Einleitung von Hermann Conradi.
»Die Geister erwachen.«
Hutten.
»Unser Credo!«
Wir wissen, das dieser Titel etwas kühn und stolz klingt. Es werden mit der Zeit sogar genug Stimmen laut werden, die ihn anmaßend schelten, womöglich noch härtere Ausdrücke dafür haben. Man wird uns in allen Farben und Tönen, die ganze prismatische Farbenkarte, die ganze Tonscala hinauf und hinunter, »heimleuchten« und uns unsere Unbescheidenheit, unsere Vermessenheit parlamentarisch und – unparlamentarisch ad oculos demonstriren.
Ob wir aber zerknirscht sein werden?
Ob wir büßen werden in Sack und Asche?
Ich glaube kaum.
Warum auch?
Wir wissen ganz genau, was wir in dieser Anthologie ausgeben.
Wir sind uns, um diesen Punkt hier gleich zu erwähnen, ihrer Schwächen vollkommen bewußt.
Wir machen nicht den Anspruch, Vollkommenes, Makelloses nach Form und Inhalt zu bieten.
Wir begreifen vollkommen, das manches Poem, das wir aufgenommen, nicht originell ist; daß es in tausendmal angestimmte Weisen einfällt; daß es, absolut genommen, vielleicht nicht einmal werthvoll ist.
Und doch erheben wir den Anspruch, endlich die Anthologie geschaffen zu haben, mit der vielleicht wieder eine neue Lyrik anhebt; durch die vielleicht wieder weitere Kreise, die der Kunst untreu geworden, zurückgewonnen und zu neuer, glühaufflammender Begeisterung entzündet werden; und durch die alle die Sänger und Bildner zu uns geführt werden, um mit uns zu Schöpfern einer neuen Lyrik zu werden, die bisher abseits stehen mußten, weil sie kein Organ gefunden, durch das sie zu ihrem Volke in neuen, freien, ungehörten Weisen reden durften, weil nur das Alte, Conventionelle, Bedingte, Unschuldige oder das Frivole, Gemeine, Schmutzige – nie aber das Intime,[1] das Wahre, das Natürliche, das Ursprüngliche, das Große und Begeisternde, offene Ohren und gläubige Herzen findet.
Wir brechen mit den alten, überlieferten Motiven. Wir werfen die abgenutzten Schablonen von uns. Wir singen nicht für die Salons, das Badezimmer, die Spinnstube – wir singen frei und offen, wie es uns um's Herz ist: für den Fürsten im geschmeidefunkelnden Thronsaal wie für den Bettler, der am Wegstein hockt und mit blöden, erloschenen Augen in das verdämmernde Abendroth starrt ...
Das ist es ja eben: Wir haben wohl eine Cliquen-, eine Parteilitteratur, aber keine Litteratur, die aus germanischem Wesen herausgeboren, in sich stark und daseinskräftig genug wäre, um für alle Durstigen, mögen sie nun Söhne des Tages oder der Nacht sein, Stätte und Zehrung zu haben. Wir sind eigentlich recht arm. Was sollen wir's uns verhehlen? Scheinbar zeitigt unsere Litteratur fortwährend die edelsten Früchte – wieder und wieder neue Triebe, neue Blüthen, neue Erzeugnisse: aber ist nur der dritte Theil von dem, was – und noch dazu in unabsehbaren Massen! – unsere Poeten schaffen und bilden, auch existenzberechtigt? – Existenzberechtigt, weil es lebenswahr, weil es national, weil es auch wirklich Künstlerwerk ist und nicht fein und sauber polirtes, zierlich gedrechseltes und gefeiltes und bei aller Peinlichkeit doch roh und geistlos gebliebenes Stümperwerk – gleißende, aber in sich morsche und haltlose Fabrikarbeit?
Das ist es ja eben: Unsere Litteratur ist überreich an Romanen, Epen, Dramen – an sauber gegossener, feingeistiger, eleganter, geistreicher Lyrik – – aber sie hat mit wenigen Ausnahmen nichts Großes, Hinreißendes, Imposantes, Majestätisches, nichts Göttliches, das doch zugleich die Spuren reinster, intimster Menschlichkeit an sich trüge! Sie hat nichts Titanisches, nichts Geniales.
Sie zeigt den Menschen nicht mehr in seiner confliktgeschwängerten Gegenstellung zur Natur, zum Fatum, zum Ueberirdischen. Alles philosophisch Problematische geht ihr ab. Aber auch alles hartkantig Sociale. Alles Urewige und doch zeitlich Moderne. Unsere Lyrik spielt, tändelt. Wie gesagt: mit wenigen Ausnahmen. Zu diesen rechne ich u.A. Dranmor, Lingg, Grosse, Schack, Hamerling. Vor allen Dranmor. Er ist eigentlich der Einzige, der in seinen Dichtungen einen prophetischen, einen confessionellen Klang anschlägt. Bei ihm fließt jede Strophe aus einer ernsten, tiefen, gewaltigen, vulkanischen Dichternatur. Aus ihm spricht ein großartig erhabener Dichtergeist. Dranmor darf mit seiner hinreißenden Intimität, seiner macht-[2] vollen Bildnerkraft, seiner lebendigen Künstlerwahrheit, seiner freien, kosmopolitisch-germanischen Weltanschauung, uns jüngeren Stürmern und Drängern, die wir alles epigonenhafte Schablonenthum über den Haufen werfen wollen, weil in uns ein neuer Geist lebt, wohl Meister und Führer sein.
Aber wir brauchen nicht blindlings seiner Spur zu folgen. Der Geist, der uns treibt zu singen und zu sagen, darf sich sein eigen Bett graben. Denn er ist der Geist wiedererwachter Nationalität. Er ist germanischen Wesens, das all fremden Flitters und Tandes nicht bedarf. Er ist so reich, so tief, so tongewaltig, daß auf unserer Laute alle Weisen anklingen können, wenn er in seiner Unergründlichkeit und Ursprünglichkeit uns ganz beherrscht. Dann werden wir endlich aufhören, lose, leichte, leichtsinnige Schelmenlieder und unwahre Spielmannsweisen zum Besten zu geben – dann wird jener selig-unselige, menschlich-göttliche, gewaltige faustische Drang wieder über uns kommen, der uns all den nichtigen Plunder vergessen läßt; der uns wieder sehgewaltig, welt- und menschengläubig macht; der uns das lustige Faschingskleid vom Leibe reißt und dafür den Flügelmantel der Poeten, des wahren und großen, des allsehenden und allmächtigen Künstlers, um die Glieder schmiegt – den Mantel, der uns aufwärts trägt auf die Bergzinnen, wo das Licht und die Freiheit wohnen, und hinab in die Abgründe, wo die Armen und Heimathlosen kargend und duldend hausen, um sie zu trösten und Balsam auf ihre bluttriefenden Wunden zu legen. Dann werden die Dichter ihrer wahren Mission sich wieder bewußt werden. Hüter und Heger, Führer und Tröster, Pfadfinder und Weggeleiter, Aerzte und Priester der Menschen zu sein. Und vor Allen die, denen ein echtes Lied von der Lippe springt – ein Lied, das in die Herzen einschlägt und zündet; das die Schläfer weckt, die Müden stärkt; die Frevler schreckt, die Schwelger und Wüstlinge von ihren Pfühlen wirft – brandmarkt oder wiedergeboren werden läßt! Vor Allen also die Lyriker!
In dieser Anthologie eint sich ein solcher Stamm von Lyrikern, die sich das Gelübde auferlegt, stets nur dieser höheren, edleren, tieferen Auffassung ihrer Kunst huldigen zu wollen.
Keiner legt sich damit eine Widernatürlichkeit auf – zieht damit ein Moment in sein Schaffen, das seiner Individualität fremd wäre. Schrankenlose, unbedingte Ausbildung ihrer künstlerischen Individualität ist ja die Lebensparole dieser Rebellen und Neuerer. Damit stellen sie sich von vornherein zu gewissen Hauptströmungen des modernen sozialen Lebens in Contrast. Und doch steht der Dichter auch wieder, eben kraft seines Künstler-[3] thums, über den Dingen – über Sonderinteressen und Parteibestrebungen und repräsentirt somit nur das reine, unverfälschte, weder durch raffinirte Uebercultur noch durch paradiesische Culturlosigkeit beeinflußte Menschenthum.
Gleich stark und gleich wahr lebt in Allen, die sich zu diesem Kreise zusammengefunden, das grandiose Protestgefühl gegen Unnatur und Charakterlosigkeit; gegen Ungerechtigkeit und Feigheit, die auf allen Gassen und Märkten gepflegt wird; gegen Heuchelei und Obscurantismus; gegen Dilettantismus in Kunst und Leben; gegen den brutalen Egoismus und erbärmlichen Particularismus, die nirgends ein großes, starkes Gemeingefühl, ein lebendiges Einigkeitsbewußtsein aufkommen lassen!
In mannigfachen Tönen und Farben, bald leiser, bald lauter, bald milder, bald greller, erhebt die Phalanx diese Anklagen. Sie verschleiert und verwässert sie nicht – sie ist sogar so kühn, sie offen und deutlich in ihrem »Credo« anzudeuten. Ich sage bewußt: anzudeuten.
Denn das »Credo« soll nicht nur diese Seite der dichterischen Individualitäten bezeichnen – es soll den Modus charakterisiren, in dem die neue Richtung sich ausgiebt: Sie will mit der Wucht, mit der Kraft, mit der Eigenheit und Ursprünglichkeit ihrer Persönlichkeiten eintreten und wirken; sie will sich geben, wie sie leben will: wahr und groß, intim und confessionell. Sie protestirt damit gegen die verblaßten, farblosen, alltäglichen Schablonennaturen, die keinen Funken eigenen Geistes haben und damit kein reiches und wahrhaft verinnerlichtes Seelenleben führen. Sie will die Zeit der »großen Seelen und tiefen Gefühle« wieder begründen.
Darum hat diese neue Anthologie nicht nur einen litterarischen – sie hat einen culturellen Werth!
Und darum ist sie in sich und durch sich lebenskräftig, mögen ihr auch verschiedene Schwächen anhaften, die später getilgt werden können.
Charles Bandelaire sagt; »Tout homme bien portant peut se passer de manger pendant deux jours; de poésie – jamais!«
Ist unsere Lyrik wieder wahr, groß, starkgeistig, gewaltig geworden, dann werden die Gesunden und Kranken wieder zu ihren Quellen pilgern.
Dann wird Bandelaire's »de poésie jamais!« zur lauteren Wahrheit werden! – »Groß ist die Wahrheit und übergewaltig.«
Wir siegen, wenn wir dieses Wort nicht vergessen.
Und wir werden es nicht vergessen!
Berlin, November 1884.
Hermann Conradi.
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