Fünfter Gesang

[80] 1.

All andre Tiere auf des Erdrunds Weiten,

Ob sie nun Eintracht halten wohlgemut,

Ob sie sich jagen, beißen und sich streiten,

Sie halten doch ihr Weibchen stets in Hut.

Im Wald selbander Bär und Bärin schreiten,

Beim Löwen sicher seine Löwin ruht.

Die Wölfin mag zum Wolf sich ruhig strecken,

Die Jungkuh fühlt vorm Stiere keinen Schrecken.


2.

Welch böse Pest, welch eine Furie gräßlich

Nun in den Menschenbusen Wohnung nimmt,

Daß immer Ehmann, ach, und Frau sich häßlich

Mit Schelten überschütten, arg ergrimmt?

Zerkratztes Antlitz färbt sich schwarz und bläßlich,

Von Tränen selbst das traute Lager schwimmt.

Und nicht bloß Zähren sind darin geflossen:

Oft hat auch blinder Zorn dort Blut vergossen.


3.

Nicht nur ein schlimm, ein unerhört Betragen,

Mit Gott und der Natur im Widerstreit,

Zeigt, wer das Antlitz einer Frau kann schlagen

Oder nur tun, was Schmerz ihr bringt und Leid,

Und wer mit Gift, mit Strick, mit Dolch zu jagen

Die Seele sticht aus ihrem Erdenkleid,

Ich glaube nicht, er sei ein Mensch zu nennen:

Nein, Teufel nur ihn als Genossen kennen.
[81]

4.

Dergleichen waren wohl die Mordgesellen,

Die Herr Rinald traf mit der Schönen an;

Sie war geschleppt an jene dunklen Stellen,

Daß ihre Spur entschwinde jedermann.

Wir ließen sie, als sie von Wechselfällen

Ihres Geschicks dem Paladin begann,

Dem freundlichen, zu künden die Geschichte.

So hört, was nach dem Mädchen ich berichte.


5.

»Ich habe«, sprach sie, »mehr in meinem Leben

An ausgesuchter Grausamkeit gesehn,

Als in Mykene, Argos oder Theben

Und schlimmem Orten jemals ist geschehn.

Mag hier die Sonne mindre Wärme geben

Als sonst, läßt sie die Strahlen ferner stehn,

So will sie, mein' ich, nur zu sehn vermeiden,

Was Menschen hier durch Bösewichte leiden.


6.

Daß man mit seinen Feinden grausam schalte,

Das zeigen wohl Exempel jeder Zeit;

Doch ihn, der sinnt, wie deines Glücks er walte,

Morden, ist Gipfel doch der Schändlichkeit.

Und daß sich klar und deutlich dir entfalte,

Wie man hier ohne Recht mich arme Maid

Umbringen wollt' in meinen Blütetagen,

Will ich vom Anfang an dir alles sagen.


7.

Der Königstocher, edler Herr, zu dienen

In früher Jugend kam ich hin zum Schloß,

Wuchs mit ihr auf, die Großen freundlich schienen,

So daß ich Ehr' und Gunst bei Hof genoß.

Doch Amor, grausam, stand mit neid'schen Mienen:

Zur Sklavin machte mich, ach, sein Geschoß!

Mir wollte von den Herrn und Junkern allen

Der Herzog von Albanien wohlgefallen.
[82]

8.

Als ich ihn drauf mir Liebe hörte schwören,

Mit eins ward ihm mein ganzes Herz zuteil.

Das Antlitz kann man sehn, die Rede hören,

Allein die Brust? – da hat es gute Weil'!

Liebend und glaubend, ließ ich mich betören:

Ich gab mich – und nicht merkt' ich in der Eil',

Daß wir uns just zu trauten Liebesbanden

In meiner Herrin Leibgemach befanden;


9.

Dort weilte sie bei ihren liebsten Dingen,

Dort war es auch, wo sie gewöhnlich schlief.

Man konnte hier zu einem Söller dringen,

Der von der Mauer aus ins Freie lief.

Den Liebsten ließ ich dort hinauf sich schwingen,

So oft ihn meine Sehnsucht zu mir rief.

Ich selber warf vom Söller ihm die Leiter,

Die hänfne, zu: auf ihr stieg er dann weiter.


10.

Und jedes einz'ge Mal ließ ich ihn kommen,

Sobald es ging, weil in gar mancher Nacht

Ihr Bett die Herrin wechselt, wenn beklommen

Sie schlimmer Nebel oder Hitze macht.

Stets ungesehn ist er hinaufgeklommen,

Weil jener Schloßteil altem Häuserschacht,

Zerfallnem, gegenüber ist gelegen,

Wo Tag und Nacht sich niemals Menschen regen.


11.

So mochten Tag' und Monde viel vergehen,

Seit wir genossen heimlich Minnespiel.

Die Liebe wuchs, ließ mich in Flammen stehen;

Ich brannt' im Innern ohne Maß und Ziel

Und war wie blind! Nicht wollt' und wollt' ich sehen,

Er liebe wenig nur und heuchle viel.

Und doch verrieten sich in tausend Zügen

Schon unverkennbar seine schnöden Lügen.
[83]

12.

Da stand er eines Tags in hellen Flammen

Für die Prinzessin; mir ist nicht bewußt,

Ob jene Gluten dieser Zeit entstammen,

Ob er sie früher schon trug in der Brust.

Gewachsen war mit ihm mein Ich zusammen;

Mich zu beherrschen hat er so gewußt,

Daß er mir's eingestand ohn' ein Bedenken

Und bat, ich solle selbst ihm Beistand schenken.


13.

Nicht unsrer Liebe, sagt' er, zu vergleichen

Sei jener Handel, den er neu begann;

Er heuchle nur mit der Verliebtheit Zeichen,

Damit er sie Gemahlin nenne dann.

Vom König könn' er alles leicht erreichen,

Woll' ihn Ginevra nur zum Ehemann,

Da er an edlem Blut und hohem Stande

Gleich nach dem König komme hier im Lande.


14.

Er setzt' hinzu: wenn's ihm durch mich gelinge,

Und sei er seines Herren Schwiegersohn

(Ich müsse sehn, ihm sei die Müh' geringe,

Wie keiner hochzusteigen, nah zum Thron),

Vergess' er nie das Opfer, das ich bringe,

Und spende mir zum Danke solchen Lohn:

Höher als Weib und Freund werd' er mich setzen

Und ewig mich als Heißgeliebte schätzen.


15.

Ich, nur bedacht, zufrieden ihn zu stellen,

Verstand, o weh, das Nein auf keine Weis',

Für mich begann der Tag sich erst zu hellen,

Hatt' ich ihm zu gefallen den Beweis.

So oft sich's machen läßt, in allen Fällen,

Find' ich Gelegenheit zu Lob und Preis,

Versuche alles, mühe mich voll Treue,

Daß sich Ginevra meines Liebsten freue.
[84]

16.

So tu ich, was ich kann: mit ganzer Seele

– Der Himmel weiß – wirk' auf mein Ziel ich hin;

Allein so sehr ich auch den Herrn empfehle,

Bei ihr bring' ich dem Herzog nicht Gewinn;

Und zwar – daß ich dir nicht den Grund verhehle –

Weil einem galt ihr Denken und ihr Sinn,

Der, artig, herrlich, schön gleich einem Sterne,

In Schottland war erschienen aus der Ferne.


17.

Er kam mit seinem Bruder, dem noch jungen,

Zum Königshofe aus Italiens Gaun,

Hat als ein Held sich bald emporgeschwungen

(Kein stärkrer war im Britenland zu schaun)

Und auch des Königs Lieb' und Huld errungen;

Der schenkt' ihm als Beweis für sein Vertraun

Kastelle, Burgen, Städte seiner Krone

Und hob ihn hoch im Kreise der Barone.


18.

Der Tochter noch viel teurer als dem Vater

Ward dieser Rittersmann Arïodant;

Nicht nur im Kampfe wahre Wunder tat er,

Als ihr ergeben auch ward er erkannt.

Nicht des Vesuv und nicht des Ätna Krater,

Nicht Troja so in hellen Flammen stand

Wie sie, als sie erfuhr, daß im Gemüte

Arïodant getreu für sie erglühte.


19.

Die Liebe, die sie für den Fremdling hegte,

Aufricht'gen Herzens, inniglich und treu,

Abneigung für den Herzog nur erregte:

Sie gab mir keine Antwort, die mich freu'.

Und als ich weiter mich aufs Bitten legte

– Sie umzustimmen sucht' ich stets aufs neu –,

Begann sie tadelnd ihn gering zu schätzen

Und feindlich immer mehr herabzusetzen.
[85]

20.

So mußt' ich denn in meinen Liebsten dringen,

Nicht länger auf verkehrtem Pfad zu gehn;

Die Maid sei nicht auf andern Weg zu bringen,

Sie werde treu zum Auserwählten stehn.

Wie nach dem Helden ihre Wünsche gingen,

Das sei, so zeigt' ich ihm, doch klar zu sehn.

Um auszulöschen solch gewalt'ge Flamme,

Gleiche das Meereswasser einem Gramme.


21.

Dem Polineß (so hieß, den ich erkoren)

Schon zu verschiednen Malen sagt' ich das;

Als er nun selber merkt' mit Aug' und Ohren,

Daß sie zum andern hält ohn' Unterlaß,

Hat er der Leidenschaft nicht abgeschworen,

Nein, Ärger plagt ihn nur und wilder Haß,

Daß ihm, dem Stolzesten der weiten Erde,

Ein andrer Ritter vorgezogen werde.


22.

Und jene beiden sinnt er voller Tücken

In Zwietracht zu verstricken und in Streit;

Feindschaft soll ihre Liebe niederdrücken:

Die soll nicht währen für die Ewigkeit.

Ginevras Stirn soll unter Schmach sich bücken,

Davon kein Leben und kein Tod befreit.

Doch von dem Plan, so niedrig sich zu rächen,

Wollt' er mit mir nicht noch mit andern sprechen.


23.

›Dalinda,‹ sprach er (so bin ich geheißen),

›Du weißt, fällt man im Wald durch Beileshieb

Den Baum, den man dem Boden will entreißen,

Noch an der Wurzel zeigt er weitern Trieb;

Also ergeht es jetzo meiner heißen,

Durch Schicksalsschläge hingestreckten Lieb':

Auch sie keimt fort, will nimmer von mir weichen

Und muß zuletzt des Wunsches Ziel erreichen.
[86]

24.

Ich will's, nicht weil ich Lust so sehr begehre,

Nein, weil Gefühl des Sieges wohl mir tut.

Drum, das ich in der Wirklichkeit entbehre,

Das zeige mir der Wahn, das hohe Gut.

O nimm, wenn ich demnächst hier wiederkehre

Und die Prinzessin schon im Bette ruht,

Die Kleider all, die ihr zur Hülle dienen,

Und schmücke selber deinen Leib mit ihnen!


25.

Wie sie sich schmückt, das Haar pflegt zu bereiten,

Das ahme sorglich nach und gleiche ihr,

So sehr du kannst; laß dann die Leiter gleiten:

Ich klimm' empor zum Söller, hin zu dir.

Verstellung wird dann sie zu dir geleiten,

Von der das Kleid du trägst, sie winke mir!

So hoff' ich denn, mich selbst zu hintergehen

Und meine Leidenschaft geschwächt zu sehen.‹


26.

Er sprach's. Ich, wie von Sinnen, traumbefangen,

Hab' all die offnen Lügen nicht erkannt,

Daß Fallstrick war sein dringendes Verlangen

Und auf Betrug sein ganzes Sinnen stand.

Im Kleid Ginevras von dem Söller hangen

Ließ ich die Stufen, die er oft schon fand.

Nicht eh'r vermocht' ich all den Trug zu sehen,

Als bis das ganze Unheil war geschehen.


27.

Der Herzog hatt' an einem jener Tage

Dies Wort gerichtet an Arïodant

(Sie waren Freunde, das stand außer Frage,

Eh um Ginevra war der Streit entbrannt):

Mich wundert, sprach er, eines, und ich sage,

Daß du, für den ich Liebe nur empfand,

Der du im Herzen obenan mir throntest,

Recht übel meine Freundschaft nun belohntest.
[87]

28.

Ich meine fest, es ist dir nicht entgangen:

Mich und Ginevra knüpft ein Liebesbund,

Und sie als Ehegattin zu erlangen,

Geh' ich zum König noch in dieser Stund'.

Soll nun dein Herz an ihr vergeblich hangen?

Was störst du mich? Gibst dich als Gegner kund?

Ich würde wahrlich Rücksicht dir erzeigen,

Wäre dir mein Fall und mir deiner eigen.'


29.

Ich muß noch mehr verwundert mich bekennen',

Sprach jener drauf mit hochgehobnen Braun;

,Ihren Getreuen dürft' ich schon mich nennen,

Eh sie dein Auge mochte noch erschaun.

Nicht heißer könnte unsre Liebe brennen.

Das ist dir auch bewußt; ich mag drauf baun.

Mein Weib zu werden, ist ihr ganzes Sehnen;

Daß sie dich liebe, kannst du nimmer wähnen.


30.

Warum nicht selbst die Rücksicht üben wollen

(Da wir doch Freundschaft hegen für einand),

Die du verlangst, ich würde sie dir zollen,

Hätt' ihre Liebe sich auf dich gewandt?

Nicht deine Schätze, traun, mich schrecken sollen,

Bist du der Reichre schon in diesem Land.

Beim König unser Wert der gleiche bliebe,

Doch mir allein gehört der Tochter Liebe.'


31.

›Du ließt‹, sprach der, ›vom Wahne dich umkrallen,

Durch tolle Liebesglut, das ist mir klar.

Du wähnest dich, ich mich geliebt vor allen;

Gewißheit bieten nur die Früchte dar:

Den Schleier lasse dein Geheimnis fallen;

So mach' ich dir auch meines offenbar.

Und wem von ihr ward kleinre Gunst erwiesen,

Lasse den Sieger freie Bahn erkiesen.
[88]

32.

Ich bin bereit, dir, wenn du willst, zu schwören,

Kein Mensch vernimmt, was ich von dir erfuhr;

Du schwörst: von dem, was deine Ohren hören,

Verrät dein Mund auf ewig keine Spur.‹

Drauf einzugehn ließ jener sich betören,

Und auf die Bibel taten sie den Schwur,

Den Pakt zu halten, Treubruch zu vermeiden.

Arïodant als erster sprach von beiden.


33.

Und er begann dem andern darzulegen,

Wie zwischen ihm und ihr die Sache stand:

Sie schwur ihm – mündlich, schriftlich, allerwegen –,

Sie kenne niemals andres Liebesband;

Und stelle sich der König dem entgegen,

Dann weise sie den Ehbund von der Hand.

Sie werde, wie die Ritter immer hießen,

Ihr Leben einsam, unvermählt beschließen.


34.

Er selber hoffe nun, im Lauf der Zeiten

Durch Waffentaten, die er oft vollbracht

(Daß sie dem Reich auch Ehr' und Ruhm bereiten,

Sei er dem Herrn zu zeigen noch bedacht),

In seines Königs Gunst so vorzuschreiten,

Daß er ihn schließlich doch für würdig acht',

Als Ehgemahl die Tochter heimzuführen,

Säh' er ihn heiß bemüht, ihr Herz zu rühren.


35.

Das ist der Punkt, wo ich mich jetzt befinde‹,

Sprach er, ›und wo gewiß noch keiner stand.

Nicht such' ich mehr, und von dem holden Kinde

Erwünsch' ich mir kein klarer Liebespfand.

Auch möcht' ich nichts, bevor die Eh' uns binde,

Von dem, was Gott für sie uns zugestand.

Mehr heischen wär' umsonst in jedem Falle;

Denn weit an Tugend überstrahlt sie alle.‹
[89]

36.

Wie er der Mühen Lohn hofft zu ersiegen,

Tut so der Rittersmann dem Herzog kund;

Und dieser plant in seiner Brust verschwiegen,

Bald zu durchkreuzen beider Liebesbund,

Und spricht: ›Du ließest weit dich überfliegen!

Und zugestehen soll's dein eigner Mund.

Sieh meiner Freude Wurzel und bekenne,

Daß ich allein mit Recht mich glücklich nenne!


37.

Sie heuchelt, weiht dir nicht die zarten Triebe,

Da sie mit Hoffnung dich und Worten speist:

Spricht sie – vernimm! – mit mir von deiner Liebe,

Ihr das nur Kinderei und Dummheit heißt.

Ganz andre Sicherheit, traun, mir verbliebe,

Als Kleinigkeiten, die man dir erweist.

Ich will – bei deinem Eide – dir es zeigen,

Wiewohl sich mehr geziemte, hier zu schweigen.


38.

Kein Mond vergeht, daß nicht sechs, sieben Nächte

Und manchmal zehn vielleicht in ihrem Arm

Ich in der Liebeslust mit ihr verbrächte,

Die heiß begehrt wird vom verliebten Schwarm.

Wer ist nun, sprich, der nicht gering hier dächte

Von dem, das dir ward? Ists nicht dürftig, arm?

Räume den Platz, such' sonst dich zu versehen,

Da du nicht leugnen kannst, mir nachzustehen.‹


39.

›Ich kann‹, spricht jener, ›dem nicht Glauben schenken:

Ein Lügner, mein' ich, hat dies vorgebracht:

Hast dich bemüht, dies alles auszudenken,

Weil du dem Handel gern ein End' gemacht,

Versuchst auf sie Verleumdung nun zu lenken;

Dein Wort jetzt zu vertreten sei bedacht:

Hier auf der Stelle zeig' ich, Missetäter,

Nicht Lügner bist du bloß, nein, auch Verräter.‹
[90]

40.

Der Herzog sprach: ›Nicht recht wärs, muß ich sagen,

Sollten wir darum aufeinander haun,

Was ich als Wahrheit so will vor dich tragen,

Daß deine eignen Augen es erschaun!‹

Verwirrt steht nun der Ritter und mit Zagen,

Durch sein Gebein schleicht ihm ein kaltes Graun.

Hätt' er die Wahrheit fest geglaubt zu sehen,

So war es um sein Leben jetzt geschehen.


41.

Er sprach mit schwerem Herzen, bleichen Wangen,

Bebender Stimm', im Munde Bitterkeit:

›Läßt du zu solcher Wahrheit mich gelangen,

Und gibt der Augenschein mir Sicherheit,

Nicht länger wird mein Herz an jener hangen,

Die mich läßt fasten, alles dir verleiht.

Doch denke ja nicht, daß ich dir vertraue,

Bevor ichs nicht mit eignen Augen schaue.‹


42.

›Nachricht erhältst du, wenn das Ding beschlossen‹,

Sprach Polineß und ließ ihn dann allein.

Zwei Nächte, glaub' ich, waren kaum verflossen,

Da kam Befehl zum nächsten Stelldichein.

Er hält bereit, was er an Truggeschossen

Zu schleudern denkt, lädt nachts den Ritter ein

Und heißt ihn warten in den Häusertrümmern,

Um die gar niemals Menschen sich bekümmern.


43.

Es ist ein Ort, vor dem Balkon gelegen,

Zu dem schon oft der Aufstieg ward gemacht.

Nun wollt' im Ritter der Verdacht sich regen,

Man hab' an den entlegnen Ort gedacht

(Gewählt, so schien's, des Hinterhaltes wegen),

Um aus der Welt ihn fortzuschaffen sacht,

Heuchelnd, man werde dort ihn schauen lassen,

Was von Ginevra nimmer war zu fassen.
[91]

44.

Und er beschloß, an jenen Platz zu gehen,

Gerüstet aber gegen ihrer viel:

So brauch' er nicht in Furcht des Tods zu stehen,

Auch für den Fall, daß man ihn überfiel.

Als Held – kein beßrer war am Hof zu sehen –

Sein Bruder galt, berühmt im Waffenspiel.

Er hieß Lurcan; mehr schätzt er sein Geleite,

Als hätt' er sonst ein Dutzend sich zur Seite.


45.

In Waffen hieß er den sich ihm gesellen

Und nahm ihn mit sich nachts an jenen Ort,

Ohn' aber das Geheimnis aufzuhellen;

Ihm, wie den andern, sagt' er nicht ein Wort.

Der mußte sich in Steinwurfsweite stellen;

Und nur auf Anruf sollt' er nahn sofort.

Auch ward ihm eingeschärft – bei seiner Liebe –,

Daß, wenn kein Ruf scholl, er am Platze bliebe.


46.

›Geh‹, sprach Lurcan, ›verfolge deine Zwecke!‹

Und zum Gelasse ging der Ritter hin;

Er barg sich in der stillen Lauscherecke,

Dort vor dem Söller in der Straße drin.

Und bald erscheint der trügerische Recke,

Ginevras Schande plant sein arger Sinn.

Das Zeichen, das vorher von ihm bestimmte,

Gibt mir, die nicht den Trug ahnt, der Ergrimmte.


47.

Und ich, in weißem Kleid mit goldnen Streifen,

Die vorn und rings am Leibchen gehn entlang

(Ein Netz aus reinem Gold, mit roten Schleifen

Und schönen Quasten um das Haupt sich schlang –

Ginevra ganz allein trug diese Reifen,

Sonst niemand mehr –), tret', als der Laut erklang,

Hinaus auf den Balkon, der solch ein Bau ist,

Daß vorn und nach den Seiten man zur Schau ist.
[92]

48.

Lurcan, ob von Besorgnis jetzt befallen,

Sein Bruder sei schon in Gefahr gebracht,

Ob jener Wunsch, der ja gemein uns allen,

Geheimnis zu erspähn, in ihm erwacht,

War der Versuchung schließlich doch verfallen

Und hielt sich nur voll Vorsicht in der Nacht.

Noch nicht zehn Schritt von seines Bruders Klause

Blieb er verborgen in dem gleichen Hause.


49.

In dieser Tracht – ich wähnt' uns ganz alleine –

Stellt' ich auf offenem Balkon mich dar

(Ich ging dorthin ja früher mehr als eine

Und als zwei Nächt' ohn' Nachteil und Gefahr).

Hell leuchtete das Kleid im Mondenscheine;

In Wuchs und in den Zügen selber war

Ich von der Herrin gar nicht allzuferne;

Man konnte uns verwechseln gut und gerne,


50.

Zumal vom Söller und des Schlosses Mauer

Ein großer Raum war bis zum öden Haus.

So legen beide Brüder, auf der Lauer,

Sich alles nach des Herzogs Willen aus.

Bedenke, wie des Ritters Herz voll Trauer

Sich wild zusammenpreßt in Schmerz und Graus!

Der Herzog nahm, die ich ihm bot, die Leiter

Und stieg auf ihr hinauf zum Söller weiter,


51.

Wo meine Arme ihn sogleich umschlangen;

Nicht ahn' ich, daß mich fremde Augen sehn:

Ich küß ihn auf den Mund und auf die Wangen,

Wie stets bei seinem Kommen war geschehn.

Den Trug erhöhend, hält er mich umfangen,

Läßt längre Zeit als sonst dabei vergehn.

Er, der als Zeuge kam des schnöden Falles,

Steht elend dort und schaut von fernher alles.
[93]

52.

Vernichtet steht er –; daß er sterben werde,

Scheint einz'ger Trost im übermächt'gen Schmerz:

Er setzt den Knauf des Schwertes auf die Erde

Und gibt der Spitze Richtung auf das Herz.

Lurcan, der wohl mit staunender Gebärde

Sah einen Menschen klimmen söllerwärts,

Doch, wer es sei, nicht konnte unterscheiden,

Kommt, als der Bruder kürzen will sein Leiden.


53.

Er hält ihn ab, daß er mit eignen Händen

In blinder Wahnsinnswut sein Mörder sei;

Stand er entfernter, wär's nicht abzuwenden,

Und kam er später – wär' es schon vorbei.

›Unsel'ger‹, rief er, ›laß die Torheit enden!

Ward dein Verstand denn ganz zur Raserei?

Kannst du nicht Treubruch einer Frau verwinden?

O, schwänden sie wie Nebel vor den Winden!


54.

Laß jene sterben, die verdient zu sterben!

Für beßre Sache spare deinen Tod!

Als du nicht Falschheit sahst, war's Zeit zu werben;

Jetzt wird für dich ein starker Haß Gebot.

Dein Auge ließ Gewißheit dich erwerben,

Daß sie verbuhlt ist; die wird nicht mehr rot!

Das Schwert, statt gegen dich es zu erheben,

Bewahre, ihres Trugs Beweis zu geben!‹


55.

Als der Betrübte sah den Bruder kommen,

Stellt' er sein blutiges Beginnen ein;

Doch sollte, was er still sich vorgenommen,

Flucht in den Tod, nicht aufgegeben sein,

Er ging davon, das Herz nicht bloß beklommen,

Nein, wie durchbohrt von Schmerz und tiefer Pein.

Vorm Bruder stellt er sich, als sei geschwunden

Der grimme Haß, den er noch just empfunden.
[94]

56.

Geführt von der Verzweiflung wilden Trieben,

In aller Stille war er morgens fort.

Wohin er sich gewandt, wo er geblieben,

Blieb unbekannt noch viele Tage dort.

Was aus dem Land ihn habe weggetrieben,

Das wußten jene beiden nur am Ort.

Im Königshaus ward dies und das gesprochen;

Ganz Schottland hat sich drob den Kopf zerbrochen.


57.

Acht Tag' und mehr am Hofe so vergingen,

Den Weg ein Waller zu Ginevra fand;

Er brachte Kunde von gar üblen Dingen:

Ertrunken lag im Meer Arïodant.

Der eigne Wille sollte Tod ihm bringen,

Kein Boreas, kein Wind vom Morgenland.

Weit ragt ins Meer ein Fels wie Landeszungen:

Kopfüber war er da hinabgesprungen.


58.

Der Fremde sprach: ›Von mir am Weg gefunden,

Sagt er, bevor die Untat noch geschehn:

Was du Ginevra später sollst bekunden

Als Bote, komm, es jetzt mitanzusehn.

Sag' ihr, mich hab' ein Anlaß nur gebunden,

Das hier zu tun, was jetzt wird vor sich gehn:

Zuviel Erblicktes wollte mir nicht taugen,

Und glücklich wär' ich, hätt' ich keine Augen.


59.

Wir waren grad, wo Irland gegenüber

Hoch Capobaß sich streckt ins Meer hinaus:

Als er gesprochen, sah ich ihn kopfüber

Vom Felsen springen in der Wogen Graus.

Ich ließ ihn in der See und lief hinüber,

So bring' ich gleich die Botschaft dir ins Haus.‹ –

Ginevra, wie verwirrt, mit bleichen Wangen

Blieb zitternd zwischen Tod und Leben hangen.
[95]

60.

Gott, welchen Jammer mußte sie erst tragen,

Als sie allein war in dem Schlafgemach!

Wie sie das Kleid zerriß, die Brust zu schlagen!

Den goldnen Haaren tat sie Schimpf und Schmach,

Und immer mußte sie das Wort sich sagen,

Das der Geliebte vor dem Sterben sprach:

Gekommen sei das Leid, der Tod des Trauten,

Kurz alles nur vom Allzuvielgeschauten.


61.

Am ganzen Hofe ging von ihm die Märe,

Der sich aus großem Schmerz das Leben nahm.

Der König unterdrückte nicht die Zähre

Und auch kein Rittersmann und keine Dam'.

Der Bruder aber fast gestorben wäre,

In bittrem Leid ertränkt und tiefem Gram.

Schon nach dem Dolche tasteten die Hände,

Damit er bald den teuren Bruder fände.


62.

Und immer wieder sagt' er sich im stillen:

Ginevra nur hat ihm den Tod gebracht;

Zum Sterben führte Gram und Widerwillen

Ob dessen, was er sah in jener Nacht.

So blind verrannt' er sich in wilde Grillen,

Von Schmerz und Kümmernis wie toll gemacht,

Daß es ihm gleich galt, alle Huld zu missen,

Von Volk und König sich gehaßt zu wissen.


63.

Und vor den König, als im Saale drinnen

Der ganze Hof war, trat er hin und sprach:

›Herr, wisset, wenn mein Bruder kam von Sinnen

Und sich den Tod gab, weil das Herz ihm brach,

's ist eurer Tochter schändliches Beginnen:

Denn solch ein Schmerz ihn in die Seele stach,

Als er sie sah der Keuschheit sich begeben,

Daß Tod ein größrer Freund ihm war als Leben.
[96]

64.

Er liebte sie; weil all sein Streben offen

Und ehrlich war, enthüll' ich alles gern.

Zur Frau sie zu gewinnen durft' er hoffen

Durch treuen Dienst, geleistet seinem Herrn.

Da hat er einen auf dem Baum getroffen,

Der mit dem Duft ihn labte nur von fern;

Die heißersehnte Frucht sieht er sich rauben,

Die nur für ihn bestimmte (mocht' er glauben).‹


65.

Ginevra zeigt er dann, hab' er gesehen

Ein Seil entsendend von des Söllers Rand:

Ein Mensch begann darauf hinaufzugehen,

Doch ward er von Lurcanio nicht erkannt;

Denn jener hatte gut sich vorgesehen,

Das Haar verdeckt, verändert das Gewand.

In seinem Schwerte den Beweis er trage,

Daß alles Wahrheit sei, was hier er sage.


66.

Denk, welche Qual den Vater elend machte,

Als er sein liebes Kind beschuldigt hört'!

Ach, er vernahm, was er unmöglich dachte

Und was ihm völlig seinen Sinn verstört.

Dem Wahnsinn nahe ein Gedank' ihn brachte:

Will keiner, ob der Niedertracht empört,

Lurcan der Lüge mit dem Schwerte zeihen,

Muß ja sein Urteilsspruch dem Tod sie weihen!


67.

Herr, das Gesetz, vermein ich, wirst du kennen:

Es kündigt Todesstrafe jeder an,

Mädchen wie Frau, hört man sie Buhle nennen,

Weil sie sich andrem gab als ihrem Mann.

Will keiner als ihr Kämpe sich bekennen,

Stirbt sie, sobald ein Monat nur verrann:

Ein Sieger muß Beweis der Unschuld geben

Und zeigen, daß mit Recht sie dürfe leben.
[97]

68.

Der König will, die Arme zu befreien,

Weil sie unmöglich schuldig heißen kann,

Es soll – mit großer Mitgift – der sie freien,

Durch dessen Waffen Klag' und Schimpf zerrann.

Es zeigt sich keiner aus der Krieger Reihen;

Unschlüssig sehen sie einander an:

Lurcan hat großen Ruhm, mit ihm sich schlagen,

Will keiner von den andern Rittern wagen.


69.

Auch fügt's das Schicksal, grausam ohnegleichen:

Zerbin, der kühne Bruder, fehlt der Maid.

Er soll seit Monden durch die Ferne streichen,

Die Fama kündet seine Tapferkeit.

Wär' er zu finden in den Nachbarreichen,

Wo ihm die Botschaft naht in kurzer Zeit,

Unfehlbar würd' er für die Schwester fechten,

Wenn ihm entsandte Diener Kunde brächten.


70.

Durch andres noch, als Waffen, zu erkunden

War mittlerweil' der König sehr erpicht,

Ob die Beschuld'gung wahr sei, ob erfunden,

Ob sie den Tod verdiene oder nicht.

So rief er denn bereits nach ein paar Stunden

Der Fürstin Frauen vor sein Angesicht.

Ich sah voraus, wenn nun auch mich sie fingen,

Werd' es Gefahr mir und dem Herzog bringen.


71.

Noch in der Nacht entschlüpft' ich leis dem Bette,

Worauf ich fern vom Hof zum Herzog schlich;

Ich zeigt' ihm, nötig sei's, daß er mich rette;

Um unser beider Leben handl' es sich.

Er lobt mich, spricht von einer sichren Stätte:

Dahin, für ihn zur Freude, send' er mich.

Und einer Burg, nicht weit von hier gelegen,

Schickt er durch zwei der Diener mich entgegen.
[98]

72.

Du weißt es, Herr, wie alle meine Triebe

Hinzielten auf des Herzogs Glück fürwahr;

Und daß er auch noch dann mein Schuldner bliebe,

Wenn er mich liebt' und ehrte, das ist klar.

Sag' mir, was ich empfing für meine Liebe

Und was der Lohn für meine Dienste war?

Kann irgendeine von uns armen Frauen,

Liebend, das Glück, geliebt zu werden, schauen!


73.

Besorgt ist dieser Böse, Ungetreue,

Am Ende könne wanken doch mein Mut,

So daß ich aufzudecken mich nicht scheue

Den wölfischen Betrug und seine Wut.

Er sagt, bis sich des Königs Sinn erneue

Aus Grimm und Zorn, woll' er mich bergen gut

Und mich dorthin zu seinem Schlosse senden –

In Wahrheit aber zu des Todes Händen.


74.

Dem Führer hatt' er heimlich aufgetragen,

Sobald wir hier im dunklen Walde sei'n,

Zu meiner Treue Lohn mich zu erschlagen.

Und wärst du nicht erschienen auf mein Schrei'n,

Hätt' alles dies sich wirklich zugetragen.

So lohnt die Liebe, die ihr Treue weihn!«

Dies der Bericht Dalindas, herb und bitter,

Den sie, des Weges reitend, macht dem Ritter.


75.

Dem aber kommt es überaus gelegen,

Daß an die Maid ihn hier der Zufall band,

Durch die mit einemmal dem jungen Degen

Der Zweifel an Ginevras Unschuld schwand.

War sein Entschluß schon, helfend sich zu regen,

Wenn er das Königskind auch schuldig fand,

Erneut er mit noch größrer Wärme diesen,

Nachdem Verleumdung offenbar erwiesen.
[99]

76.

Zur Stadt Sankt-Andres, wo am Königsherde

Ein jedes Glied des hehren Hauses weilt,

Harrend, daß noch der Held erscheinen werde,

Der dort im Kampf den Ruf der Tochter heilt,

Ist jetzt Rinald mit aller Macht der Pferde

Auf etwa eine Meil' herangeeilt.

Der Stadt schon naht er, als er frische Kunde

Am Weg vernimmt aus eines Knappen Munde:


77.

Ein fremder Ritter hat sich eingefunden,

Ginevras Kämpe will er sein im Streit;

Nichts läßt sich durch die Waffenzier erkunden:

Still und verschlossen hält er sich beiseit;

Verhüllt ist sein Gesicht zu allen Stunden;

Entschleiert sah ihn keine Tageszeit.

Sein Knappe schwört, daß er den Herrn nicht kenne:

Er wisse nicht, wie man den Ritter nenne.


78.

Sie reiten, bis sie an den Mauern stehen;

Dalinda schliche gerne jetzt sich fort;

Sie fürchtet sich und will nicht weitergehen,

Doch folgt sie noch Rinaldos Trosteswort. –

Verschloßne Tür! – Als sie den Pförtner sehen,

Fragt, ihn Rinald: »Sag' an, was gibt es dort?«

Gegangen – heißt's, sind Männer sowie Frauen,

Das ganze Volk, den Zweikampf anzuschauen,


79.

Den grad am andern End' ein fremder Streiter

Zu dieser Zeit bestehe mit Lurcan,

Wo Rasen sei, ein ebener und breiter;

Im Gang schon sei der Kampf auf jenem Plan.

Der Pförtner öffnet drauf für unsre Reiter,

Dann wird das Gitter wieder zugetan.

Durch öde Straßen trabt Rinald geschwinde;

Er ließ im ersten Gasthaus schon Dalinde.
[100]

80.

Sie werde, sprach er, Sicherheit dort haben,

Er reit' allein ein Weilchen jetzt fürbaß;

Und nach dem Kampfplatz sah sie rasch ihn traben,

Wo jene beiden noch ohn' Unterlaß

Angriffs- und Antworthieb' einander gaben.

Lurcan ist ganz erfüllt von tiefem Haß

Auf die Prinzessin; treu sie zu beschützen,

Will jener alle Kraft mit Eifer nützen.


81.

Sechs andre Ritter noch zu Fuße halten

Mit Schwert und Harnisch um das Kämpferpaar.

Nach dem Befehl des Herzogs hier sie schalten;

Der stellt sich stolz auf edlem Renner dar.

Als Reichsmarschall muß er des Platzes walten

Und nimmt an diesem Tag die Ordnung wahr.

Froh ist sein Herz, hochmütig seine Brauen,

In solcher Not Ginevra hier zu schauen.


82.

Rinald dringt vorwärts zwischen Meng' und Menge;

Platz schafft ihm Bajard, sein erlesnes Roß.

Nicht lahm und säumig, sei es noch so enge,

Ist, wer sein Dröhnen hört im Menschentroß.

Hoch ragt Rinald empor aus dem Gedränge;

Man sieht es wohl: das ist ein Heldensproß.

Er hält am Königssitze vor dem Ringe:

Ein jeder lauscht, was wohl der Ritter bringe.


83.

»Erlauchter Herr,« sprach er, gehört von allen,

»Hör' mich, laß hier den Kampf nicht weitergehn!

Denn wer von diesen beiden möge fallen,

Ein Unrecht wär' mit seinem Tod geschehn.

Ehrlich ist der und doch dem Trug verfallen,

Lügt nicht und muß auf Falschem doch bestehn:

Zum falschen Kläger ihn der Irrtum machte,

Der schon vorher Tod seinem Bruder brachte.
[101]

84.

Dem andern selbst ist dunkel sein Gebaren;

Was ihn – in Todes Nähe – zog herbei,

Hochsinn allein und eitel Güte waren,

Daß solcher Liebreiz nicht des Todes sei.

Der Unschuld bring' ich Rettung aus Gefahren,

Das Gegenteil wird der Verräterei.

Doch erst befiehl, den Zweikampf einzustellen;

Dann gib Gehör mir, alles aufzuhellen!«


85.

Des fremden Ritters Hoheit ohnegleichen

– Er schien ein Held, ein würdiger, fürwahr –

Macht Eindruck auf den König, und das Zeichen

Gibt er, das Halt gebeut dem Kämpferpaar.

Vor ihm, dem ganzen Volk, den Arm und Reichen,

Der Ritterschaft, legt Herr Rinald nun dar,

Wie Polineß versuchte, schnöd' mit Lügen

Den Ritter ob Ginevras zu betrügen.


86.

Die Waffen sollen zum Beweise dienen,

Daß man die lautre Wahrheit hat gehört.

Geholt wird Polineß: – er ist erschienen,

Jedoch – man sieht's – im Antlitz ganz verstört.

Indes er leugnet mit verbißnen Mienen.

»Nun«, spricht Rinald, »Beweis dem Schwert gehört.«

Gewaffnet sind sie, und der Platz bereit ist,

Daß kein Verzug mehr für den blut'gen Streit ist.


87.

Wie König nun und Volk vom Wunsche brennen:

Ginevras Unschuld zeige das Gefecht!

Durch Gott, so hoffen sie, wird man erkennen:

Man zieh sie schwerer Sünde ungerecht.

Und grausam, stolz, falsch und verworfen nennen

Die Stimmen rings den Herzog, bös und schlecht.

Ein Wunder schien' es keinem, wenn die Märe

Von dem Betrüger rein erfunden wäre.
[102]

88.

Bleich steht der Herzog – seine Lippen beben –.

Das Antlitz starr und dumpf das Herz und schwer,

Beim dritten Schall sieht man die Lanz' ihn heben:

Da stürmt Rinald in vollem Lauf daher.

Er zielt und will, ihm gleich den Rest zu geben,

Durchbohren den Verräter mit dem Speer.

Und also kam es – sieh, dem bösen Recken

Blieb in der Brust der Spieß zur Hälfte stecken.


89.

Am Schaft gespießt, fliegt Polineß vom Pferde

Sechs Ellen weit: so mächtig war der Stoß.

Rinald springt ab, packt, eh er von der Erde

Aufstehe, seinen Helm und knüpft ihn los.

Doch jener kämpft nicht mehr: mit Angstgebärde,

Demütig, bittet er um Gnade bloß;

Und er bekennt – vorm Hof, vor aller Ohren –

Den Trug, durch den das Leben er verloren.


90.

Mitten im Sprechen noch – eh er kann enden –

Ihm Stimm' und Leben schon geschwunden sind.

Den König, der des grimmen Todes Händen

Und üblem Ruf entrungen sieht sein Kind,

Hört man zum Himmel Freudenrufe senden,

Als ob er jetzt die Krone wiederfind',

Die er dem Haupte sah bereits entrissen:

Drum soll Rinald von Ehren keine missen.


91.

Er sieht, als das Visier emporgeschoben,

Den Helden, ihm von früher schon bekannt;

Und streckt die Hand zum Himmel, Gott zu loben,

Der solchen Schutz in Not ihm hat gesandt.

Der andre Ritter, der den Arm erhoben,

Als Unglück auf Ginevra sich gewandt,

Und unbekannt eintrat für sie zum Streite,

Sieht alles dies, doch steht er still beiseite.
[103]

92.

Der König bittet ihn, sich kund zu geben

Oder auch nur im offnen Helm zu stehn,

Weil er und alle hier des Wunsches leben,

Sein' edle Absicht recht belohnt zu sehn.

So muß er denn den Helm vom Haupte heben

Nach langem Bitten, und – was sonst geschehn,

Das möcht' ich für den nächsten Sang verschieben,

Will weiter zuzuhören Euch belieben.

Quelle:
Ariosto, Ludovico: Der rasende Roland. In: Sämtliche poetischen Werke, Berlin 1922, Band 1, S. 80-104.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der rasende Roland
Die Historia vom Rasenden Roland
Ludovico Ariosts Rasender Roland nacherzählt von Italo Calvino

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