Fünfte Szene

[241] A tempo treten auf von links Hedwig, hinter ihr Resi, mit einem Kinde im Deckchen auf dem Arme – von rechts Frey, in die Lektüre eines Buches vertieft; er trägt eine gleiche Uniform wie Martin, aber mit den Distinktionszeichen eines Feldwebels.

Gerade wie Hedwig am Gittertore anlangt, tritt Frey vor dasselbe.


FREY nur halb aufblickend, bemerkt, daß er einer Dame den Weg verstelle. Entschuldigen! Tritt zurück. Bitte!

HEDWIG. Herr Frey![241]

FREY läßt die Hand mit dem Buche sinken. Oh, Sie sind's, gnädige Frau?

HEDWIG. Wollten Sie zu uns?

FREY kopfschüttelnd. Man sucht nicht, was man zu meiden hat.

HEDWIG. Es wird ein Jahr her sein, seit wir uns nicht gesehen. Wie geht es Ihnen?

FREY. Danke, leidlich.

HEDWIG. Leidlich. Kleine Pause. Sie fragen nicht, wie es mir ergeht?

FREY sie anblickend. Nein!

HEDWIG. Sie haben recht. Ich bin ja die reichste Frau vom Grund! Wie kann ich mich anders fühlen als glücklich? Ich bin auch Mutter geworden. Resi, komm her!


Das Dienstmädchen tritt heran. Hedwig schlägt den Schleier des Kindes zurück.


FREY. Es ist ein sehr – sehr zartes Kind und etwas – bleich.

HEDWIG den Schleier wieder überbreitend, herb. Krank! Zu Resi, indem sie ihr das Gittertor öffnet. Trag es ins Haus und lege es in die Wiege.


Resi mit dem Kinde durch das Gittertor ab.


HEDWIG. Sie haben es gesehen, das kleine, arme Ding! Man sagte mir, sein Vater habe zuviel gelebt, als daß für das Kind etwas überbliebe; es wird hinsiechen, wochen-, vielleicht monatelang, aber es wird nicht fortkommen. Sie drückt ihr Taschentuch an die Augen. Oh, Sie sehen, ich bin recht glücklich! Ihnen muß es zur Genugtuung gereichen, daß Sie mich in solcher Lage finden.

FREY schmerzlich. O gnädige Frau!

HEDWIG. Sie haben es mir ja vorher gesagt.

FREY. Lassen Sie das Vergangene vergangen sein!

HEDWIG. Ich will's, ich will sogar das Letzte weggeben, das mich daran erinnern kann, Ihre Briefe.

FREY erschreckt. Sie haben sie noch?

HEDWIG. Ich hatte nicht das Herz, sie zu vernichten.[242]

FREY. Und ich habe Sie doch gebeten, gnädige Frau. Ich machte noch aufmerksam – –

HEDWIG. Ich weiß, aber es geschah mir immer leid darum. Es ist mir lieb, daß ich Sie so zufällig treffe. Wollen Sie diese Briefe zu sich nehmen und zu denen von meiner Hand legen?

FREY. Wenn Sie es wünschen. Aber wie wollen Sie mir dieselben zukommen lassen?

HEDWIG deutet nach links. Wenn Sie diesen Weg verfolgen, so finden Sie ziemlich außerhalb des Ortes, schon anfangs der Au, ein kleines Gasthaus. Die Tische stehen im Freien, und wenn Sie sich dort aufhalten wollen, so suche ich Gelegenheit, gegen Abend vorüberzugehen und Ihnen das Päckchen unauffällig einzuhändigen.

FREY. Ich werde dort sein.


Beide wenden sich zum Gehen.


HEDWIG. Gewiß?

FREY. Gewiß!


Hedwig bleibt in der Gartentüre stehen, Frey an der Kulisse links, um einander nachzusehen, dabei begegnen sich ihre Blicke, sie stehen einen Augenblick in gegenseitiges Anschauen versunken, dann zieht Hedwig leise das Gitter hinter sich zu, und Frey entfernt sich; sobald beide nicht mehr sichtbar sind, treten Schalanter und Martin aus dem

Busch.


Quelle:
Ludwig Anzengruber: Werke in zwei Bänden. Band 1, Berlin und Weimar 21977, S. 241-243.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Das vierte Gebot
Anzengrubers Werke: Teil 3. Doppelselbstmord.-Der ledige Hof.-Ein Faustschlag.-Das vierte Gebot.-'s Jungferngift
Das Vierte Gebot (Dodo Press)
Das vierte Gebot