnade,

Huld der Schöpfung Töchter leihen.


Steig, o Erde, auf vom Schlafe,

Von dem Schlummer, Land des Schöpfers,

Laß die Halme sich erheben,

Laß die Stengel auf sich richten,[21]

Tausend Ähren auferstehen,

Hundertfach sie sich verbreiten

Durch mein Ackern, durch mein Säen,

Da ich also mich bemühe!


Ukko, du, o Gott der Höhe,

Du, o Vater in dem Himmel,

Der du im Gewölke waltest

Und die Wölklein alle lenkest!

Halte Rat im Wolkenraume,

Guten Rat im Luftbereiche,

Schick' von Osten eine Wolke,

Laß von Nordwest eine kommen,

Treibe andre her von Westen,

Sende welche aus dem Süden,

Laß vom Himmel Regen sprühen,

Laß die Wolken Honig träufeln,

Daß die Ähren sich erheben,

Daß die Saaten munter rauschen!


Ukko, er, der Gott der Höhe,

Er, der Vater in dem Himmel,

Hielt nun Rat im Wolkenraume,

Guten Rat im Luftbereiche,

Schickt' von Osten eine Wolke,

Ließ von Nordwest eine kommen,

Andre trieb er her vom Westen,

Sandte welche aus dem Süden,

Fügt' die Säume aneinander,

Stieß die Seiten rasch zusammen,

Ließ vom Himmel Regen sprühen,

Ließ die Wolken Honig träufeln,

Daß die Ähren sich erhoben,

Daß die Saaten munter rauschten;

Es erhoben sich die Halme,[22]

Es erstanden farb'ge Ähren

Aus der Erde weichem Boden

Durch die Mühe Wäinämöinens.


Es verging der Tage nächster,

Zwei und drei der Nächte schwanden;

Als die Woche abgelaufen,

Ging der alte Wäinämöinen

Hin zur Saat, um nachzusehen,

Wie sein Ackern, wie sein Säen,

Wie die Arbeit wohl gediehen;

Sieh, es wuchs die Saat nach Wunsche,

Ähren gab es mit sechs Kanten,

Halme fand er mit drei Knoten.


Wäinämöinen alt und wahrhaft

Schaute um sich, wandt' die Blicke,

Sieh, da kam des Frühlings Kuckuck

Und ersah die schlanke Birke:

Weshalb ward denn stehn gelassen,

Ungefället diese Birke?


Sprach der alte Wäinämöinen:

Deshalb ist sie hier gelassen,

Diese Birke, daß sie wachse,

Dir ein Platz zum muntern Singen;

Rufe hier, o lieber Kuckuck,

Singe schön aus weicher Kehle,

Singe hell mit Silberstimme,

Singe klar mit Zinnesklange,

Rufe morgens, rufe abends,

Rufe um die Mittagsstunde,

Daß sich diese Stätte freue,

Daß die Wälder schöner wachsen,

Reichern Schatz die Küste spende

Und das Feld von Korne schwelle!

Quelle:
Kalewala. 2 Bände, Berlin [o.J.], Band 1, S. 11-23.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Flegeljahre. Eine Biographie

Flegeljahre. Eine Biographie

Ein reicher Mann aus Haßlau hat sein verklausuliertes Testament mit aberwitzigen Auflagen für die Erben versehen. Mindestens eine Träne muss dem Verstorbenen nachgeweint werden, gemeinsame Wohnung soll bezogen werden und so unterschiedliche Berufe wie der des Klavierstimmers, Gärtner und Pfarrers müssen erfolgreich ausgeübt werden, bevor die Erben an den begehrten Nachlass kommen.

386 Seiten, 11.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon