Achtunddreissigster Gesang

[187] 1.

Die ihr mir freundlich lauschet, wenn ich singe,

Ich seh's euch, güt'ge Fraun, an Augen an:

Daß Roger sich aufs neu der Braut entringe,

Nicht euer Wohlgefallen finden kann.

Voll Mißvergnügen hört ihr diese Dinge,

An Bradamantes reicht es fast heran.

Ihr meint, die Sache sei nicht recht geheuer,

Und nicht sehr groß des Helden Liebesfeuer.


2.

Wär' er aus einem andern Grund gegangen,

Entgegen auch dem Wunsch von Bradamant,

Und sei's, um größre Schätze zu erlangen,

Als man bei Krösus oder Krassus fand,

So sagt' ich selbst: nicht in die Tiefe drangen

Amors Geschosse, für sein Herz entsandt.

Denn solch Entzücken, solche hohe Wonne

Erkauft nicht alles Gold im Licht der Sonne.


3.

Galt es jedoch die Rettung seiner Ehre,

Verdient er – nicht Entschuldigung, nein, Preis;

Rettung, sag' ich, denn große Schande, schwere,

Bedroht ihn andernfalles laut und leis.

Und wenn das Fräulein eigensinnig wäre

Und hielt' ihn fest in ihrem engen Kreis,

Wär' es ein Zeugnis, das sie selbst sich schriebe,

Von wenig Urteil oder wenig Liebe.
[188]

4.

Dem Liebenden muß des Geliebten Leben

Lieb wie das eigne, ja noch teurer sein

(Den mein' ich, den der Pfeilschuß Amors eben

Noch tiefer traf als bloß ins Kleid hinein) –

Doch mehr gilt, seine Ehre hochzuheben,

Denn alle Lust ist vor der Ehre klein;

Die Ehre muß noch übers Leben gehen,

Mag dies sonst hoch ob allen Freuden stehen.


5.

Sich dem Gebieter jetzt nicht zu versagen,

War Rogers Pflicht; wenn er sich der entwand,

So hätt' er eitel Schmach davongetragen,

Weil sich kein Grund, ihn zu verlassen, fand.

Hatt' Almont auch den Vater ihm erschlagen,

Trug keine Schuld daran Herr Agramant:

Oft hatt' er sich bemüht, durch tausend Sachen,

Die Fehler der Verwandten gutzumachen;


6.

's ist seine Pflicht, zu seinem Herrn zu stehen,

Er folgt ihr, und auch sie tut ihre Pflicht.

Sie könnt' ihn zwingen durch erneutes Flehen,

Dennoch zu bleiben, und sie tut es nicht.

Der Liebenden kann wohl ihr Recht geschehen

Ein andermal, wenn's jetzt daran gebricht.

Doch hast du einmal dich der Ehr' entzogen,

Wird's nicht in hundert Jahren aufgewogen.


7.

Er ging nach Arles zurück, wo Agramante

Zusammenzog den Rest von seiner Schar.

Marfisa ritt, und mit ihr Bradamante,

In Freundschaft ihr verbunden ganz und gar,

Hin, wo der Kaiser große Müh' verwandte,

Die Macht zu zeigen, die zur Hand ihm war,

Voll Hoffnung, daß Belagrung oder Schlachten

Jetzt Frankreich seiner Geißel ledig machten.
[189]

8.

Die Heldin kam, und voller Freude waren

Die Krieger, als sie durch die Gassen ritt.

Willkommen bietend, grüßt man sie in Scharen;

Sie neigt zum Dank das Haupt auf Schritt und Tritt.

Rinald, der von der Ankunft auch erfahren,

Geht ihr entgegen, Richardet kommt mit,

Richard und die dem gleichen Blut entstammen,

Die grüßen sie gar fröhlich allzusammen.


9.

Und als es heißt, daß sich bei ihr befinde

Marfisa, die berühmte Kriegerin,

Der alle Welt die Siegeskränze winde

Von China bis zu Spaniens Grenzen hin –

Herbei kommt hoch und niedrig gar geschwinde,

Und niemand bleibt mehr in den Zelten drin:

Man stolpert, drängt und stößt, um an der beiden

Heldinnen Anblick staunend sich zu weiden.


10.

Sie gehn, um Ehrfurcht Kaiser Karl zu zollen.

Marfisa hatte nie, so schreibt Turpin,

Vorher die stolzen Kniee beugen wollen.

Kein andrer als der Sprosse des Pipin,

Wie laut auch immer Ruhmeslieder schollen,

Deucht ihr der Ehre wert; so herrlich schien

Karl vor den Herrschern, die in Heidenlanden

Und bei den Christenvölkern rings sich fanden.


11.

Karl grüßte sie mit Huld und Freundlichkeiten

Und kam ihr gar entgegen aus dem Zelt –

Hieß sie sich setzen dicht an seiner Seiten;

Zurückstand jeder König, Fürst und Held.

Gehn mußte, wer von selbst nicht ging beizeiten,

So daß allein die Zierde blieb der Welt

Mit seinen Paladinen ohnegleichen:

Die aus dem Volke mußten alle weichen.
[190]

12.

Voll Wohlklang tönten jetzt Marfisas Worte:

»Erhabner Cäsar, dessen starke Hand

Vom Indermeer bis zu des Westens Porte,

Von Skythiens Schnee zu Libyens Sonnenbrand

Dein Kreuz hell leuchten läßt an jedem Orte

(Gerechtern, weisern Herrscher kennt kein Land),

Dein Ruhm – und keine Schranke kann ihn fassen –

Hat mich aus fernster Weite kommen lassen.


13.

Bekriegen wollt' ich dich – Wahrheit verschweigen

Sei ferne –, Neid bloß führte mich daher,

So mächt'gem König wollt' ich nicht mich neigen,

Der andern Glaubens, ob auch hoch und hehr.

Springbrunnen Christenblutes ließ ich steigen

Und hätte wohl, dir schadend lang und schwer,

Als deine Feindin fürder noch gehandelt,

Wäre durch eins mein Sinn nicht umgewandelt.


14.

Ich sann dir Schlimmres grad, da hört' ich sagen

(Wie, meld' ich später), daß mein Vater sei

Roger von Risa, den so schnöd erschlagen

Des Bruders schändliche Verräterei.

Im Leib der Mutter übers Meer getragen,

Sah ich das Licht in Nöten mancherlei.

Ein Zaubrer hat mich sieben Jahr erhalten,

Bis mich ein Arberhauf entriß dem Alten


15.

Und einem Perserfürst als Sklavin brachte. –

Herangewachsen, schlug ich diesen tot,

Weil er die Ehre mir zu nehmen dachte;

Den schlechten Stamm verjagt' ich ohne Not

(Nachdem ich erst den Hoftroß niedermachte),

Bestieg den Thron, und – wie das Los es bot –

Mit achtzehn Jahren durch des Schwertes Streiche

Hatt' ich erfochten sieben Königreiche.
[191]

16.

Dir mußt' ich, wie gesagt, den Namen neiden,

Und so beschloß ich denn in meinem Mut,

Den allzugroßen Ruhm dir zu beschneiden;

Vielleicht gelang es schlecht, vielleicht auch gut.

Doch dieser Wunsch muß Abbruch jetzt erleiden,

Und sinken muß die Schwinge meiner Wut;

Denn unterwegs hab' ich herausgefunden:

Wir beide sind durch Schwiegerschaft verbunden.


17.

Mein Vater war dir treu als Knecht und Vetter;

Ich will dir treu als Magd und Muhme sein,

Und jenes neid'schen Hasses Sturmeswetter

Verzieh' sich in Vergessenheit hinein.

Herr Agramant sei's, den mein Haß zerschmetter'

Und, wer da nur verwandt, ob groß, ob klein,

Dem Ohm und Vater, die zu solchem Leide

Mir mordeten die lieben Eltern beide.«


18.

Sie werde Christin auch in jedem Falle,

Sprach sie, nach Untergang des Agramant,

Und wolle gehen, wenn es Karl gefalle,

Ihr Volk zu taufen dort in ihrem Land;

Sie kämpfe jetzt als Feindin gegen alle,

Die Mahom ehren oder Trivigant,

Und sie verspreche, nie sich zu bedenken,

Was sie gewinne, Christi Reich zu schenken.


19.

Der Kaiser, so beredt wie groß und weise

Und unvergleichlich kühn im Waffenstreit,

Erhebt die edle Maid mit hohem Preise,

Den Vater und des Stammes Trefflichkeit,

Und (Wahrheit gibt sich kund in jeder Weise,

Durch Mien' und Blick) gibt gütig ihr Bescheid.

Er schloß, indem er sie als Anverwandte

Aufnahm und sie als Tochter anerkannte.
[192]

20.

Dann steht er auf und küßt sie auf die Wangen,

So wie ein Vater küßt sein Töchterlein.

Nun kommen alle frohen Blicks gegangen,

Ganz Clermont und Mongrana stellt sich ein.

Was ihr zur Ehr' Rinald hat angefangen,

Muß, weil die Zeit fehlt, hier verschwiegen sein

(Er sah sie oft im Kampfe ja beim Ringen

Dort um Albrakka Wunder schier vollbringen);


21.

Verschwiegen auch, wie aus den Ritterscharen

Der junge Guido grüßte lieb und nett

Und, die zur Weiberstadt mit ihr gefahren,

Grifon und Aquilant und Samsonet,

Und die beim Untergang der Mainzer waren,

Vivian und Malegis und Richardet;

Gegen das Krämervolk aus Spaniens Landen

Hatte sie ihnen treulich beigestanden.


22.

Am nächsten Tag soll man zur Taufe schreiten,

Und Karl will selbst dafür nach allem sehn:

Festlich geschmückten Platz läßt er bereiten,

Darauf die Handlung mag vonstatten gehn.

Bischöf' und Kleriker von allen Seiten,

Die gut des Glaubens Satzungen verstehn,

Versammelt er: Marfisa wird von diesen

In Christi Lehre sorglich unterwiesen.


23.

Turpin, der Erzbischof, im Festgewande

Des Hohenpriesters, tauft sie; Karl als Pat'

In feierlicher Weis' am Beckenrande

Hebt selbst sie aus dem segenvollen Bad. –

Doch Zeit ist's, daß dem Haupt, dem vom Verstande

Gekommenen, der Flasche Hilfe naht,

Die aus dem untern Himmel ward getragen

Durch Herzog Astolf auf Elias Wagen.
[193]

24.

Vom Lichtkreis nieder kam er mittlerweile

Auf unsrer Erde höchsten Spitzen an

Mit jenem edlen Safte, der zum Heile

Dem großen Schlachtenmeister werden kann.

Ein Kräutlein, dem besondre Kraft zuteile

Geworden sei, zeigt ihm Johannes dann,

Und nach der Rückkehr zu den Nubierreichen

Soll er damit des Königs Augen streichen;


25.

Der gebe dann als Dank ihm Volk zur Seite,

Mit diesem dring' er in Biserta ein;

Wie er die Unerfahrnen all zum Streite

Bewaffnen könn' und ihnen Zucht verleihn

Und ohne Schaden durch die Wüste schreite,

Wo Menschen durch den Sand geblendet sei'n

Was Punkt für Punkt im Auge sei zu halten,

Hört er des heil'gen Greises Wort entfalten.


26.

Das Tier, das Atlas hat zuvor getragen,

Dann Roger, gibt er ihm zurück zur Reis',

Und Astolf muß Valet der Stätte sagen,

Der heiligen, und dem erhabnen Greis.

Den Nil entlang des Rosses Flügel schlagen,

Das bald das Nubierland zu finden weiß:

Es senkt sich aus der Luft zur Hauptstadt nieder

Und bringt den Herzog zum Senapus wieder.


27.

Wie groß ist Freud' und Jubel dieses Alten,

Als er den Ritter sieht zurückgekehrt,

Der – im Gedächtnis hat er's wohl behalten –

Ihm die Harpyienschwärme abgewehrt!

Doch als der zähe Schleim ihm ward gespalten,

Der ihm die Augen also lang beschwert,

Und ihm aufs neu der Sonne Licht geschienen –

Wie einem Gott möcht' er dem Retter dienen.
[194]

28.

Drum hat er ihm nicht nur die Schar gegeben,

Die Astolf für Biserta brauchen kann,

Nein, andre hunderttausend noch daneben,

Und bietet selber sich als Krieger an.

Der Zug (er soll zu Fuße dorthin streben)

War groß, daß er im Feld kaum Platz gewann;

Derweil die Rosse dort im Lande fehlen,

Ist's reich an Elefanten und Kamelen.


29.

Die Nacht, eh noch die Fahnen vorwärtsfliegen,

Die Scharen führend aus dem Nubierheer,

Ist Astolf auf den Hippogryph gestiegen;

Er steuert gegen Süden, eilig sehr,

Bis er zuletzt den Berg sieht unten liegen,

Daraus der Notus losfährt auf den Bär.

Da ist die Höhle; aus dem engen Schlunde

Fährt, wenn erwacht, der Wilde in die Runde.


30.

Und wie der Meister lehrte dort, der weise,

Hatt' er den leeren Schlauch noch mitgebracht.

Den spannt er, während, müd von langer Reise,

Notus im Felsenraum sein Schläfchen macht,

Nun vor den Ausgang recht geschickt und leise.

Der Wind, nie Späher kennend, hat's nicht acht,

Und, als er in der Früh' denkt auszufliegen, –

Im Schlauch, erhascht, gebunden, bleibt er liegen.


31.

Froh kehrte, mit dem Beutefang beladen,

Astolf zurück, und eh der Tag entschwand,

Ging er mit schwarzem Volk auf Kriegespfaden,

Und hinten nachgeschleppt ward Proviant.

Zum Atlas führt das Heer ohn' allen Schaden

Der edle Feldherr durch den feinen Sand:

Sie ziehen sorglos durch der Wüste Mitten

Und haben von dem Wind kein Leid erlitten.
[195]

32.

Diesseit des Bergjochs, wo sich Ebnen strecken

Und man den Strand sieht, da die Meerflut rinnt,

Wählt Astolf sich die Tüchtigsten der Recken,

Die wohl geschult und kühn im Kampfe sind,

Und läßt sie eines Hügels Fuß bedecken,

In Reihn geteilt, wo ebner Plan beginnt.

Dort bleiben sie; er steigt der Höh' entgegen

Gleich einem Mann, der Großes muß erwägen.


33.

Er betet heiß, die Kniee auf der Erde,

Zu seinem heil'gen Meister Sankt Johann.

Gewiß, daß dem Gebet Erfüllung werde,

Rollt er zu Tale Stein um Stein sodann.

(Was tut, wer fromm auf Christ baut, ohne Fährde! –)

Die Steine – seht nur! – wachsen mählich an

Und haben, als sie unten angekommen,

Ganz unnatürlich Bein, Kopf, Hals bekommen.


34.

Nun hüpfen sie mit hellem Wiehern nieder

Der Ebne zu, und angelangt im Tal

Schütteln sie sich und haben Pferdeglieder,

Rotbraun, gefleckt und grau und schwarz und fahl.

Dort gehen Krieger wartend hin und wieder,

Und Rosse greifen alle sonder Wahl.

Auch Zaum und Sattel bringt das Roß dem Streiter:

Und alle Krieger sind nun plötzlich Reiter.


35.

So wußt' aus Fußvolk Reiter schnell zu schaffen

Astolf achttausend, hundert und noch zwei,

Die Afrika nun Agramant entraffen,

Mit Plünderung und Beute mancherlei.

Sein dortgelegnes Land hatt' er den Waffen

Von starken Herrn vertraut: es waren drei,

Branzard und Fersa mit dem Algazieren;

Sie sind's, die gegen Astolf jetzt marschieren.
[196]

36.

Die lassen erst ein rasches Boot enteilen,

Das segelnd sowie rudernd Flügel schlägt,

Dem König Agramante mitzuteilen,

Daß Nubien große Not dem Land erregt.

Das Schiff darf weder Tag noch Nacht verweilen,

Bis sich's bei der Provence vor Anker legt:

Es trifft bei Arles den König halbbezwungen

Und Karl auf eine Meil' herangedrungen.


37.

Der König sah: zu Hause drohn Gefahren,

Derweil er ficht um Lande des Pipin;

Er rief zum Rat die Führer seiner Scharen,

Und jeder Fürst vom Mohrenvolk erschien.

Ein-, zweimal nickt er zu den weißen Haaren

Hier des Marsil und drüben des Sobrin,

Der Ältesten im Rate, klug und weise

Wie keine sonst, und sprach in dieser Weise:


38.

»Schlecht steht's dem Feldherrn an, muß er bekennen:

Ich hab' an dieses, jenes nicht gedacht.

Doch wenn ein Schaden menschlichem Erkennen

Zu fern liegt und Erwägung schwierig macht,

Darf man den Fehler wohl verzeihlich nennen,

Das ist mein Fall: ich ließ es außer acht,

Mein Afrika mit Truppen zu versehen,

Sollt' Angriff von den Nubiern her geschehen.


39.

Wer aber könnte – außer Gott – vermuten

(Dem alle Zukunft offen liegt und klar),

Uns zu bedrängen komm' aus Wüstengluten,

Aus weiter Ferne, solche große Schar,

Von uns durch Sand getrennt, den doch wie Fluten

Der Südwind aufregt jede Stund' fürwahr?

Schon vor Biserta liegt sie mittlerweile,

Hat arg verheert unzähl'ge Landesteile.
[197]

40.

Darüber muß ich euren Rat verlangen:

Schiff' ich mich – ohne Frucht zu pflücken – ein?

Soll ich, bis Karl besiegt sei und gefangen,

Des Kämpfens weiter hier beflissen sein?

Wie kann ich dieses Reiches Sturz erlangen

Und meines retten, beides im Verein?

Weiß einer Rat, den bitt' ich, nicht zu schweigen:

Zu tun das Beste gilt's, erst muß man's zeigen.«


41.

So sprach der Herrscher, und er kehrt die Blicke

Zum Spanierkönig dicht an seiner Seit',

Andeutend, daß für ihn sich Rede schicke,

Das Wort zu nehmen halt' er sich bereit;

Voll Ehrfurcht steht der auf, mit dem Genicke

Und mit den Knien grüßt er zu gleicher Zeit;

Dann nimmt er wieder seinen Platz der Ehren,

Um seinen König also zu belehren:


42.

»Gerüchte, Herrscher, stets zu wachsen pflegen,

Ob man von Gutem, ob von Bösem spricht.

Drum soll mich Bangen nicht zu sehr bewegen

Und gleicherweis zu große Freude nicht,

Bringt man mir böse, gute Kund' entgegen.

In jedem Fall denk' ich mit Zuversicht:

's ist anders, kleiner, was durch viele Zungen

So nach und nach an unser Ohr gedrungen.


43.

Und um so wen'ger soll man Glauben schenken,

Je mehr verletzt wird die Wahrscheinlichkeit.

Läßt als wahrscheinlich nun sich dieses denken:

Mit so viel Leuten sollte von so weit

Ein König her zu uns die Schritte lenken?

Nach Afrika, so stark und kampfbereit?

Durch Sand, dem einst Kambyses aus der Ferne

Sein Heer vertraute, unter bösem Sterne?
[198]

44.

Ich möchte glauben, Arberhaufen drangen

Vom Bergland ein; Gesindel sengt und brennt

Und plündert, tötet oder nimmt gefangen,

Wo man den rechten Widerstand nicht kennt;

Und Branzard wird, der jetzt vielleicht mit Bangen

Statthalter sich und Vizekönig nennt,

Zu einer Tausend jede Zehn gestalten,

Damit man ihn entschuldigt möge halten.


45.

Meintwegen mochten sie vom Himmel fallen,

Die Nubier, im Regen niedergehn,

Oder es mußten Wolken sie umwallen,

Weil sie kein Mensch auf Wegen hat gesehn:

Glaubst du, dein Land fällt in der Räuber Krallen,

Wenn dort nicht größre Heere widerstehn?

Die Krieger steckten, traun, in schlechten Häuten,

Bewiesen sie hier Furcht vor solchen Leuten!


46.

Wenn du nur wenig Schiffe willst entsenden,

Damit sie deine Kriegesfahne schaun,

So werden sie sich schleunig heimwärtswenden,

Bevor gelöst ein paar von unsern Taun.

Die Meinung, daß wir all uns fern befänden,

Durchs Meer verhindert, drüben zuzuhaun,

Hat feigem Nubiervolk den Mut verliehen,

Dein Afrika mit Krieg zu überziehen.


47.

Zur Rache gilt's den Zeitpunkt ausersehen:

Fern weilt der Neffe Karls; solang er weit

Ist von den Scharen, kann dir widerstehen

Kein einz'ger Mann der ganzen Christenheit.

Läßt du dir Sieg – er harret dein! – entgehen,

Sei es durch Blindheit oder Lässigkeit,

Wird statt des Schopfs sich dir der Kahlkopf zeigen,

Und Schmach und Schaden bleibt uns dann zu eigen.«
[199]

48.

Dies war der Grund, drauf er den Rat erbaute,

Ihn klüglich stützend noch durch andres viel,

Man halte noch das Frankenland, das traute,

Bis Karl sei fortgetrieben ins Exil.

Allein Sobrin, der klar den Weg erschaute,

Den eingeschlagen hatte Fürst Marsil,

Und daß ihn mehr der eigne Nutzen führte

Als aller Heil, dagegen so sich rührte:


49.

»O würd' ich, weil ich abriet, aufzubrechen

Zum Kriege, falscher Seherkunst geziehn!

O hättest du, mußt' ich die Wahrheit sprechen,

Geglaubt, Herr, deinem redlichen Sobrin!

Du ließest dich von Rodomont bestechen,

Von Marbalust, Alzird und Martasin!

Könnt' ich, mit ihnen ins Gericht zu gehen,

Zumal mit Rodomont, sie vor mir sehen!


50.

Zerbrechen wollt' er Frankreich wie die Scheiben

Aus schwachem Glase – des vermaß er sich –;

Bei deinem Speer in Höll' und Himmel bleiben,

Dräng' er nicht gar noch weiter vor für dich, –

Um nun – in Nöten – sich den Bauch zu reiben,

Versenkt in Faulheit schnöd und jämmerlich.

Ich, der ich, weil ich Wahrheit sprach, ein schlimmer

Feigling genannt ward, bin bei dir noch immer


51.

Und werd' es sein, bis daß zu End' dies Leben,

Das ich noch täglich, ob an Jahren schwer,

Für dich bereit bin jedem hinzugeben,

Der ruhmvoll bei den Franken führt den Speer.

Und keiner, wer es sei, kann Klag' erheben,

Was ich vollbracht, sei schlecht, des Lobes leer.

Mehr tat – so viel nur – keiner der Gesellen,

Die über mich sich durch ihr Prahlen stellen.
[200]

52.

So sprech' ich, weil's mich treibt, dir darzulegen:

Was ich dir sagte und dir sag' aufs neu,

Dazu will nicht die Feigheit mich bewegen,

Nein, Lieb' allein und des Vasallen Treu'.

Ich rate: laß nach Haus die Ruder regen,

Schleunigst, ich wiederhol' es ohne Scheu.

Denn wenig weise scheint des Manns Beginnen,

Der Eignes aufgibt, Fremdes zu gewinnen.


53.

Ward dies erreicht? Du weißt's. Vom Hafen zogen

Wir, zweiunddreißig Kön'ge, mit dir her:

Und wird am heut'gen Tag der Stand erwogen,

So lebt der dritte Mann, vielleicht nicht der.

Daß mehr nicht fallen, sei uns Gott gewogen!

Sollt' aber weiterkämpfen unser Heer,

Auch nicht der vierte und der fünfte blieben –:

Dein armes Volk, es würde aufgerieben.


54.

Wohl fehlt – 's ist gut für uns – des Roland Toben:

Wo wenig sind, wär' keiner mehr am End',

Doch wird dadurch nicht die Gefahr gehoben:

Ein Aufschub ist's, was unser Schicksal kennt.

Da ist Rinald: er zeigte oft in Proben,

Daß man ihn Roland schier gewachsen fänd',

Und Paladine, seines Hauses Recken,

Waren für unsre Mohren stets ein Schrecken.


55.

Ein zweiter Mars ist dann ein andrer Ritter

(Den Feind zu loben find' ich freilich hart):

Wie Rolands Schwerthieb trifft der seine bitter;

Den kühnen Helden mein' ich, Brandimart.

Teils sah ich seinen Wert auf Kosten Dritter

Teils dadurch, was mir selbst bewiesen ward.

Seit Roland fehlt, viel Tage schon verrannen;

Doch wir verloren mehr als wir gewannen.
[201]

56.

Und starben unsrer viele, fürcht' ich, töten

Wird man uns bald noch eine größre Schar.

Den Boden mußte Mandrikard schon röten;

Der Hilfe des Gradaß auch sind wir bar.

Marfisa ließ uns in den höchsten Nöten,

Wie Algiers Fürst; von diesem gilt fürwahr:

Wär' er so treu, wie wir ihn tapfer sehen,

So könnten ruhig jene beiden gehen.


57.

Derweil uns diese Stützen sind genommen

Und so viel Tausende der Unsern tot

Und, was nur kommen kann, schon ist gekommen

Und nicht Ersatz mehr bringt ein andres Boot,

Sind dort bei Karl vier neu hinzugekommen,

Die kaum Rinald und Roland überbot;

So glaubt man, und mit Recht, weil rings auf Erden

Schwer nochmals solche vier gefunden werden.


58.

Ich weiß nicht, ob dir Samsonet, der wilde

Guido, die Sprossen Olivers, bekannt.

Sie acht' ich mehr als wer ins Kampfgefilde,

Ob aus dem deutschen oder anderm Land,

Von hohen Herrn mit Lanze kam und Schilde

Und für das Reich uns gegenüberstand,

Wiewohl ich auch die andern nicht mißachte,

Die – uns zum Schaden – Karl ins Lager brachte.


59.

Wie oft du ausziehn magst, du wirst erliegen,

Wenn man dich nicht vernichtet in der Schlacht.

Konnt' Afrika mit Spanien noch nicht siegen,

Da wir noch sechzehn waren gegen acht.

Wie wird es, wenn die Franken überwiegen

Mit Deutschen, Briten und Italiens Macht,

Und wir nun sechse gegen zwölfe stehen?

Wird nicht nur Schad' und Unheil dann geschehen?
[202]

60.

Dein Volk da, dort dein Reich verloren wären,

Bliebest du trotzig hier noch längre Zeit.

Allein entschließt du dich zurückzukehren,

Uns dienst du wie des Staates Sicherheit.

Marsil zu lassen brächte wenig Ehren:

Vermissen würde man die Dankbarkeit.

Doch einen Ausweg gibt es: schließe Frieden!

Stimmst du nur zu, so ist's auch Karl zufrieden.


61.

Doch wenn's der Ehre scheint zu widerstreben,

Ihn als Gekränkter darum anzugehn,

Und du dem Kampfe willst den Vorzug geben

(Du hast, was da herauskommt, ja gesehn),

Als Sieger suche dann das Schwert zu heben!

Das wird, wenn du mir folgst, vielleicht geschehn:

Wähl' einen als Vertreter deiner Sache,

Und zum Vertreter unsern Roger mache!


62.

Ich weiß – wie du – welch Heldentum ihm eigen,

Wenn er allein als Mann ficht gegen Mann:

Nicht größern Wert Rinald und Roland zeigen

Und, wer sich denen sonst vergleichen kann.

Wählst du jedoch der vollen Feldschlacht Reigen –

Und reicht er an Heroen auch heran –

So bringt ihn doch, den einen in der Menge,

Ein Schwarm gleichstarker Gegner ins Gedränge.


63.

Ich meinte – wenn es deinen Beifall fände –,

Du schickst den Vorschlag an den König dort:

Damit das Blutvergießen nehm' ein Ende,

So vieler Seinen und der Deinen Mord,

So wähl' er einen Krieger, den er sende

Gegen den kühnsten Recken hier am Ort.

Der ganze Krieg soll bei den zweien stehen,

Bis wir den siegen, den am Boden sehen,
[203]

64.

Mit der Bestimmung: wer sodann erlegen,

Deß König zahlt dem andern Herrn Tribut.

Ich glaube, Karl setzt dem sich nicht entgegen,

Steht auch für ihn zurzeit die Sache gut.

Und auf der Kraft von Roger, unserm Degen,

Mein voll Vertrauen in den Ausgang ruht.

So sehr ist auch das Recht auf unsrer Seite:

Er müßte siegen über Mars im Streite.«


65.

Dies und noch mehr sprach vor dem Rat der Mohren

Sobrin so gut, daß er das Spiel gewann.

Die Boten werden alsobald erkoren

Und langen selben Tags beim Kaiser an.

Karl, dem so mancher Held hat zugeschworen,

Hegt Zuversicht, den Sieg gewinnt sein Mann,

Weil er Rinalds, des wackern, Schwert vertraute,

Auf den, nach Roland, er am meisten baute.


66.

Als beide Herrscher den Vertrag beschließen,

Herrscht Freud' im Christen- und im Mohrenheer.

Die Kriegesmühen, die ermatten ließen,

Sie lagen ja auf allen Kriegern schwer.

Nun denkt zu ruhn ein jeder, zu genießen,

Was ihm beschieden noch an Tagen mehr;

Das Wüten und den Zorn vermaledeite

Jedweder, und was sonst die Leut' entzweite.


67.

Rinald, erfüllt von hohem Stolz tiefinnen,

Daß sich der Kaiser jetzt an ihn gewandt

Vom ganzen Heer zu wichtigem Beginnen,

Rührt, alles herzurichten, froh die Hand.

Nichts gilt ihm Roger, und im Herzen drinnen

Hält er undenkbar dessen Widerstand

Und sieht in ihm durchaus nicht seinesgleichen,

Sank auch Fürst Mandrikard von seinen Streichen.
[204]

68.

Auch Roger fühlt erhoben wohl die Seele,

Zu gelten als der allerbeste Held,

Den sich sein Herr aus vielen guten wähle,

Auf den des Reiches Wohlfahrt sei gestellt;

Doch sieht er aus, als ob ein Leid ihn quäle;

Nicht etwa, weil ihn heimlich Furcht befällt:

Furcht vor Rinald allein? – Nicht würd' ihm bangen,

Und käm' auch Roland mit Rinald gegangen.


69.

Nein, daß ihn Bruder nennt die holde, treue

Geliebte, das nur ist's, was ihn ergrimmt;

Die brieflich ihn bedrängt; sie mahnt zur Reue,

Als eine, über Kränkung schwer verstimmt.

Fügt er zur alten Sünde jetzt die neue,

Daß er zum Tod Rinalds die Waffen nimmt,

Statt ihn zu lieben, wird sie Roger hassen

Und kaum sich jemals mehr versöhnen lassen.


70.

Derweil er schweigend dacht' in Sorg und Bangen

Des Streits, den er mit Unlust übernahm,

War fast vor Schmerz und Weh die Maid vergangen,

Als sie – gar bald – die Neuigkeit vernahm.

Sie rauft das Goldhaar, kränkt unschuld'ge Wangen

Und schlägt die schöne Brust in wildem Gram;

Und bittre Klage, Jammerruf der Armen,

Nennt Roger hart, das Schicksal ohn' Erbarmen.


71.

Wie sich der Kampf der beiden Ritter wende,

Für sie kommt nichts heraus als eitel Leid:

Daß seinen Tod ihr trauter Roger fände, –

Ihr Herz steht still, denkt sie der Möglichkeit.

Bringt aber Gottes Strafgericht das Ende

Dem Frankenreich für Schuld der Christenheit,

So sieht sie nicht allein den Bruder sterben,

Nein, größrer Schaden naht noch und Verderben.
[205]

72.

Nur unter Schmach und Tadel und der schweren

Feindschaft des eignen Hauses wird sie dann

Zu Roger hin als seine Gattin kehren,

Nicht offen vor der Welt, daß jedermann

Es sehen möge, nicht in Glanz und Ehren,

Wie sie bei Tag und Nacht es heimlich sann.

Denn, was sie feierlich einand versprochen,

Wird nicht durch Reu und Widerruf gebrochen.


73.

Doch jene, die noch stets in Unglückstagen

Der Jungfrau so getreu zur Seite stand,

Melissa mein' ich, konnte nicht ertragen

Das Weh und Leid, drin sich die Arme wand.

Sie kommt sie trösten, Rettung zuzusagen:

Die sei bestimmt zur rechten Zeit zur Hand.

Sie werd' ein Ende machen jenem Streite,

Der solche Sorg' und Tränen ihr bereite.


74.

Die Waffen holen unterdeß zum schlimmen

Begegnen Roger und Rinald hervor;

Die Wahl hatt' aber jener zu bestimmen,

Den sich als Kämpen Kaiser Karl erkor,

Und weil man nur zu Fuße sah den grimmen,

Seit er den Renner Bajard einst verlor,

Wählt' er den Kampf zu Fuß, im Panzerkleide

Mit Dolch und mit der wucht'gen Streitaxt Schneide.


75.

War's Zufall, war's, daß er den Rat bekommen

Von Malegis, der, klug, vorsicht'ger Art,

Wohl wußte, wie gar wenig Mittel frommen

Genüber der gefräß'gen Balisard?

Kampf ohne Schwerter, so wie ihr's vernommen,

Von beiden Kriegern jetzt beschlossen ward.

Als Ort die Flur, der Mauer nah gelegen

Des alten Arles, bestimmen dann die Degen.
[206]

76.

Kaum hob Aurora noch, die früherwachte,

Das lichte Haupt aus ihres Tithon Haus,

Das den Beginn von Tag und Stunde brachte,

Der festgesetzt war für den großen Strauß,

Als sich der Ordner auf die Beine machte

So hier wie dort: Am End' des Schrankenbaus

Schlug man zwei Zelte auf und ließ daneben

Einen Altar sich – hier und dort – erheben.


77.

Nicht lange drauf, in wohlgereihten Scharen,

Erschien das Mohrenheer, und in der Mitte sah

Man, reich geschmückt nach Sitte der Barbaren,

Prächtig bewehrt, den Herrn aus Afrika;

Auf braunem Hengst mit schwarzen Mähnenhaaren

Gefleckten Füßen, weißer Stirne; nah

Dem König ritt Herr Roger, dem zu dienen,

Bereit Marsil war mit den stolzen Mienen.


78.

Den Helm, den ihm nach heißem Waffengange

Gelassen hat der schreckliche Tatar;

Des Hektor Helm, in höherem Gesange

Gefeiert schon durch mehr als tausend Jahr,

Trug ihm Marsil, ein Fürst von solchem Range.

Danach die Herrn und der Barone Schar,

Dann sieht man Ritter noch mit Waffen gehen,

Die reich mit Gold und Steinen sind versehen.


79.

Von andrer Seite naht sich aus den Wällen

Der König Karl mit seinem ganzen Heer:

Worauf die Kämpfer sich geordnet stellen,

Als zögen sie zum Kriegeswerk daher.

Zu Karl die hohen Pairs sich rings gesellen,

Und auch Rinald in seiner vollen Wehr.

Nur des Mambrinus Helm sieht man nicht ragen,

Weil der vom Dänen Holger wird getragen.
[207]

80.

Der Streitäxt' erste trug Herr Naims, die zweite

Herr Salomon aus dem Bretagnerland.

Die Christen all auf ihres Kaisers Seite,

Und drüben Afrika mit Spanien stand.

Leer in der Mitte blieb des Feldes Weite:

Kein Mensch im großen Raume sich befand.

Verkündet war: sollt' einer dort verweilen

Außer den Kämpfern, würd' ihn Tod ereilen.


81.

Die zweite Waffenwahl wird freigegeben

Ihm, der fürs Heidenvolk betritt die Bahn;

Zwei Priester, hier und drüben auch, begeben

Sich, Buch in Händen, auf den weiten Plan:

Das eine war von Jesu Christi Leben

Die Botschaft und das andre der Koran.

Das Buch, das als die Bibel man erkannte,

Nahm Karl, das andre drüben Agramante.


82.

Karl am Altar, errichtet von den Seinen,

Erhob die Hand, den Himmel anzuflehn,

Und sprach: »O Gott, gestorben für die Deinen,

Daß wir in Sünd' und Schuld nicht untergehn!

Jungfrau, in der, auf Erden zu erscheinen,

Gott seine Menschgestalt einst ließ entstehn,

In deinem heil'gen Schoß neun Monat wohnend

Und immer deines Magdtums Blüte schonend,


83.

Bezeugt: für mich und Kind und Kindeskinde,

Wem je der Thron gehört, der heute mein,

An Agramant, und, wer noch sonst sich finde

Als Herr dort, zahl' ich Lasten Goldes fein

Alljährlich zwanzig, deß ich mich verbinde,

Wenn hier mein Kämpe wird erlegen sein;

Und Waffenstillstand will ich jetzo halten,

Der sich zu ew'gem Frieden soll gestalten.
[208]

84.

Und brech' ich dies, so treffe von euch beiden

Sogleich mich Zorn und schreckliches Gericht:

Und ich nur und, mein Haus soll es erleiden

Und andre, die da seien, treff' es nicht;

Damit es rasch und klar sich mög' entscheiden,

Was es euch gilt, wenn man Gelöbnis bricht!«

Er spricht es, mit der Bibel in den Händen,

Indem die Blicke sich nach oben wenden.


85.

Hinüber gehn sie nun, wo aufgerichtet

Die Heiden haben ihren Prunkaltar.

Der König schwört, daß er die Anker lichtet,

Um heimzuführen seine ganze Schar,

Und auch Tribut zu zahlen sich verpflichtet

Im Fall, daß Roger der Besiegte war.

Ein ew'ger Friede solle nun bestehen,

So, wie von Karl der Eidschwur war geschehen.


86.

Und laut, um heil'ger Ketten Zwang zu schaffen,

Beim großen Mahomed versichert er

Und schwört aufs Buch in Händen seines Pfaffen,

Von seinem Eid zu weichen nimmermehr.

Rasch gehn sie dann zurück zu ihren Waffen,

Der zu den Christen, der zum Mohrenheer.

Nun sind die Kämpfer an der Reih' zu schwören

Und lassen folgende Versprechen hören:


87.

Roger verspricht, woll' aus dem Kampf ihn reißen

Oder ihn stören lassen Agramant,

Nicht mehr sein Ritter und Baron zu heißen,

Fortan dem Dienst des Kaisers zugewandt.

Rinald schwört, werd' er jetzt von Karl geheißen,

Zu weichen aus dem Streit mit läss'ger Hand,

Eh Roger oder er sei überwunden, –

Als Diener Agramants bleib' er gebunden.
[209]

88.

Nun kehren sie zurück nach beiden Seiten,

Nachdem die Zeremonien fertig sind.

Nicht lange währt's, da rufen schon zum Streiten

Trompeten hell –: der wilde Kampf beginnt:

Zum Gegner schreiten hin die Schlachtbereiten,

Mit Kunst die Schritte messend, kluggesinnt.

Seht, wie sie aufeinand zum Angriff dringen,

Bald hoch, bald tief ein klirrend Eisen schwingen!


89.

Mit Kolben jetzt, dann mit den schweren Stielen

Galt es dem Fuß und gleich darauf dem Haupt.

So hurtig und geschickt die Hiebe fielen,

Daß Ihr's, wenn ich's berichte, gar nicht glaubt.

Roger (auf ihren Bruder muß er zielen,

Die, ach, ihm seine Seele hat geraubt)

Läßt bei dem Hieb so große Rücksicht walten,

Daß er für minder mutig wird gehalten.


90.

Nach Deckung ging er aus, mehr als nach Hieben,

Und was er wollte, wußt' er selber nicht:

Schlimm steht's für ihn, wenn tot Rinald geblieben,

Doch selbst zu sterben ihm die Lust gebricht.

Hier muß ich die Geschichte nun verschieben;

Einstweilen ist am Ende mein Bericht.

Wenn Ihr mir folgen wollt zum nächsten Sange,

Ist's möglich, daß ich dann zum Schluß gelange.

Quelle:
Ariosto, Ludovico: Der rasende Roland. In: Sämtliche poetischen Werke, Berlin 1922, Band 3, S. 187-210.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der rasende Roland
Die Historia vom Rasenden Roland
Ludovico Ariosts Rasender Roland nacherzählt von Italo Calvino

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