Das Wegtamslied.

[34] Die Asen eilten all zur Versammlung

Und die Asinnen all zum Gespräch:

Darüber beriethen die himmlischen Richter,

Warum den Baldur böse Träume schreckten?


(Ihm schien der schwere Schlaf ein Kerker,

Verschwunden des süßen Schlummers Labe.

Da fragten die Fürsten vorschaunde Wesen,

Ob ihnen das wohl Unheil bedeute?


Die Gefragten sprachen: »Dem Tode verfallen ist

Ullers Freund, so einzig lieblich.«

Darob erschraken Swafnir und Frigg,

Und alle die Fürsten sie faßten den Schluß:


»Wir wollen besenden die Wesen alle,

Frieden erbitten, daß sie Baldurn nicht schaden.«

Alles schwur Eide, ihn zu verschonen;

Frigg nahm die festen Schwur in Empfang.


Allvater achtete das ungenügend,

Verschwunden schienen ihm die Schutzgeister all.

Die Asen berief er Rath zu heischen;

Am Mahlstein gesprochen ward mancherlei.)


Auf stand Odhin, der Allerschaffer,

Und schwang den Sattel auf Sleipnirs Rücken.

Nach Nifelheim hernieder ritt er;

Da kam aus Hels Haus ein Hund ihm entgegen,[34]


Blutbefleckt vorn an der Brust,

Kiefer und Rachen klaffend zum Biß,

So ging er entgegen mit gähnendem Schlund

Dem Vater der Lieder und bellte laut.

Fort ritt Odhin, die Erde dröhnte,

Zu dem hohen Hause kam er der Hel.


Da ritt Odhin ans östliche Thor,

Wo er der Wala wuste den Hügel.

Das Wecklied begann er der Weisen zu singen,

(Nach Norden schauend schlug er mit dem Stabe,

Sprach die Beschwörung Bescheid erheischend)

Bis gezwungen sie aufstand Unheil verkündend.


Wala.

Welcher der Männer, mir unbewuster,

Schafft die Beschwerde mir solchen Gangs?

Schnee beschneite mich, Regen beschlug mich,

Thau beträufte mich, todt war ich lange.


Odhin.

Ich heiße Wegtam, bin Waltams Sohn,

Wie ich von der Oberwelt sprich von der Unterwelt.

Wem sind die Bänke mit Baugen (Ringen) bestreut,

Die glänzenden Betten mit Gold bedeckt?


Wala.

Hier steht dem Baldur der Becher eingeschenkt,

Der schimmernde Trank, vom Schild bedeckt.

Die Asen alle sind ohne Hoffnung.

Genöthigt sprach ich, nun will ich schweigen.


Wegtam.

Schweig nicht, Wala, ich will dich fragen

Bis Alles ich weiß. Noch wüst ich gerne:

Welcher der Männer ermordet Baldurn,

Wird Odhins Erben das Ende fügen?


[35] Wala.

Hieher bringt Hödr den hochberühmten,

Er wird der Mörder werden Baldurs,

Wird Odhins Erben das Ende fügen.

Genöthigt sprach ich, nun will ich schweigen.


Wegtam.

Schweig nicht, Wala, ich will dich fragen

Bis Alles ich weiß. Noch wüst ich gerne:

Wer wird uns Rache gewinnen an Hödur,

Und zum Bühle bringen Baldurs Mörder?


Wala.

Rindur im Westen gewinnt den Sohn,

Der einnächtig, Odhins Erbe, zum Kampf geht.

Er wäscht die Hand nicht, das Haar nicht kämmt er

Bis er zum Bühle brachte Baldurs Mörder.

Genöthigt sprach ich, nun will ich schweigen.


Wegtam.

Schweig nicht, Wala, ich will dich fragen

Bis Alles ich weiß. Noch wüst ich gerne:

Wie heißt das Weib, die nicht weinen will

Und himmelan werfen des Hauptes Schleier?

Sage das Eine noch, nicht eher schläfst du.


Wala.

Du bist nicht Wegtam, wie erst ich wähnte,

Odhin bist du der Allerschaffer.


Odhin.

Du bist keine Wala, kein wißendes Weib,

Vielmehr bist du dreier Thursen Mutter.


Wala.

Heim reit nun, Odhin, und rühme dich:

Kein Mann kommt mehr mich zu besuchen

Bis los und ledig Loki der Bande wird

Und der Götter Dämmerung verderbend einbricht.

Quelle:
Die Edda. Stuttgart 1878, S. 34-36.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Grabbe, Christian Dietrich

Hannibal

Hannibal

Grabbe zeigt Hannibal nicht als großen Helden, der im sinnhaften Verlauf der Geschichte eine höhere Bestimmung erfüllt, sondern als einfachen Menschen, der Gegenstand der Geschehnisse ist und ihnen schließlich zum Opfer fällt. »Der Dichter ist vorzugsweise verpflichtet, den wahren Geist der Geschichte zu enträtseln. Solange er diesen nicht verletzt, kommt es bei ihm auf eine wörtliche historische Treue nicht an.« C.D.G.

68 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon