|
[78] Gegen Mittag, als die Sonne zu stechen anfing, kehrten wir in einem Dorfe bei alten Bauersleuten ein. Die Räuber mußten Freund und vertraut mit ihnen sein; so Esel ich auch war, konnt' ich das wohl an den langen Gesprächen, die sie mit ihnen hielten, und an ihren wechselseitigen Umarmungen merken. Sie schenkten ihnen auch allerhand Sachen, die sie mir vom Rücken herunternahmen, und es kam mir vor, als ob sie ihnen dabei zuflüsterten, daß sie solche soeben gestohlen hätten.
Wir wurden unsrer Bürde entledigt und auf die nächste Weide gelassen. Ich konnte aber weder mit dem Esel, noch mit meinem Pferde Gemeinschaft machen, denn ich war des Heufressens noch völlig ungewohnt.
Gleich hinter der Hütte hatte ich ein klein Gärtchen bemerkt. Da schlich ich mich, schwindlig vor Hunger, hinein, und an allerhand, wiewohl nur rohem Gemüse, fraß ich mir den Ranzen dick. Auch richtete ich Gebete an die Götter und spähte allenthalben umher, ob nicht etwa in den umliegenden Gärten ein blühender Rosenstock zu sehen. Denn da ich so seelenallein war, zweifelte ich nicht, daß ich abseits hinter Gesträuchen, von niemand gesehen, dieses mein Rettungsmittel einnehmen und sicher die zur Erde gebeugte Tiergestalt ablegen und hinwiederum Mensch werden könnte.
Indem ich so auf dem Meere dieser Gedanken umhertrieb, erblickte ich in einiger Entfernung ein schattiges Tal voller Gebüsche, und mitten in demselben lachte mir aus mancherlei[79] Gesträuchen und lustigen Stauden der glühende Purpur blühender Rosen entgegen.
Mein Herz, das von meiner äußern Gestalt weit verschieden war, glaubte jetzt den Lusthain der Venus und der Grazien zu sehen, in dessen wehenden Schatten, auf dessen wonniggrünen Wiesen die liebliche Königin der Blumen ihren herrlichen Glanz samt ihrem Wohlgeruch verbreitet.
Stracks rufe ich den Gott des erfreulichen Erfolges an und eile in so großen Sprüngen und so schnellem Laufe dahin, daß ich mich in demselben Augenblicke selbst nicht für einen Esel sondern für den raschesten aller Wettläufer hielt. Doch so leichtfüßig und schwipp ich mich auch immer erwies, so konnte ich dennoch meinem bösen Geschicke nicht zuvorlaufen. Denn, als ich ganz nahe hinzukam, so traf ich nicht jene zarte duftende Rose, die mit Tau des Himmels getränkt und mit Nektar glückseligen Dornensträuchern entblüht; ja, nicht einmal ein Tal fand ich irgendwo, sondern nur ein buschiges Ufer eines Flusses, wo viele Bäume blühen, die wie der Lorbeer längliche Blätter haben, eine geruchlose, aus einem blaßroten, kleinen, länglichen Kelche bestehende Blüte tragen und vom ungelehrten Landmanne ganz passend Lorbeerrosen genannt werden, dem Vieh aber tödlich zu fressen sind.
Also vom Schicksale hintergangen, verfluchte ich mein Leben und war willens, mich mit diesen giftigen Rosen zu vergeben. Allein indem ich langsam hinzugehe, um welche abzupflücken, so kommt ein junger Kerl, der wahrscheinlich der Gärtner war, in dessen Gartengewächsen ich so tapfer gewirtschaftet hatte, und der es nun inne geworden, mit einem großen Prügel wütend mir nachgerannt, kriegt mich an und gerbt auch dermaßen auf mein Fell los, daß ich Gefahr lief, mein Leben unter seiner Hand zu lassen, wenn ich mir nicht noch klüglich zu raten[80] gewußt hätte. Ich hob mich hinten und versetzte ihm mit beiden Füßen mit aller Kraft einen so nachdrücklichen Treff, daß er auf einmal genug hatte und am Fuße eines nahen Berges liegen blieb, derweilen ich mich durch die Flucht zu retten suchte.
Indessen, seine Frau hatte ihn von der Höhe herab halbtot hinsinken sehen und stürzte alsbald heulend und schreiend zu ihm hinunter. Ihr Zetergeschrei und Wehklagen erregte ein solches Mitleid, daß ich beinahe darüber in die Brüche gekommen wäre. Denn die ganze Dorfschaft rief die Hunde zusammen und hetzte sie hinter mir her.
Ich dachte, ich wäre des Todes, als ich den Schwarm großer abscheulicher Bullenbeißer auf mich zufliegen sah. Doch besann ich mich kurz, und anstatt weiter fortzulaufen, machte ich Kehrum und heidi, im gestrecktesten Galopp, dessen ich fähig war, der Hütte zu, in welche wir eingekehrt waren.
Allein die Bauern fingen mich auf, klatschten die Hunde mit Mühe und Not von mir ab, banden mich mit einer Halfter an einem Ring fest, und nun drosch ganz unbarmherzig auf mich los, wer nur dreschen konnte. Ich bin versichert, sie hätten mit dem Zeitvertreib nicht eher aufgehört, bis ich meinen Geist aufgegeben, hätte sich nicht mit einmal mein von dem Prügelregen zusammengepreßter und von dem rohen Gemüse aufgeschwellter Leib Luft gemacht und die Schinder alle, teils durch den Strahl, den er einigen von ihnen ins Gesicht schoß, teils durch den unausstehlichen Gestank, der sich sogleich umher verbreitete, in einem Augenblick von meinen zerschlagenen Lenden hinweggetrieben.
Gleich darauf, da die größte Hitze nun vorüber war, packten die Räuber uns unsere Bündel wieder auf, ja mir noch weit schwerere als vorher, und zogen weiter.[81]
Wir hatten bereits ein gut Stück Weges zurückgelegt, als wir an einen kleinen, sanftrieselnden Bach kamen. Müde vom weiten Marsche und schweren Tragen, mürbe von allen empfangenen Schlägen und hinkend und stolpernd der abgelaufenen Hufe wegen, dachte ich die gute Gelegenheit mir zunutze zu machen, in die Knie zu sinken und mich vorwärts in das Wasser hinabzustürzen, wohlentschlossen, um keine Hiebe in der Welt wieder aufzustehen und weiterzugehen, ja, eher tausendmal lieber mich totprügeln oder -stechen zu lassen. Denn abgemüdet und entkräftet wie ich war, erwartete ich eine ehrenvolle Entlassung meiner Dienste; aufs höchste, dacht' ich, würden die Räuber, es sei nun aus Ungeduld oder aus Furcht, sich aufzuhalten, die Last meines Rückens unter den beiden übrigen Tieren verteilen und mich statt aller härteren Rache den Geiern und Wölfen zum Raube zurücklassen.
Allein auch diesem vortrefflichen Anschlag bog mein böses Geschick wieder vor.
Der andere Esel, nicht anders als hätte er meine Gedanken gerochen und vor dem Munde mir weggeschnappt, fiel auf einmal, ehe es sich jemand versah, vor erlogener Müdigkeit um. Mit Sack und Pack lag er da wie tot; es half auch kein Knüppel, kein Stachel. Man mocht' ihn noch so viel schütteln und rütteln, bei den Ohren, beim Schwanze, bei den Füßen aufheben, nichts. Er rührte und regte sich nicht, ja geschweige, daß er Miene gemacht hätte, wieder aufzustehen.
Die Räuber sahen nun wohl, daß, da alle Hoffnung vergebens, und daß sie sich nicht nur unnötigerweise beim verreckten Viehe verweilten, das alle Viere so steif von sich streckte, als ob sie versteinert wären. Sie besprachen sich also untereinander und verteilten darauf sein Gepäck unter mir und dem Pferde. Dann hieben sie ihm die Hessen ab, schleppten ihn[82] beiseite und stürzten ihn von einem hohen Felsen noch halb lebendig in das nächste Tal hinunter.
Da ging mir ein Licht auf. Ich spiegelte mich gewaltig am Schicksal meines armen Bruders Langohr und tat von Stunde an auf alle weitere List und Ränke Verzicht. Ich nahm mir fest vor, hinfort meinen Herren hübsch treu und redlich, in Geduld und Gelassenheit zu dienen; zumal, da ich aus ihren Gesprächen vernahm, daß nun unser Nachtlager und überhaupt das Ziel unsres ganzen Marsches, das Ende all unsrer Beschwerden ganz in der Nähe wäre.
In der Tat, wir legten nicht mehr als noch einen mäßigen Hügel zurück, so waren wir zum Orte unsrer Bestimmung, zum Sitz und zur Burg der Räuber gelangt.
Alle Sachen wurden sogleich abgepackt und in Verwahrung gegeben.
Ich, sobald ich nur meinen Rücken frei und ledig fühlte, kollerte und wälzte mich nach Herzenslust im Sande. In Ermangelung eines Bades blieb mir kein anderes Mittel übrig, mich von meiner Strapaze zu erquicken.
Hier ist der Ort, eine Beschreibung von der Gegend und Höhle zu machen, wo sich die Räuber aufhielten. Ich kann dabei gelegentlich meinen Geist versuchen und zu gleicher Zeit auch den Lesern eine Probe geben, ob ich damals ebenso wirklich dem Innern als dem Äußern nach Esel war.
Es war ein rauher, waldiger und vorzüglich hoher Berg. Über desselben schrägem Abhange wanden sich aneinanderhängende Ketten schroffer, unzugänglicher Felsen, zwischen welchen tiefe, unergründliche Täler, mit Dornengebüschen verwachsen, nach allen Seiten sich hinzogen und eine natürliche Verschanzung ausmachten.
Vom Gipfel herab rann sprudelnd ein reicher Quell, stürzte[83] mit Silberschaum über hervorragende Klippen hin, und in mehrere Bäche verteilt durchwässerte er die Täler und sammelte unten sich zu einem großen stehenden See, der alles umschloß.
Da, wo die Felsenriffe aufhörten, öffnete sich die hochgewölbte Burg der Räuber: eine Höhle von so weitem Umfange, daß sie einem geräumigen, mit starken Hürden wohlverwahrten Schafstalle glich. Den Eingang verkleidete eine dichte Hecke wie eine vorgezogene Wand. Wer diesen Ort nur sah, konnte ihn mit gutem Gewissen für nichts anders als für ein Raubnest ansprechen.
Weit und breit umher war nichts als eine kleine, verloren mit Rohr bedeckte Hütte zu sehen, worin, wie ich nachher erfuhr, allemal diejenigen von den Räubern, welche das Los getroffen hatte, des Nachts Schildwache zu halten pflegten.
Nachdem uns die Räuber vor dem Eingange ihrer Höhle angebunden, zwängten sie sich alle, einer nach dem andern, hinein. Drinnen war dies ihre freundliche Anrede an ein altes, von Jahren tiefgebeugtes Mütterchen, dem allein das Heil und die Pflege so vieler junger Kerle anvertraut schien:
›Nun, Du alter Molch, Du garstiges Totengerippe, Du Scheusal der Lebendigen! Hast Du uns einmal wieder nichts zurechtgemacht und müßig zu Hause gesessen und die Hände in den Schoß geschlagen? Wirst Du, alte Saufbulle Du! uns wohl bald recht was Kräftiges zu essen geben, woran wir uns wieder von unseren langen, gefährlichen Strapazen erholen mögen?‹
Zitternd und mit kreischender Stimme gab ihnen das arme, alte erschrockene Weib zur Antwort:
›Ei, liebe, brave Jünglinge, ich werde ja für Euch, für meine trauten Beschützer gesorgt haben! Kommt, kommt, Euer wartet die leckerste, reichlichste Mahlzeit und des Brotes und Weines[84] die Fülle. Blank und rein ausgeschwenkt stehen die Krüge da; auch ist siedend Wasser parat zum Bade, wie ich weiß, daß Ihr's gern habt, wenn Ihr nach Hause kehrt.‹
Sobald sie das hörten, zogen sie sich nackend aus und schwitzten an einem sehr großen Feuer; wuschen sich dann mit warmem Wasser, rieben sich mit Öl und gingen zu Tische, wo der größte Überfluß herrschte.
Kaum daß sie Platz genommen, so kam noch eine größere Rotte junger Kerls, die ich ebenfalls für Räuber ansah; denn auch sie brachten eine ganze Tracht Gold- und Silbermünzen, Gefäße und seidner und goldgestickter Kleider mit.
Sie badeten sich auf dieselbe Art wie die vorigen und lagerten sich zu ihnen, nachdem sie vorher gelost, wer bei Tische aufwarten solle.
Nun ging es an ein Fressen und Saufen! Die aufgehäuftesten Schüsseln waren ausgeleert, die größten Brote verschwunden – im Nu, und es war, als ob die Becher keine Boden hätten.
Alle zugleich schreien sie unordentlich durcheinander. Bald brechen sie in wieherndes Gelächter aus, bald stimmen sie brüllenden Gesang an. Raserei ist hier Freude und Hohnneckerei Witz; ganz wie vormals beim Bankett der thebanischen Lapithen und halbtierischen Centauren!
›Wir andern,‹ hub der vierschrötigste unter ihnen an, ›wir sind noch brave Kerls! Wir haben doch Milos Haus zu Hypata erobert; haben überschwengliche Reichtümer mit Heldenmut erfochten und, weit gefehlt, dabei auch nur einen einzigen von unsrer Anzahl einzubüßen, sind wir noch mit acht Füßen mehr in unser Standquartier wieder zurückgekehrt. Aber Euch da, die Ihr nach den böotischen Städten ausgegangen seid, Euch nenne ich alte Memmen! Seht nur, zu welch einem geringen Häuflein Ihr zusammengeschmolzen seid! und dann Euren[85] tapfern Anführer, unsern Lamachus, so im Stiche zu lassen! Nein, all der Plunder, den Ihr da mitgebracht, ist wahrlich nicht das Leben dieses einzigen Mannes wert! Doch getrost! Er ist als Held gestorben, seine eigene übergroße Herzhaftigkeit hat ihn zugrundegerichtet, und ewig wird sein Andenken samt dem Andenken der besten Heerführer und größten Feldherren mit Ruhm gepriesen werden! Anstatt Ihr elendes Diebesgesindel nun und immerdar wie Schurken zitternd und zagend in Bädern und alter Weiber Buden umherschleichen werdet, um durch kleine, nichtswürdige Spitzbübereien Euer verächtliches Leben zu fristen.‹
Ihm erwiderte einer von diesen letzteren:
›Tust Du doch, als ob Du allein nicht wüßtest, daß große Häuser am allerleichtesten zu bestehlen sind! Denn wohnt gleich ein zahlreiches Gesinde darinnen, so ist doch jedweder weit mehr um sein Leben als um des Herrn Gut besorgt. Schlechte und gerechte Leute aber, die so ganz in der Stille leben und von ihrem bißchen Gelde kein Wesen machen, die verteidigen ihre Habe aufs hartnäckigste und selbst mit Gefahr ihres Leibes und Lebens.
Was ich hier sage, kann ich durch dasjenige erweisen, was uns begegnet ist.
Kaum daß wir nach Theben, mit den sieben Toren, gekommen und uns, nach unseres löblichen Handwerks Sitte und Brauch, unter der Hand nach den wohlhabendsten Einwohnern umzusehen angefangen hatten, als wir von einem gewissen Chryseros, einem steinreichen Wechsler, Kundschaft einzogen. Aus Furcht vor öffentlichen Bedienungen, wobei etwas zuzusetzen ist, tut dieser, als ob er noch so arm sei, wohnt in einem ganz kleinen, aber wohlverwahrten Häuschen mutterseelenallein, geht schmutzig und zerlumpt wie ein Bettler einher[86] und kommt weder Tag noch Nacht von seinen Goldsäcken hinweg.
Auf den münzten wir es nun sogleich. Da wird's nicht einmal was zu streiten geben mit einem so einzelnen Menschen, dachten wir; im Spielengehen nehmen wir dem all seine Habseligkeiten ab!
Aber warte ein wenig! Er beluchste uns garstig.
Mit einbrechender Nacht waren wir vor seiner Tür. Wir hielten insgesamt nicht für ratsam, sie auszuheben, aufzusprengen oder durchzubrechen, damit wir kein Geräusch machten, wovon die Nachbarn aufwachen könnten; denn das dürft' uns übel bekommen. Was hat da mein Lamachus, unser kreuzbraver Anführer, zu tun?‹
In einem edeln Vertrauen auf seine bewährte Tapferkeit greift er leise mit der Hand durch das Schlüsselloch und sucht inwendig das Schloß abzureißen.
›Aber Chryseros, das allerärgste, das abscheulichste von allen Geschöpfen, die auf zwei Beinen herumlaufen, immer wach, immer die Ohren gespitzt, hatte, uns lange schon gemerkt und war auf den Zehen stockmäuschenstill herbeigeschlichen. Sobald nun Lamachus Hand zum Schlüsselloche hereinkommt, stößt er plötzlich mit aller seiner Macht einen großen Nagel durch dieselbe und heftet sie, so fest er nur kann, an das Tor.‹
In diesem Zustande läßt er ihn wie am Galgen zappeln, und somit im Hui auf den Boden seiner Hütte hinauf, und von da aus vollem Halse, als ob er am Spieße stecke, in die Gasse hinuntergeschrien: ›Feuer! Diebe! Diebe! Feuer!‹ Einen jeden seiner Nachbarn bei Namen gerufen und nicht anders getan, als brennte sein Haus schon heller lichter Lohe, und als würden den[87] Augenblick auch die ihrigen von der Flamme ergriffen werden, wenn sie nicht flugs zur Hilfe kämen.
Erschrocken über die nahe Gefahr, eilten alle ängstlich herbei.
Wir sahen uns unterdessen in der jämmerlichsten Verlegenheit, entweder selber allesamt draufzugehen oder unsern Hauptmann im Stiche zu lassen. Zur rechten Zeit aber noch schlugen wir mit seiner Bewilligung einen glücklichen Mittelweg ein. Wir hieben unserm Anführer im Ellbogen den Arm ab, ließen den zurück, wickelten was um den Stummel, damit von dem herausfließenden Blut unsere Spur nicht verraten würde, und nun Reißaus genommen mit unserm Lamachus!
Indessen, da uns tapfer nachgesetzt wurde und wir beständig über Hals und über Kopf fliehen mußten, Lamachus aber ebensowenig schnell uns folgen als sicher zurückbleiben konnte, so bat dieser großmütige, erztapfere Mann bald diesen, bald jenen von uns aufs Flehentlichste, Rührendste, bei der Rechten des Mars, bei dem Eide unsres Bundes, ihn, unsern biedern Kameraden, doch den Qualen und der Gefangenschaft zu entreißen. ›Wozu,‹ sagte er, ›wozu sollte ein rechtschaffener Räuber seine Hand überleben, ohne die er doch weder rauben noch morden kann? Jetzt bin ich sattsam glücklich, wenn ich durch Freundeshand mit eigenem Willen sterbe!‹
Indessen, er konnte niemand von uns überreden, ihn zu töten.
Da zog er mit der Linken sein Schwert, küßte es zärtlichst und stieß es sich selbst aus allem Vermögen mitten durch die Brust.
Mit stummem Erstaunen verehrten wir den hohen Mut unseres edlen Hauptmanns, nahmen seinen Leib mit uns, hüllten ihn sorgfältig in weiße Leilachen ein und übergaben ihn dem Meere. Und so ist ein ganzes Element das Grab unseres[88] Lamachus, der ein ruhmwürdiges Leben mit einem ruhmwürdigen Tode gekrönt hat!
Was aber den Alcimus betrifft, so hat er, wie aufgeweckt er auch war, doch dem bösen Geschicke nicht entgehen können.
Er brach in die Hütte eines alten schlafenden Mütterchens ein und stieg zu ihr in die oberste Bucht hinauf. Anstatt aber da mit dem Erwürgen der alten Vettel anzufangen, ließ er sich einfallen, uns lieber alle ihre Sachen zum Fenster herunterzuwerfen. Er war nicht faul, bald war alles ausgeräumt, und nun sollt' es auch über das Bett hergehen, worin die Alte lag. Er schmiß sie also heraus auf den Boden und wollte ihr auch nicht einmal die Decke lassen; aber auf ihren Knien bat ihn der alte Nickel: ›Oh, habe Erbarmen, mein Sohn, und wolle doch nicht auch diese so elenden Lumpen eines armen unglücklichen alten Weibes ihren steinreichen Nachbarn schenken, in deren Hof dieses Fenster geht!‹
Alcimus, überlistet, nimmt das für bares Geld. Damit nun sowohl das, was er vorher hinabgeschmissen, als auch das, was er noch hinabwerfen wollte, nicht aus Irrtum in fremde, sondern in unsere Hände fallen möchte, so hängt er sich bald mit halbem Leibe zum Fenster hinaus, um die Sache zu untersuchen und zu gleicher Zeit auch in dem Hause der reichen Nachbarn, wovon die Alte sprach, die Gelegenheit abzusehen. Darüber vergißt er sich aber so sehr, daß er sich immer weiter und weiter zum Fenster hinausreckt, bis er endlich ganz im Gleichgewicht schwebt. Da erwartete ihn die schlaue Alte. Mit schwacher Hand hilft sie ihm, ohne daß er es sich versieht, unten bei den Füßen nach und stürzt ihn so, Kopf unten, Kopf oben, in die Gasse hinab.
Außerdem, daß er sehr hoch fiel, schlug er noch unten auf einen großen Eckstein auf, daß er sich auch gleich Rückgrat[89] und alle Rippen im Leibe zerschmetterte und das Blut ihm aus Maul und Nase herausströmte.
Er quälte sich nicht lange. Kaum konnte er uns erzählen, was sich zugetragen, als er verschied.
Wir bestatteten ihn gleich dem Lamachus, der an ihm einen Nachfolger erhielt, der gewiß seiner nicht unwert war.
Nachdem uns diese zweite schmerzliche Wunde geschlagen, taten wir auf alle weiteren Unternehmungen in Theben Verzicht und stiegen zur nächsten Stadt, Platää, hinab.
Das Gerücht machte uns da sogleich einen gewissen Demochares bekannt, der eben ein Fechterspiel geben wollte. Er war ein Mann von der edelsten Geburt, von großem Vermögen und von ausnehmender Freigebigkeit, und die Zurüstung zur öffentlichen Lustbarkeit geschah mit einer Pracht, die vollkommen seiner würdig war.
Ich müßte ein ganzer Kerl an Geist und Beredsamkeit sein, wenn ich Euch alle die mancherlei Anstalten, die er getroffen hatte, schicklich beschreiben könnte. Genug, da sah man eine Menge der behendesten Tierkämpfer; da waren arme Sünder, die wilden Tieren zum Fraße gemästet wurden, und auf dem Orte, wo die Kampfspiele sollten gehalten werden, war sehr zierlich ein hölzernes übersetztes Gerüst gleich einem Gebäude, das sich um einen Versammlungsplatz herumzieht, aufgerichtet und mit den schönsten Gemälden ausgeschmückt. Und welch eine Anzahl wilder Tiere und von welcher Größe; denn er hatte diese lebendigen Gräber zum Tode verurteilter Menschen von den entlegensten Orten her mit äußerster Sorgfalt zusammengeholt.
Vorzüglich aber vor allen übrigen Zubereitungen zu diesem herrlichen Feste ließ er sich eine Menge großer Bären überaus viel kosten. Außer denen, die er auf seinen eigenen Jagden gefangen, außer denen, die er mit dem teuersten Pfennig[90] erkauft hatte, unterhielt er noch viele, die ihm verschiedene seiner Freunde zum Geschenk gemacht hatten.
Indessen, ungeachtet Demochares diesen Tieren es weder an hinlänglichem Futter noch, an der sorgfältigsten Wartung fehlen ließ, so konnte er sie dennoch nicht vor dem Tode in Sicherheit stellen. Bei der langwierigen Gefangenschaft, der übermäßigen Sonnenhitze und dem beständigen faulen Daliegen zehrten sie sich ab, wurden krank, und ehe man es sich versah, war das Sterben unter ihnen. In sehr kurzer Zeit war fast nichts davon mehr übrig.
Das Volk, anstatt sich an der Hetze dieser stattlichen Tiere zu erlustigen, sah sie nun jämmerlich verreckend hin und wieder auf den Straßen liegen, und arme Elende, welche Mangel und nagender Hunger selbst nach widrigem Aase lüstern macht – kamen und holten sie sich zur Speise.
Dieser Umstand gab mir und dem Babulus folgenden listigen Anschlag ein:
Wir tragen uns den größten, feistesten von diesen Bären nach unsrer Herberge und stellen uns, als wollten wir uns damit recht was zugute tun. Wir ziehen ihm das Fell ab, lassen aber die Tatzen unversehrt, sowie den Kopf bis ans Genick. Darauf schaben wir die Haut sorgfältig aus, streuen brav Asche hinein und lassen sie an der Sonne trocknen. Derweilen diese durch die Hitze ihrer Strahlen sie gar macht, erlaben wir uns mit unsern Kameraden an dem fetten Fleische und verabredeten zum bevorstehenden Unternehmen diesen Plan:
Einer aus unserer Mitte, der alle übrigen noch weit mehr an Herz als an Leibesstärke überträfe, solle sich freiwillig in die Haut stecken und den Bären spielen, sich als solcher in Demochares' Wohnung bringen lassen und dann bei nächtlicher Weile wenn alles schliefe, den andern die Haustür eröffnen.[91]
Wie viele unsrer unerschrocknen Gesellschaft waren nicht gleich zu dieser glänzenden Tat bereit! Doch einstimmig wurde vor allen andern Thrasileon erwählt, und mit Freuden unterzog er sich dem gefährlichen Wagnis. Er fährt heitern Angesichts in das geschmeidige wohlgegerbte Fell hinein. Wir nähen es mit einer feinen Naht zu, die wir bestmöglichst unter den langen dichten Zotten verbergen. Seinen Kopf stecken wir in des Tieres Hals, und zum Atemholen und Sehen machen wir ihm um die Gegend der Nasenlöcher und der Augen kleine Öffnungen. Und nachdem wir also unsern tapfern Kameraden zu einem fürchterlichen Bären umgeschaffen, kaufen wir für ein Geringes einen Käfig, in den er stracks von selbst mit dem standhaftesten Mute hineinkroch.
Nach diesen Vorbereitungen schreiten wir folgendermaßen zur weiteren Ausführung unsres listigen Anschlags.
Wir hatten auskundschaftet, daß ein gewisser Nikanor aus Thrazien ein sehr genauer Freund des Demochares sei. In seinem Namen schmieden wir einen Brief, daß er dem Demochares hiermit die Erstlinge seiner Jagd überschicke, um von seiner Seite auch etwas zur Pracht der Spiele seines Freundes beizutragen.
Nun war der Abend herangekommen. Unter dem Schleier der Finsternis tragen wir unsern Thrasileon in dem Käfig samt dem falschen Sendschreiben zum Demochares.
Er erstaunte über die Größe der Bestie und freute sich außerordentlich, daß ihn sein Freund just so zur gelegenen Zeit beschenkte. Er zog den Beutel heraus und gab uns zehn Dukaten Trinkgeld, daß wir ihm ein Geschenk überbracht, das ihm so viele Freude machte.
Unterdessen zog die Neugier viele Leute herbei. Sie standen alle voller Bewunderung um unsern Bären herum. Thrasileon war aber immer wohl auf seiner Hut. Sobald sich jemand zu[92] nahe an ihn wagte, so fuhr er grimmig auf ihn los und wies den Vorwitzigen ab.
Man pries einhellig den Demochares glücklich, daß er fast dem Schicksale zum Trotz den großen Abgang der Tiere gleich wieder durch einen so guten Zuwachs ersetzen könnte.
Er gab Befehl, den Bären sofort nach einem seiner Landgüter zu bringen und desselben allda aufs Beste zu warten. Allein das gab ich nicht zu! – ›Gnädiger Herr!‹ fing ich an, ›ich weiß nicht, ob Sie gut tun, daß Sie ihn jetzt, da er von der Sonnenhitze und der Reise abgemattet ist, zu einem Haufen anderer Bären tun wollen, die sich obendrein, wie ich höre, nicht so recht wohlbefinden sollen. Wäre es unmaßgeblich nicht besser, wenn Euer Gnaden ihn hier im Hause an einen schattigen, luftigen Ort hinbringen ließen, wo auch allenfalls ein Teich in der Nähe wäre, damit er sich abkühlen könnte? Denn Euer Gnaden wissen wohl, daß dergleichen Tiere sich gern in dichten Hainen, feuchten Höhlen oder auf anmutigen Hügeln und an kühlen Quellen aufzuhalten pflegen.‹
Meine Bedenklichkeit jagte den Demochares ins Bockshorn, und damit dieser Bär nicht auch verrecken möchte, pflichtete er ohne weitere Umstände sogleich meinem Vorschlage bei und gestattete uns, den Käfig in seinem Hause hinzustellen, wo wir es nur für gut befänden.
›Wir wollen, mit Euer Gnaden Wohlgenehmen, hier auch wohl des Nachts beim Käfig wachen‹ – fügt' ich hinzu –, ›damit das arme Tier nach der ausgestandenen Hitze und Beschwerde der Reise auch mit aller Pünktlichkeit und, wie's gewohnt ist, gefüttert und getränkt werde.‹ –
›Was das anlangt,‹ gab er zur Antwort – ›so bedarf ich dazu Eurer Hilfe nicht. Fast mein ganzes Gesinde weiß durch die lange Gewohnheit recht gut mit Bären umzugehen.‹[93]
Darauf empfahlen wir uns und gingen fort, gingen zur Stadt hinaus und suchten uns ein Grabmal, das etwas abseits von der Landstraße an einem entfernten verborgenen Orte gelegen.
Da öffneten wir vorläufig zur Aufbewahrung der künftigen Beute verschiedene Särge, die vor Fäulnis und Alter nur halb noch bedeckt waren und nichts als den Staub verwester Toter enthielten, und warteten's ab, wie wir's immer zu machen pflegen, daß es finster wurde und die Leute im ersten Schlafe tief begraben lagen.
Nun bricht unsere ganze Schar wohlbewaffnet auf, und nicht anders, als hätte sie sich zur Plünderung verbürgt, stellt sie sich vor Demochares' Tür ein.
Thrasileon seinerseits paßt gleichfalls der Nacht raubgünstigen Augenblick ab, kriecht aus dem Käfig heraus, ermordet erst die neben ihm eingeschlafenen Wächter alle miteinander, dann auch den Pförtner, und nun macht er die Haustür auf, läßt uns flugs hinein und zeigt uns die Kammer, worin er abends einen großen Vorrat Silbergeschirr hatte verwahren sehen.
Ohne lange zu fackeln, legen wir insgesamt Hand an, und mit Gewalt hineingebrochen!
Dies getan, befehle ich einem jeden von uns, so viel Gold und Silber aufzusacken, als er nur fortbringen könnte, es in aller Geschwindigkeit in der Behausung unserer biederen Toten zu verbergen, dann spornstreichs wieder zurückzukehren und wiederum also zu tun. Ich wollte mich unterdessen, zum gemeinschaftlichen Besten, vor die Tür pflanzen und bis zu ihrer Wiederkunft genau alles beobachten, was von außen vorginge, derweilen Thrasileon, immer noch als Bär, im Hause umginge und das Gesinde zu fürchten machte, wenn etwa jemand davon erwachen sollte, denn wer würde nicht, wenn er auch noch so tapfer und unerschrocken wäre, bei dem Anblicke eines so[94] ungeheuren Tieres, zumal bei Nacht, sogleich davonlaufen und mit großem Herzklopfen sich hinter Schloß und Riegel in seiner Kammer verschanzen?
Trotz diesen herrlichen Anordnungen mußte doch alles unglücklich ablaufen!
Derweilen ich ganz ängstlich die Zurückkunft unserer Kameraden erwarte, stiehlt sich einer von den Bedienten im Hause, den das Gelärm aufgeweckt hatte, leise auf den Zehen aus seinem Winkel heraus, sieht den Bären los und frei im Hause herumspazieren und schleicht dann wieder stillschweigend zurück und erzählt's den andern.
Den Augenblick ist der ganze Flur mit dem Hausgesinde angefüllt, und Fackeln, Laternen, Lampen, Wachs- und Talgkerzen, und was es sonst noch für Arten von Nachtlichtern gibt, erhellen die Finsternis.
Jedweder ist bewaffnet, der mit einem Knüppel, der mit einem Spieß, der mit einem blanken Degen, und so besetzen sie die Türen. Die großen zottigen Doggen werden auch herbeigerufen und an den ergrimmten Bär angehetzt.
Da war keine Zeit zu verlieren; ehe noch das Getümmel überhand nahm, war ich zum Hause hinaus und versteckte mich hinter der Tür, von wo aus ich den Thrasileon sich bis zum Erstaunen gegen die Hunde wehren sah. Ob er gleich jetzt am äußersten Rande des Lebens stand, so war er doch nimmer seiner selbst, noch unser, noch seiner vormaligen Tapferkeit uneingedenk, sondern kämpfte noch frisch, da er dem Tode gleichsam schon im Rachen steckte; ja, er spielte selbst seine Rolle, die er freiwillig übernommen hatte, bis auf seinen letzten Atemzug fort. Bald floh er, bald stellte er sich wieder zur Wehr und verteilte, auf den Hinterfüßen sitzend, mit den Vordertatzen rechts und links Maulschellen.[95]
Endlich entwischte er sogar durch eine jähe Wendung aus dem Hause hinaus, ohne sich jedoch durch die Flucht retten zu können, wenn er gleich im Freien war. Denn alle Hunde von der Gasse, die nicht in geringer Anzahl waren, stießen mit lautem Gebell und voller Wut zu denen, die dicht hinter ihm her zum Hause herauskamen; und da sah ich das traurigste, jämmerlichste Schauspiel, unsern armen Thrasileon unter unzähligen Hunden und von ihren wütenden Bissen zerfleischt und zerfetzt.
Ich konnte den Anblick nicht ertragen, er zerriß mir die Seele. Ich mischte mich unter den Haufen des zusammenlaufenden Volks und suchte meinem armen Kameraden zu helfen, so gut ich wenigstens, ohne mich selbst zu verraten, konnte, indem ich dem vornehmsten Anhetzer zuschrie:
›Nun wahrlich, das ist auch unverantwortlich, daß wir ein so großes kostbares Tier von den Hunden zerreißen lassen.‹
Doch der Pfiff war umsonst. Es kam ein großer starker Kerl aus dem Hause herausgestürzt, der rannte den Bären mit einem Spieße gleich mitten durch die Brust; seinem Beispiele folgten mehrere. Nun hatte ein jeder Mut, alle Furcht verschwand; wer nur ein Mordgewehr erhaschen konnte, der kam und stach mit drauflos.
Thrasileon bezeigte sich inzwischen immerfort als die Krone unsres Ordens. Eher war sein der Unsterblichkeit würdiger Geist erschöpft, denn seine Geduld; nicht durch Geschrei, nicht einmal durch Gewimmer brach er seinen getanen Eid der Treue. Von Hunden zerrissen, von Schwertern und Spießen zerhackt und zerstochen, besiegte er als Held mit unüberwindlicher Standhaftigkeit seine Schmerzen. Er grunzte und brummte gleich einem Bär bis auf den allerletzten Augenblick, da er sein junges Leben dem Schicksal für ewig unerlöschlichen Ruhm zurückgab.
Furcht und Schrecken, so er den Leuten eingejagt, waren so[96] groß, daß es hell wurde und auch noch ein großer Teil des Tages verging, ehe sich jemand getraute, das tot am Boden hingestreckte Tier auch nur mit einem Finger anzurühren! Endlich faßte noch ein Fleischer Mut, wagte sich heran, schlitzte ihm den Bauch auf und schälte somit, zur allgemeinen Verwunderung, den unvergleichlichen Räuber heraus.
Also büßten wir den Thrasileon auch ein! Indessen mit ihm ist uns nicht zugleich auch sein Ruhm verloren.
Wir andern packten schleunigst alles zusammen, was die Toten uns treu und redlich verwahrt hatten, und damit fort über die platäische Grenze.
Unterwegs überdachten wir bei uns selbst, wie natürlicherweise keine Redlichkeit mehr unter den Lebendigen zu finden sei, da sie sich so, aus Abscheu vor dem Betrug, in die Gräber zu den Verstorbenen geflüchtet.
Und so bringen, wir Euch denn nach drei Mann Verlust, ganz abgemattet vom Tragen und Marschieren, diesen unsern Raub zu, den Ihr da sehet! –
Nach Endigung dieses Gespräches gossen die Räuber alle aus goldenen Bechern lautern Wein zum Gedächtnis ihrer verlorenen Kameraden aus, sangen noch verschiedene Liederchen zum Lobe ihres Schutzpatrons, des Mars, und legten sich dann ein wenig schlafen.
Derweilen hatte uns die Alte Gerste ohne Maß und zur Genüge vorgeschüttet. Mein Pferd, das den ganzen Überfluß allein auf sich nahm, stand sich sehr wohl dabei, allein ich, der die Gerste nur allenfalls in Graupensuppen leiden mag, ich stöberte bald den Winkel aus, wo die Überbleibsel der Mahlzeit waren hingetan worden, und machte da meinen vor langem Hunger fast erstarrten und aufeinandergewachsenen Kinnbacken gar weidlich zu tun.[97]
Als es weiterhinkam in die Nacht, wurden die Räuber wieder wach und brachen auf. Sie rüsteten sich verschiedentlich; die einen bewaffneten sich mit Gewehr, die andern verkleideten sich als Gespenster. So zogen sie aus.
Durch dies alles aber ließ ich mir den Schlaf ebensowenig als meinen Eßeifer stören. Als Lucius war ich stets mit ein, zwei Broten zufrieden und stand vom Tische auf. Jetzt, bei der bodenlosen Tiefe meines Bauches, fühlt' ich den dritten Korb voll noch nicht, und der helle Tag überraschte mich noch bei voller Arbeit. Da schämte ich mich aber doch trotz aller meiner Eselhaftigkeit, hörte auf und ging und trank einmal aus dem frischen Bache.
In kurzem waren die Räuber wieder da, aber voller Angst und Besorgnis. Diesmal hatten sie weder Pack noch Bündel, noch sonst das Allergeringste; alles, was sie mit blanken Schwertern, in großem Schwarm und Getümmel mitbrachten, war ein Mädchen; aber auch ein Mädchen!!
Ihre Gestalt und ihr Wesen verrieten offenbarlich, daß sie von den Vornehmsten in der Provinz sei, und ihre Reize machten selbst einen solchen Esel, als ich war, lüstern. Sie jammerte unablässig und zerriß ihre Kleider, zerraufte ihr Haar.
Als die Räuber sie in der Höhle absetzten, sprachen sie ihr Trost zu.
›Seien Sie ruhig,‹ sagten sie, ›Sie dürfen bei uns weder für Ihr Leben noch für Ihre Ehre besorgt sein. Haben Sie nur kurze Zeit Geduld, daß wir ein Stück Geld mit Ihnen verdienen können, weiter geht unsre Absicht nicht. Wir können uns nicht helfen, aus Not und Armut müssen wir einmal schon dies Handwerk treiben; aber Ihre Eltern, die so überschwengliche Reichtümer besitzen, werden Sie nicht lange bei uns lassen. Bei der Ranzion ihrer einzigen Tochter werden sie gewiß nicht knausern, und wenn sie auch sonst noch so geizig wären!‹[98]
Mit diesem und ähnlichem Gewäsche dachten sie des Mädchens Schmerz zu mildern, aber vergebens. Mit auf die Knie gelegtem Haupte saß sie und weinte immerfort.
Die Räuber riefen darauf die Alte und befahlen ihr, sich zu dem Mädchen zu setzen und ihr so gut, als sie nur wüßte und könnte, zuzureden; sie selbst aber gingen wieder ihren Geschäften nach.
Indessen, keine Reden der Alten vermochten das Mädchen, daß sie mit Weinen aufhörte; vielmehr heulte und schluchzte sie nur immer ärger, so daß sie mir endlich selbst Tränen auspreßte.
›Wie soll ich nicht weinen,‹ schrie sie, ›wie kann ich nur leben, da ich Unglückliche einem so ansehnlichen Hause, so zahlreichem, so teurem Gesinde entrissen bin? Ach! verwaist bin der besten Eltern und ein Raub geworden sträflicher Hände, meine Freiheit verloren habe und wie eine Sklavin mich hier eingekerkert sehe in diesen Felsen, jeglicher Gemächlichkeit, jeglicher Freude beraubt, worin ich geboren und erzogen bin, und in augenblicklicher Gefahr meines Lebens und meiner Ehre, unter dieser Menge abscheulicher Straßenräuber und Banditen?‹
Also wehklagte sie, bis endlich vor Betrübnis der Seele, vor Heulen und Schreien und Abmattung des Körpers ihr die Augen zufielen und sie entschlief.
Kaum hatte sie eine Weile geruht, als sie mit einmal wie wahnsinnig aus dem Schlafe aufschreckte und weit heftiger als vorher sich zu beklagen anfing, um sich den Busen mit wütenden Händen zu schlagen und ihr allerliebstes Gesicht zu verletzen.
Die Alte drang lebhaft in sie, ihr die Ursache ihrer neuen verstärkten Betrübnis zu entdecken, aber sie seufzte immer nur tiefer auf und schrie:[99]
›Ach, nun, nun ist's vollends mit mir aus! Nun ist auch der letzte Schimmer von Hoffnung für mich dahin, und nichts als Strick, Dolch oder Abgrund bleibt mir zur Rettung übrig!‹
Endlich ward die Alte böse und befahl ihr ganz ernstlich, zu sagen, welch neues Unglück sie denn beweine und was ihren Jammer wieder so lebhaft aus dem Schlummer erwecke?
›Ei, wollt Ihr denn mit aller Gewalt durch Euer übermäßiges Gehärme meine Herren um Euer ansehnliches Lösegeld bringen?‹ sprach sie. ›Wo Ihr nicht gleich Euch zufrieden gebt, so werden wir uns viel um Eure Tränen scheren (die rühren Straßenräuber so niemals!) und werden Euch bei lebendigem Leibe verbrennen!‹
Diese Drohung jagte dem Mädchen großen Schreck ein. Sie küßte dem alten Tiere mit Inbrunst die Hände und sprach in der äußersten Bewegung:
›Mütterchen, liebes Mütterchen, schonet mein! Tragt aus Menschlichkeit Erbarmen mit meinem harten Schicksal, denn das graue Alter, das Euch ehrwürdig macht, wird ja nicht in Eurer Brust alles Mitleid erstickt haben. Seht nun hier das Gemälde meines unaussprechlichen Elends!
Ein Jüngling, schön von Gestalt, der Vornehmste seiner Stadt, den jedermann wie sein eigen Kind liebt, mein leiblicher Vetter, nur etwa drei Jahr älter als ich, mit mir erzogen, mit mir von Kindesgebein an in solcher Vertraulichkeit und unschuldigen gegenseitigen Liebe aufgewachsen, daß wir fast beständig nur ein Haus, eine Kammer, ein Bett selbander gehabt, mir seit geraumer Zeit ehelich verlobt – dieser wird nun endlich nach errichteter Ehestiftung von unsern beiderseitigen Eltern einstimmig zur Hochzeitsfeier aufgefordert und geht mit zahlreichem Gefolge naher Anverwandter in allen Kapellen und Tempeln der Stadt umher, den Göttern Freuden- und[100] Dankopfer zu bringen. Das ganze Haus ist mit Blumen und Lorbeeren ausgeschmückt, die Hochzeitsfackeln glänzen. Der Hymenäus erschallt. Meine unglückliche Mutter, mich in ihrem Schoß haltend, legt mir freudig den Brautputz an, umarmt mich mit herzlicher Zärtlichkeit und verstärkt meine nahe Hoffnung künftiger Kinder durch die wärmsten eifrigsten Wünsche.
Siehe, indem so fällt plötzlich eine Räuberbande ein. Alles gewinnt das Ansehen des Krieges, Waffen klirren, gezückte Schwerter blitzen. Indessen niemand raubt, niemand mordet. In geschlossenem Zuge dringen die Räuber unaufhaltsam bis in unser Gemach vor, und da – ohne daß ein einziger unserer Leute sich widersetzt, ohne daß einer auch nur einen Augenblick Widerstand tut – entreißen sie mich Arme, ohnmächtig vor übermäßigem Schrecken, aus den Armen, rauben sie mich aus dem Schoße meiner teuren, zitternden und zagenden Mutter, und zerstört und zernichtet ist meine Hochzeit wie vormals die Hochzeit der Tochter des Athrax mit dem Pirithous!
Jetzt nun, erneuert, häuft mein Unglück noch ein entsetzlicher Traum. Ich träumte: ich sähe mich mit Gewalt aus dem Hause, aus der Brautkammer, ja selbst aus dem Brautbette hinweg durch abgelegene Einöden schleppen. Ich rief den Namen meines unglücklichen Bräutigams. Bald, so erblickt' ich ihn selbst. Sowie er mich nur vermißt, hatte er, triefend von Salben und mit Kränzen geschmückt, wie er war, mir, die ich ihn so wider meinen Willen floh, auf der Spur nachgesetzt. Mit lautem Geschrei klagt er die Entführung seiner Braut, fleht alle Leute um Hilfe an. Da raffte endlich einer von den Räubern, aus Verdruß über sein ungestümes Verfolgen, einen großen Stein auf, der ihm vor den Füßen lag, und warf damit den armen Jungen, meines Herzens Geliebten, meinen Bräutigam, tot zur Erde nieder. Über diesen entsetzlichen Anblick[101] erschrak ich so sehr, daß ich außer mir aus dem Schlafe auffuhr.‹
Die Alte seufzte zu den Tränen des Mädchens und hub darauf an:
›Seid getrost, gutes Kind, und laßt Euch nicht durch eitle Träumereien in Schrecken setzen. Denn Traumgesichter bei Tage werden ja allgemein für falsch gehalten, und die nächtlichen Träume bedeuten noch dazu oft das Gegenteil von dem, was sie verkündigen. Wer da träumt zum Beispiel, er weine, bekomme Schläge, werde erwürgt, dem steht zuweilen just ein großer Gewinn oder sonst ein Glück bevor. Hingegen Lachen, Schmausen, Genuß der Liebe und dergleichen deuten meistenteils nur Betrübnis, Krankheit und Verlust von allerlei Art an. Ich will Euch lieber durch kurzweilige Märchen und Erzählungen zu zerstreuen suchen!‹
Sie begann sogleich:
›In einem gewissen Lande lebten einst ein König und eine Königin, welche drei Töchter hatten. Reiz und Anmut schmückten die beiden ältesten in sehr hohem Grade. Doch verschwanden beide wie im Schatten neben dem strahlenden Glanze ihrer jüngern Schwester.
Die Natur schien an dieser all ihren Reichtum erschöpft zu haben, ihre Schönheit war weit über das Menschliche, kein Lob konnte sie erreichen; ja, jede Sprache war zu arm, sie nur zu beschreiben.
Auch zogen Eingeborene sowohl als Fremdlinge, durch den Ruf von dieser Wunderschönheit neugierig gemacht, in Menge dahin. Alle wurden so vor Bewunderung darüber außer sich,[102] daß sie die Prinzessin, nicht anders als ob sie die Göttin Venus selbst wäre, in aller Förmlichkeit anbeteten.
Hierdurch entstand in allen umliegenden Städten und Ländern die Sage: Die Göttin, welche aus des Meeres blauer Tiefe geboren und von dem Taue schäumender Wellen ernährt worden, verstatte jetzt ihrer Gottheit Anblick und wandle sichtbarlich in den Versammlungen des Volks einher; oder es habe gar durch einen neuen Einfluß der himmlischen Gestirne jetzt die Erde, wie ehemals das Meer, eine neue jungfräuliche Venus hervorgebracht.
Dieses Gerücht verbreitete sich mit jedem Tage weiter und weiter. In kurzem war es in den entferntesten Inseln und Landen erschollen.
Nun kamen von nahe und von ferne, über Berge und über Täler und über die Schlünde des Meeres unzählige Scharen, diese glorreiche Seltenheit ihres Jahrhunderts zu schauen. Niemand schiffte mehr nach Paphos zur Göttin Venus, niemand nach Knidos, noch selbst nach Cythera. Die Heiligtümer der Göttin werden vernachlässigt, die Tempel verfallen, ihre Kissen werden mit Füßen getreten, unbekränzt stehen ihre Bildsäulen, und die verwaisten Altäre sind mit kalter Asche bedeckt. Jedermann betet zur Prinzessin. In ihr wird jene große Gottheit verehrt. Des Morgens bei ihrem Erscheinen dampften der Sterblichen Opfer, um der abwesenden Göttin Gunst zu erhalten. Man feiert ihr Fest. Wandelt sie auf den Straßen, so begleitet sie in Gepränge das Volk, wirft sie mit Sträußen und Kränzen und streuet ihr Blumen.
So unmäßig ward die Ehre der Himmlischen einem sterblichen Mädchen zugewandt. Venus Aphrodite entbrannte darüber in Zorn. Im bittersten Unwillen schüttelte sie das Haupt und sprach bei sich selbst: »Wie, ich, der Natur erste Mutter, der[103] Elemente Urheberin, des ganzen Alls ewige Erhalterin, ich soll mit einer Sterblichen die Ehre der Anbetung teilen? Mein himmlischreiner Name soll an irdischer Niedrigkeit entweiht werden? Wie? Ein Kind des Todes soll gemeinschaftliche Opfer mit mir haben? soll mich der Ungewißheit fernerer Verehrung bloßstellen? soll mein Bild auf Erden sein? Mein Bild? So hätte ja Paris, dessen Treue und Gerechtigkeitsliebe der große Jupiter selbst billigte, mir vergebens den Preis der Schönheit vor so großen Göttinnen zuerkannt? Nein! Wer sie auch sei, sie soll sich wahrlich lange der angemaßten Ehre nicht freuen! Soll nur zu bald selbst diese ihre freventliche Schönheit verfluchen!«‹
Und sogleich rief sie ihren Sohn, den geflügelten, kühnen Knaben, der mutwillig und frech aller Zucht spottet; des Nachts in den Wohnungen der Sterblichen umherschweift, die Eheleute verführt, die größten Ruchlosigkeiten ungestraft ausübt und überall nichts als Unheil stiftet.
Diesen, von Natur schon zur Bosheit geneigt, reizt sie nun durch Worte noch mehr an. Sie führt ihn in die Stadt, wo Psyche, denn so heißt die Prinzessin, sich aufhält: zeigt sie ihm, erzählt ihm die ganze Geschichte von Psychens Wetteifer mit ihr um den Vorzug der Schönheit, ruft endlich seufzend und mit dem Ausdrucke des allerheftigsten Unwillens:
›Bei dem Bande der mütterlichen Liebe, das mich mit Dir vereint, mein Sohn, bei Deiner Pfeile süßen Wunden, bei der seligen Glut, welche deine Fackel entzündet – beschwöre ich, flehe ich Dich an: Verleihe Deiner Mutter Rache, volle, überschwengliche Rache, züchtige diese freche Schönheit andern zur Scheu! Besonders aber erfülle mir dies Einzige, dies vor allem anderen Wichtigste: Verwunde das Mädchen mit der allerheftigsten Liebe zu dem niedrigsten der Menschen, dem das Schicksal[104] Ehre, Gut und Gesundheit geraubt hat; ja, der so verworfen ist, daß er auf dem ganzen weiten Erdboden nicht seinesgleichen an Elend finden mag!‹
Nachdem sie so geredet, umarmt sie den Sohn lange und innigst mit süßen Küssen, begibt sich nach dem nahen Gestade des Meeres und schwebt mit rosigen Füßen über den obersten Schaum gekräuselter Wellen dahin.
Sie hatte kaum die Höhe des tiefen Meeres erreicht, siehe, so sind auf ihren bloßen Wunsch, als auf einen längst vorhergegebenen Befehl, alle Meergottheiten dienstwillig um sie her versammelt. Da sind des Nereus Töchter und singen im Chor, da ist Portunus mit langem, blauen Barte, und Salacia, den Schoß von Fischen schwer, und der kleine Delphinenritter Palämon. Der Tritonen Scharen durchschneiden hin und wieder des Meeres glänzende Fläche; einer bläst lieblich auf der tönenden Muschel, ein anderer schützt mit seidenem Schirme vor der Hitze der feindseligen Sonne, dieser trägt der Göttin einen Spiegel vor, noch andere unterstützen schwimmend den zweispännigen Wagen. In diesem Aufzuge begibt sich Venus zum Ozean.
Unterdessen gereicht Psychen ihre sich selbstfühlende Schönheit keineswegs zum Glück. Ein jeder staunt sie an. Ein jeder bricht über sie in Lobeserhebungen aus. Allein nicht ein einziger, nicht König, nicht Fürst, noch jemand vom Volke begehrt ihrer und wirbt um sie. Man bewundert sie, und das ist alles. Man bewundert sie gleich einer Bildsäule von Meisterhand. Ihre beiden älteren Schwestern hingegen, deren mäßige Schönheit kein Ruf fernen Völkern gepriesen hatte, waren früh an königliche Freier verlobt und genossen jetzt schon das Los glücklicher Ehen.
Allein in ihres Vaters Hause zurückgeblieben, ohne Hoffnung, jemals die seligen Freuden der Liebe zu genießen, weint[105] die unglückliche Psyche ihre leeren Tage hin. Sie dünkt sich in einer öden Wüste verlassen, wird krank an Körper, krank an Seele; ihre Schönheit, welche die Bewunderung ganzer Nationen ausmacht, ist ihr selbst ein Greuel.
Ihr Vater betrübt sich darüber nicht weniger als sie selbst. Er glaubt endlich, irgendeine zürnende Gottheit müsse ihren Haß auf seine Tochter geworfen haben. Daher befragt er das uralte Orakel des milesischen Gottes. Er denkt, vielleicht durch Flehen und Opfer von dieser mächtigen Gottheit für seine verschmähte Tochter einen Gemahl zu erhalten. Allein Apoll antwortete ihm:
›Stelle die Tochter, zur Hochzeit wie zur Leiche geschmücket,
Auf des erhabensten Berges felsigen Gipfel dahin.
Ihr ist von sterblichem Stamm kein Ehegenosse bestimmet,
Sondern ein Ungeheuer, falsch, grausam wie Otterngezücht;
Hoch erhebt sichs auf Schwingen, noch über den Äther; allmächtig
Waltet's mit Feuer und Stahl über die zitternde Welt.
Jupiter scheuet es selbst, den alle Götter doch fürchten.
Ja, der rächende Styx scheut es und bebet davor.‹
Wie schmerzlich traf dieser heilige Ausspruch die Seele des Königs! Sein ehemaliges Glück scheint ihm jetzt ein Traum. Langsam und traurig geht er nach Hause zurück und eröffnet seiner Gemahlin den schrecklichen Befehl des Gottes. Da ist Jammer! Tränen und Wehklagen nehmen kein Ende viele Tage lang.
Schon nahet die schreckliche Erfüllung des Orakels heran, wie zum Begräbnis werden die Anstalten zur Hochzeit der unglücklichen Prinzessin gemacht. Düster brennen die angezündeten Brautfackeln. Die hochzeitliche Flöte seufzt nur klagende,[106] lydische Töne. Dumpf schallt der sonst so fröhliche Hymenäus, schließt traurig wie ein Sterbelied. Und mit Tränen der Verzweiflung netzt die Braut den geweihten Schleier.
Das Mißgeschick des königlichen Hauses rührt die ganze Stadt zum Mitleiden; die Trauer ist allgemein, Geschäfte, Gericht, alles unterbleibt.
Aber die Notwendigkeit, dem göttlichen Befehle zu gehorchen, rief die unglückliche Psyche zu dem bestimmten Ort. Sobald in tiefster Betrübnis alle nötigen Zurüstungen zur traurigen Hochzeitsfeier gemacht sind, so beginnt der Zug in Begleitung des ganzen Volkes.
Psyche schwimmt in Tränen, ihre Brust bebt von Schluchzen und Seufzen; sie geht zum Leichenbegängnis, nicht zur Hochzeit. Ihren Eltern bricht das Herz; sie zögern so viel sie nur können, so abscheulichen Greuel zu verüben.
Der unaussprechliche Schmerz des Vaters und der Mutter macht endlich die Tochter ihres eigenen Schmerzes vergessen, sie spricht ihnen mit diesen Worten Mut ein:
›Quält doch nicht durch so stetes Jammern Eure alten Tage, Vater! Mutter! Verkürzt nicht so Euer teures Leben, das ich gern durch das meine noch verlängerte! Was helfen diese ohnmächtigen Tränen, die Euer ehrwürdiges Angesicht entstellen? – Haltet ein! Haltet ein! O tut meinen Augen nicht weh durch Verletzung der Eurigen, schonet doch Eures grauen Haares, schonet Eurer mir heiligen Brust; andern Lohn konntet Ihr[107] Euch ja für meine große Schönheit nicht versprechen! Spät genug fühlt Ihr jetzt erst des leidigen Neides tödliche Wunde. Als uns das Volk und fremde Nationen göttliche Ehre erwiesen und einhellig mich die neue Venus nannten, da hättet Ihr klagen, da weinen, da mich schon als tot betrauern sollen; denn ich fühl' es, ich seh' es, dieser Name ist allein mein Unglück. Jetzt führt mich getrost fort. Stellt mich auf den angedeuteten Felsen hin, ich eile der glücklichen Vermählung entgegen, zu der ich bestimmt bin. Ich eile, meinen edlen Gemahl kennen zu lernen. Denn wozu soll ich noch lange zögern? Wie soll ich dem entfliehen wollen, der zum Untergange der ganzen Welt geboren ist?‹
So sprach sie zu ihren Eltern und mischt sich nun mit gesetztem Tritt unter die Menge des begleitenden Volks.
Der Zug geht zum angewiesenen Berge fort, man langt bei ihm an, führt die arme Psyche auf den obersten Gipfel desselben und läßt sie da allein. Bei ihr bleiben die Brautfackeln, mit denen war vorgeleuchtet worden, aber verlöscht von Tränen, denn jeder schied nur mit strömenden Tränen von dannen.
Auf dem Rückzuge hört man keinen Laut. Ein jeglicher geht stillschweigend, in Gedanken vertieft, das Haupt zur Erde geneigt. Vater und Mutter sind ganz in Jammer niedergebeugt, sie verschließen sich im Innersten ihres Palastes, und trauriges Dunkel umhüllt ihre Tage. Mittlerweile stand Psyche oben auf dem Gipfel des Felsens, ganz allein, in der bangsten Erwartung. Sie zittert, sie bebt und weint bitterlich; auf einmal aber fühlt sie sich sanft überm Boden schweben.
Ein Zephyr hob unvermerkt sie empor; er schwellte mit lindem Hauche den Busen ihres Gewandes – rauschend flatterte der Saum umher – und so trug er sie ruhig in den Abgrund des darunter liegenden Tales und legte sie sanft in den blumigen Schoß eines weichen Rasens nieder.
Ausgewählte Ausgaben von
Der goldene Esel
|
Buchempfehlung
Nach dem Vorbild von Abraham von Franckenberg und Daniel Czepko schreibt Angelus Silesius seine berühmten Epigramme, die er unter dem Titel »Cherubinischer Wandersmann« zusammenfasst und 1657 veröffentlicht. Das Unsagbare, den mystischen Weg zu Gott, in Worte zu fassen, ist das Anliegen seiner antithetisch pointierten Alexandriner Dichtung. »Ich bin so groß als Gott, er ist als ich so klein. Er kann nicht über mich, ich unter ihm nicht sein.«
242 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro