Fünfzehnter Gesang

1.

's ist immer löblich, Sieg davonzutragen,

Ob man mit Geist ihn, ob durch Glück gewann,

Wobei, wenn viel Verlust ist zu beklagen,

Des Führers Ruhm sich freilich schmälern kann.

Der Sieg wird ewig über alle ragen

Und langt fürwahr bei Götterehren an,

Der ohne Schaden läßt die Seinen bleiben

Und doch den Feind weiß in die Flucht zu treiben.


2.

Herr, solch ein Ruhm ward Eurem Sieg gerade

Über den Leun, so grimmig auf dem Meer,

Der da besetzt hielt beide Po-Gestade

Bis an die See von Francolino her.

Wenn er nun künftig brüllt auf meinem Pfade,

Seh' ich nur Euch, so beb' ich nimmermehr.

Ihr zeigtet, wie man's halten muß in Kriegen:

Die Seinen schonen und den Feind besiegen.


3.

Der Heide hat, zu kühn, das nicht verstanden:

Er trieb die Seinen in den Schlund hinein,

Wo in gefräß'ger Flamme sie verschwanden

Alle – verschont konnt' auch nicht einer sein.

Nicht Raum im Graben alsoviele fanden,

Jedoch das Feuer machte bald sie klein

Und zog zu leerer Asche sie zusammen,

Daß sie dem Ort sich fügten in den Flammen.
[1]

4.

Dort in der rauchgeschwärzten Grotte liegen

Elftausend Krieger, zwanzig noch und acht,

Die widerwillig hier hinabgestiegen:

Des Führers Torheit zwang sie zu der Schlacht.

Gefräß'ge Flammen um die Armen wiegen,

Die fort vom Lichte schieden in die Nacht.

Das Unheil lag auf eines Manns Gewissen:

Er, Rodomont, blieb solcher Qual entrissen.


5.

Mit wunderbarem Sprung in Feindes Mitten

Ist er gelangt zum innern Ufer her.

Wär' er zur Tiefe mit hinabgeschritten,

Des Angriffs Ende dies gewesen wär'.

Als seine Blicke nach der Hölle glitten,

Hin, wo er lodern sah das Feuermeer,

Der Seinen Ruf vernahm, – den Himmel sucht er

Und ihm mit gräßlich wildem Schreie flucht er.


6.

Inzwischen richtet König Agramante

Gewaltig wucht'gen Angriff auf ein Tor.

Er hoffte, während dort die Schlacht entbrannte,

Wo reiche Beute sich der Tod erkor,

Daß man hierher nur wen'ge Wachen sandte,

Ausreichend sei da wohl sein kleines Korps.

Mit ihm Arzillas Herrscher Bambirag ist

Und Baliverz, der von gar bösem Schlag ist,


7.

Von Mulga Corineus und Prusio – wohnen

Tät dieser Fürst am sel'gen Inselstrand –,

Malabufers – er herrscht in den Regionen

Von Fez, wo niemals noch die Sonne schwand –

Und andre Herrn und sonstige Personen,

Trefflich bewaffnet und im Kampf gewandt,

Dazu viel wertlos Volk noch, nackte Wilde:

Ihr Herz zu wappnen reichten keine Schilde.
[2]

8.

Grad umgekehrt als es die Feinde wähnen

Hat aber sich die Sache hier gemacht:

Der Kaiser selbst stellt sich den Sarazenen

Mit seiner Paladinenschar zur Schlacht:

Mit Salamon, mit Holger auch, dem Dänen;

Zwei Angelin, zwei Guido halten Wacht.

Von Bayern Naims und Otto sind erschienen

Mit Berlinquier und Avol und Avinen.


9.

Sodann noch Leute von geringrem Schlage,

Lombarden, Franken, aus den deutschen Gaun.

Bemüht, vorm Herrn zu glänzen an dem Tage,

Sucht jeder Krieger wacker dreinzuhaun.

Erlaubt jedoch, daß ich es später sage,

Denn hin nach meinem Herzog muß ich schaun,

Der aus der Ferne nickt und winkt mit Schreien,

Ihn endlich aus der Feder zu befreien.


10.

's ist Zeit, zurückzugehn, wo ich verlassen,

Astolf, den fahrenden, aus Engelland,

Der die Verbannung jetzt begann zu hassen,

In Sehnsucht nach der Heimat heiß entbrannt.

Und Rückkehr hatt' ihn jene hoffen lassen,

Die in dem Kampf Alcine überwand.

Nun will sie alle Mühe drauf verwenden,

Auf sichrem, gutem Weg ihn zu entsenden.


11.

Eine Galeere soll zur Reise dienen –

Es fuhr noch keine beßre durch das Meer.

Voll Sorge, eine Störung von Alcinen

Bringe der Reise sonst wohl noch Beschwer,

Schickt sie mit Andronika Sophrosynen

Nebst einer Flotte und mit starkem Heer,

Bis ans Arab'sche Meer zu Persiens Golfen

Dem Herzog Astolf sei hinweggeholfen.
[3]

12.

Vorbei an Skythien soll das Schiff sich winden,

Inder- und Nabatäerstrand entlang,

Um Persien und das Rote Meer zu finden

Auf einer Wasserstraße, freilich lang.

Doch vor dem kurzen Weg mit bösen Winden,

Die dort im Sturmmeer drohen, ist ihr bang.

Der Sonn' auch muß man oft in jenen Meeren

Gar sehr, und ganze Monde lang, entbehren.


13.

Als sie nach Wunsch sah alles hergerichtet,

Gab jene weise Fee den Herzog frei,

Nachdem sie ihn belehrt, gewarnt, verpflichtet

Mit gutem Rat und Winken mancherlei;

Zum Schutz vor Zauber, der zugrunde richtet,

Bekommt er, daß er ganz geborgen sei,

Ein schön und nützlich Buch als Abschiedsgabe,

Damit er's ihr zuliebe bei sich habe.


14.

Wie man der Zauberkunst kann widerstehen,

Führt das von ihr geschenkte Büchlein aus;

Ob vorn die Sachen, ob sie hinten stehen,

Aus dem Verzeichnis findet man's heraus.

Dann noch mit einem Ding ward er versehen,

Das über alle Gaben ragt hinaus:

Ein Horn, des Töne gar erschrecklich klingen

Und jeden, der es hört, zum Fliehen bringen.


15.

Ich sage, wenn des Hornes Töne schallen,

Flieht männiglich entsetzten Angesichts;

Ertragen kann's kein einzig Herz von allen,

So weit da reicht der Strahl des Himmelslichts.

Erdbeben, Windgebrüll, des Donners Hallen

Ist im Vergleich zu diesem Horne nichts.

Der gute Herzog tät sich schön bedanken

Und schied von dannen auf des Schiffes Planken.
[4]

16.

Den Hafen lassend und die stillern Wogen,

Im günst'gen Wind die Segel straff gespannt,

An Städten reich ist er vorbeigeflogen,

Wie viele sind am duft'gen Inderstrand.

Und rechts und links derweil vorüberflogen

Viel tausend Inseln – bis Sankt Thomas' Land

Zuletzt erschien, von wo an Schiffes Borden

Der Lenker jetzt mehr Richtung nimmt gen Noroen.


17.

Den goldnen Chersonesus streifend grade

Die schöne Flotte durch die Meerflut zieht.

Sie gleitet hin am üppigen Gestade,

Wo man den Ganges weiß im Meere sieht,

Schaut Taproban, Cori am Meeresbade

Und, wie die Woge zwischen Küsten flieht.

Sie fuhren lange, bis Cochin sie fanden,

Und vorwärts ging's, hinweg aus Indiens Landen.


18.

Hinfahrend mit so trefflichem Geleite,

Fragt Astolf nun, der auf Belehrung brennt,

Fee Andronika, ob von jener Seite,

Die nach der Sonne Sinken sich benennt,

Ein Ruderschiff, eins, das da Segel breite,

Manchmal erschein' im Meer des Orient,

Und ob man, ohn' am Landsaum anzulegen,

Nach Frankreich könn' und England sich bewegen.


19.

Sie sprach: »So höre denn! An allen Stellen

Wird unsre Erde von dem Meer umringt,

Und ineinander fließen alle Wellen,

Wo kalt die Flut und wo sie kochend springt.

Doch weil da vornen sich entgegenstellen

Die Strecken, die das Mohrenland umschlingt,

Äthiopien unterm Mittag, hört man sagen,

Es dürfe sich Neptun nicht weiter wagen.
[5]

20.

Drum will kein Schiff sich nach Europa wenden

Vom Osten unsres Indien heraus,

Und von Europa will man keins verschwenden,

Das hier nach unsrer Gegend streb' hinaus.

Sie lassen immer sich nach Hause senden,

Denn jenes Land sieht wie ein Hemmnis aus:

Man meint, daß es, weil von so großer Länge,

Mit andrer Hemisphär' zusammenhänge.


21.

Doch fern aus West – ich seh's – nach vielen Jahren

Ein Typhys kommt und neue Heldenschar:

Sie werden eine Straße dann gewahren,

Die unbekannt am heut'gen Tage war;

Die einen seh ich Afrika umfahren

Der Küst' entlang des Volks mit Negerhaar,

Bis sie, den Steinbock lassend, jenes Zeichen,

Von wo die Sonn' uns wiederkehrt, erreichen


22.

Und so der langen Linie Ende sehen,

Wo man zu schauen meint der Meere zwei,

Und nach den Inseln rings und Ufern spähen,

Ob es Arabien, Indien, Persien sei;

Und andre fort von beiden Ufern gehen,

Die Herkules vor Zeiten legte frei,

Hinstrebend, an der Sonne Bahn gebunden,

Um neue Welt und Länder zu erkunden.


23.

Ich seh' das heil'ge Kreuz und seh' entfalten

Die Kaiserbanner an dem grünen Strand,

Seh' viele noch in Schiffen Wache halten,

Andre verwalten jenes neue Land;

Seh' zehn verjagen tausend, seh' die alten

Reiche bis Indien in der Spanier Hand

Und Karls des Fünften tapfre Kapitane

Aufpflanzen überall die Siegesfahne.
[6]

24.

Gott hielt den Weg in Zeiten, die vergangen,

Verhüllt, und lang noch wird verhüllt er sein;

Es soll auf ihm noch weiter Dunkel hangen,

Bis einst das achte Alter bricht herein.

Dann wird der Herrscher auf den Thron gelangen,

Dem Gott die Weltenherrschaft will verleihn,

Der weise Kaiser, hehr und auserlesen,

Der edelste, der seit August gewesen.


25.

Ich seh', am linken Rheine tritt ins Leben

Aus Österreichs und Aragoniens Blut

Ein Fürst, der – wen man sonst noch mag erheben –

Wird unvergleichlich sein an Wert und Mut:

Er wird den Thron Asträa wiedergeben,

Neu schenken ihr vielmehr des Lebens Gut;

Und Tugenden, die aus der Welt verschwanden,

Bringt er mit ihr zurück, befreit von Banden.


26.

Für solche Trefflichkeit zum hohen Lohne

Beut ihm die allerhöchste Güte dar

Nicht nur des großen Kaiserreiches Krone,

Die des August, Trajan und Marcus war,

Nein, auch von allen Ländern fernster Zone,

Daß nie die Sonn' ihr schwindet noch das Jahr,

Damit es unter ihm zur Wahrheit werde:

Ein Hirt allein und eine einz'ge Herde.


27.

Und daß nun alles leichter vorwärts schreite,

Was in des ew'gen Himmels Willen liegt,

Setzt ihm die höchste Weisheit noch zur Seite

Feldherrn auf Land und Meeren unbesiegt.

Ich seh' Ernando Cortez, wie er weite

Städt' unter seines Kaisers Zepter biegt.

Und so entfernt im Osten Reich und Land sind,

Daß sie uns selbst in Indien unbekannt sind.
[7]

28.

Colonna und Pescara sind zu sehen,

Ein junger Herr del Vast ist ihnen nah.

Zu teuer kommt durch diese drei zu stehen

Den goldnen Lilien Land Italia.

Zum Wettstreit kühn seh' ich den dritten gehen,

Um reichern Lorbeer als der beiden da,

Dem Renner gleich, der spät erst stürmt von hinnen,

Die andern einholt, schließlich zu gewinnen.


29.

So mutig seh' ich, treu und wohlerfahren

Alfons (denn diesen Namen führt der Held),

Daß er mit seinen sechsundzwanzig Jahren,

Dem Blütenalter, den Befehl erhält

Vom Kaiser über seine Kriegerscharen

Zum Wohl des Heers. Will dann die ganze Welt

Der Kaiser völlig zum Gehorsam bringen,

Mit solchem Feldherrn wird es ihm gelingen.


30.

So wie durch diese, wo man nur mag schreiten,

Das Reich sich stets an Macht gefördert sah,

Wird auf dem Meere, das nach zweien Seiten

Europa badet hier, dort Afrika,

Der Sieg in jeder Kriegsfahrt ihn begleiten;

Ist doch sein Freund Andrea Doria,

Der Doria, durch dessen Waffentaten

Das Wasser frei sein wird von Meerpiraten.


31.

Er ist Pompejus selbst noch überlegen,

Der auch Piraten schlug und sie vertrieb –

Denn nicht als gleiche traten die entgegen

Dem mächt'gen Reich, das übrall Herrin blieb,

Doch Doria wird rein die Meere fegen

Mit eigner Kraft, aus eignem Geist und Trieb.

Wo seines Namens Ruf sich mag erheben,

Von Calpe bis zum Nil, die Schiffe beben.
[8]

32.

Ich seh' in Schutz und sicheren Geleiten

Des Feldherrn, den ich dir gerad genannt,

Karl hin zur Krönung nach Italien reiten:

Dort öffnet ihm das Tor Andreas Hand.

Verdienten Lohn läßt der sodann beiseiten,

Ihn hinzugeben an das Vaterland:

Durch ihn soll Freiheit in dem Lande walten,

Das wohl ein andrer hätte selbst behalten.


33.

Und dieses sei ihm höher angeschrieben,

Als hätt' in Frankreich oder Spanien er

Oder in Afrika den Feind vertrieben

Oder bei Euch besiegt des Julius Heer.

Oktav und er, der sein Rival geblieben,

Anton, errangen nicht des Ruhmes mehr

Durch Waffentat: ward ihnen Lob, so schwand es,

Weil sie's gewonnen nur zum Druck des Landes.


34.

Wer an die Freiheit rührt mit Frevelhänden,

Der stehe schamrot, mit gesenkten Braun;

Hört er den Doria-Ruf zum Himmel senden,

Kann er sich aufzublicken nicht getraun.

Ich sehe Karl den Lohn vergrößert spenden:

Er gibt ihm jenes reichen Landes Aun

(Zu dem, was ohnedies er bieten wollte),

Das die Normannen mächtig machen sollte.


35.

Der edle Karl wird huldvoll sich erzeigen

Nicht nur dem einen großen Kapitan,

Nein, jedem einzelnen, den nicht als Feigen

Im Kaiserdienst die Herrscheraugen sahn.

Städte zu geben, ja ein Land zu eigen

Einem Getreuen, scheint ihm wohlgetan,

Und höher wird ihm diese Freude gelten

Als neue Reich' erwerben, neue Welten.«
[9]

36.

So ruft die weise Frau das Bild von Siegen,

Die später, einst, nach vieler Jahre Lauf,

Die Feldherrn Karls gewinnen in den Kriegen,

Dem jungen Herzog Astolf jetzt herauf

Und läßt den Morgenwind sich sanfter wiegen

Und zieht den Zaum ihm fester bald darauf:

Sie macht, daß dieser Wind, dann jener wehe,

Damit nach Wunsch die Fahrt vonstatten gehe.


37.

Inzwischen sahn sie fernehin sich breiten

Auf weitem Raume rings das Persermeer,

Bis sie zum Golf in wenig Tagen gleiten,

Der seinen Namen hat von Weisen her.

Dort landen sie, und an des Ufers Seiten,

Zur See gekehrt, ruhn ihre Schiffe leer.

Furcht vor Alcinen ist nunmehr geschwunden,

Und Astolf hat den Weg zu Land gefunden.


38.

Er zieht dahin durch Bergland und durch Tale,

Durch Wald und Feld, bald quer und bald gerad,

Wo oft im Dunklen, oft beim Sonnenstrahle

Vorn oder hinten Räuberschar ihm naht;

Sieht Löwen, gift'ge Drachen viele Male

Und andres Untier kreuzen seinen Pfad:

Doch führt er nur sein Wunderhorn zum Munde,

Da flieht voll Schrecken alles in der Runde.


39.

Das glückliche Arabien der Mohren

Sah er, an Myrrhen- reich und Weihrauchduft,

Das als sein Heim der Phönix hat erkoren

Von allen Landen, in des Himmels Luft;

Sah dann die Flut, die Gott heraufbeschworen

Zur Rettung Israels als Todesgruft,

Darin die Krieger Pharaos verschwanden,

Und kam zuletzt zu der Heroen Landen.
[10]

40.

Den Fluß Trajan entlang der Herzog reitet

Auf jenem Hengst, der einzig ist, einher,

Der mit so leichten Tritten läuft und schreitet,

Die Spur im Sand zu sehen wäre schwer,

Und keinen Druck dem Gras, dem Schnee bereitet;

Mit trocknen Füßen geht er auf dem Meer

Und fliegt beim Rennen hin in solcher Eile,

Daß nicht so schnell sind Wind und Blitz und Pfeile.


41.

Dies Roß hat Argalia einst besessen;

Es war erzeugt von Flamme und von Wind,

Nie hat es Hafer, niemals Heu gefressen;

Nur reine Lüfte seine Nahrung sind.

Der Herzog kommt, als weitrer Weg durchmessen,

Hin, wo der Fluß im Nilstrom Eingang findt.

Eh noch die Mündung seine Augen sahen,

Zeigte die Flut ein Schiff in raschem Nahen.


42.

Mit einem Klausner (auf die Brust hernieder

Wallte sein weißer Bart), der winkte bang

Astolf ins Boot, recht gütevoll und bieder:

»Wenn dir das Leben, lieber Sohn«, so klang

Es aus der Ferne, »nicht bereits zuwider,

Wenn nicht des Todes Sehnsucht dich bezwang,

So komm mit mir ans andere Gestade,

Denn dieser Weg führt dich zum Tod gerade.


43.

Du gehst auf ihm noch nicht zwei Stunden weiter,

So findest du das blutbefleckte Haus;

Dort wohnt ein Ries', ein grauslich wilder Streiter,

Ragt über Menschenmaß acht Fuß hinaus.

Kein Wandersmann kann hoffen und kein Reiter,

Er komme jemals lebend dort heraus.

Die Opfer häutet er und vierteilt, schindet,

Und mancher lebt, wenn er im Maul verschwindet.
[11]

44.

Nach solcher Grausamkeit pflegt er zu spaßen:

Er nimmt ein wohlgebautes Netz zur Hand;

Flach legt er's in den feinen Staub der Straßen,

Das End' ist oben an sein Dach gespannt.

Geschlungen wohl und zart ist's übermaßen,

Kein Mensch bemerkt's, dem nicht das Ding bekannt.

Die Fremden schreckt er dann mit lautem Brüllen

Und treibt sie hin, wo Maschen sie umhüllen.


45.

Die so Gefangnen schleppt er dann mit Lachen

Samt jenem Netz nach seinem Hause hin,

Nicht Mann, nicht Fräulein Unterschied ihm machen,

Ob sie von hohem oder niedrem Sinn.

Und Fleisch, Gehirn und Blut verschlingt sein Rachen,

Die Knochen läßt er in der Wüste drin.

Und grausig pflegt er rings sein Haus zu schmücken

Mit Menschenhaut in Fetzen und in Stücken.


46.

Geh hier, mein Sohn, o geh auf diesen Wegen,

Wo man zum Meere gut gelangen kann!« –

»Nimm, Vater, Dank für deinen Rat entgegen,«

Antwortet ihm der kühne Rittersmann;

»Gefahr mißacht' ich um der Ehre wegen;

Mehr als das Leben hält sie mich in Bann.

Du lockst umsonst zum anderen Gestade;

Das Ungetüm, das such' ich nun gerade.


47.

Das Fliehn erhielte mich ja wohl am Leben;

Doch Schmach ist schlimmer als der Tod für mich:

Ich sterbe – soll das Schlimmste sich begeben –,

Wo ja so mancher andre schon erblich.

Doch, will im Kampfe Gott mir Segen geben,

Daß jener stirbt und lebend bleibe ich

Können des Weges tausend sicher ziehen,

Der Vorteil ist im Kämpfen, nicht im Fliehen.
[12]

48.

Dem Tod des einen gegenüberstehen

Die vielen, deren Heil es könnte sein.« –

»Mein Sohn,« spricht der, »in Frieden sollst du gehen;

Der Herrgott schließ' in seinen Schutz dich ein

Und lasse Michaels Fittich um dich wehen!«

Er segnet ihn und steigt ins Boot hinein.

Astolf sprengt seinen Weg hin längs des Niles,

Hofft wenig nur vom Schwert, vom Horne vieles.


49.

Ein schmales Pfädchen, von dem Sumpf umfangen

Und von dem Fluß, geht durch den Ufersand:

Man kann auf ihm zum öden Haus gelangen,

Daraus Verkehr und Menschlichkeit verbannt.

Und allerwegen Köpf' und Glieder hangen

Der Armen dort, die fing des Riesen Hand.

Kein Vorsprung ist, und von den Fenstern keines,

Wo da zum mindesten nicht hinge eines.


50.

So wie in Alpendörfern und Kastellen

Der Jäger nach bestandener Gefahr

An Türen nagelt Schmuck von zott'gen Fellen

Und Bärenkopf und -tatzen bietet dar,

So pflegte dieser Riese hinzustellen,

Was ihm als Beut' ins Netz gegangen war;

Ringsum zerstreut sind Reste von Gebeinen,

Und voll von Menschenblut die Gräben scheinen.


51.

In seiner Tür stand grad Caligorante,

So hieß der mitleidlose Unhold ja,

Der Totenbein als Hausesschmuck verwandte,

Wie's sonst mit Gold und Messing wohl geschah,

Und jetzt vor Freude kaum sich selber kannte,

Als er von fern den Herzog kommen sah;

Zwei Monde waren es, man stand im dritten,

Daß keiner dieses Weges war geritten.
[13]

52.

Zum nahen Sumpf, dem dunklen, röhrichtreichen,

Sofort in größter Eile läuft er hin,

Denn sich im Bogen rasch herumzuschleichen

Hinter des Fremden Rücken, ist sein Sinn;

Er hofft, der werde nunmehr rückwärts weichen,

Bis er im staubbedeckten Netze drin,

Wie er's mit andern Fremden stets gemacht hat,

Die das Verhängnis jenen Weg gebracht hat.


53.

Als ihn der Ritter kommen sieht vom weiten,

Hält er das Roß an, nicht der Sorgen bar,

Daß dessen Füße in die Maschen gleiten,

Vor denen er gewarnt vom Alten war:

Jetzt, denkt er, sind fürs Horn die rechten Zeiten:

Er bläst, und mit gewohnter Wirkung zwar.

Das Herz des Riesen macht der Klang erbeben,

Er eilt entsetzt, von dannen sich zu heben.


54.

Der Herzog bläst, er weiß sich vorzusehen,

Weil gar zu leicht ihn sonst das Netz umflicht.

Der Unhold flieht und kann den Weg nicht sehen:

So wie das Herz, verlor er das Gesicht.

Die Furcht läßt ihn nicht, wie er möchte, gehen,

Er meidet seine eigne Falle nicht

Und kommt zum Netz –: im Nu ist er umwunden

Und auf dem Boden, hilflos und gebunden.


55.

Als Astolf sah die große Masse liegen,

Eilt er hinzu, nunmehr voll Sicherheit,

Und, Schwert in Hand, vom Roß herabgestiegen,

Zu rächen Tausende war er bereit.

Doch dann scheint ihm, Gefangnem obzusiegen,

Mehr feiger Sinn zu sein als Tapferkeit:

Denn jener ist gefesselt allerwegen,

Kann nicht den Hals, nicht Arm' und Beine regen.
[14]

56.

Denn von Vulkan ward jenes Netz gewunden,

Aus feinstem Stahl und solche Kunst verwandt:

Es wird auf Erden keine Kraft gefunden,

Zu lösen nur ein einz'ges Maschenband:

Dasselbe war es, das einmal gebunden

Der Venus und dem Mars so Fuß wie Hand

Und von Vulkan gemacht war zu dem Ende,

Daß man zusammen sie im Bette fände.


57.

Dem Schmiede stahl das Netz Merkur verwogen:

Er hätte gern an Chloris sich erfreut,

Ach, Chloris, die mit Eos kommt geflogen,

Eh uns die Sonne ihre Strahlen beut,

Und aus geschürzten Kleides Schoß in Bogen

Uns Lilien, Rosen, schöne Veilchen streut.

Lang lauert' er auf sie und ihre Schätze

Und fing sie in der Luft mit diesem Netze.


58.

Wo sich Äthiopiens Fluß zum Meere wandte,

Da nahm er's – scheint es – bei der Göttin Fang;

Worauf man's in Anubis' Tempel bannte

Fern zu Kanopus manch Jahrhundert lang,

Bis nach dreitausend Jahren der's entwandte,

Nachdem er raubend in den Tempel drang.

Dort packt der Wüterich das Netz zusammen,

Plündert den Tempel, setzt die Stadt in Flammen.


59.

Hier legt er's hin, daß es Gefangne bringe,

Denn wer von ihm gejagt wird, läuft hinein:

Berührt man's noch so leise – eine Schlinge

Umschließt sofort den Hals und Arm und Bein.

Ein Kettchen draus löst Astolf guter Dinge,

Schnürt hinten fest des Riesen Hände ein,

Um Fesseln auch noch Arm und Brust zu geben,

Unlösliche, und läßt ihn sich erheben,
[15]

60.

Nachdem er ihn befreit von andrer Bande,

Der wie ein Mägdlein sanft geworden war.

Nun nimmt ihn Astolf mit sich; auf dem Lande,

In Stadt und Schloß beut er zur Schau ihn dar.

Das Netz auch will er haben: nicht zustande

Bringt Feil' und Hammer ja ein Ding so rar.

Zum Saumtier macht er ihn: von Stätt' zu Stätte

Führt er ihn triumphierend an der Kette.


61.

Auch Helm und Schild noch gab er ihm zu tragen,

Wie einem Diener, und zog weiter fort.

Wo er sich zeigt, hört man voll Jubel sagen:

»Gesichert geht man nun von Ort zu Ort.«

Voran ritt Astolf, bis schon nahe lagen

Die Memphis-Gräber, jenes Memphis dort,

Das heilige, wo Pyramiden stehen.

Auch Kairos Volkesmassen konnt' er sehen.


62.

Das ganze Volk umringte bald den Degen

Und sah den ungefügen Riesen an:

»Wie ist es möglich,« rief man sich entgegen,

»Daß jenen großen band der kleine Mann?«

Kaum konnte Astolf vorwärts sich bewegen,

So drängen sie von jeder Seit' heran,

Und alles staunt, und alles ehrt den Reiter

Und preist ihn hoch als auserlesnen Streiter.


63.

Noch mochte Kairo jener Umfang fehlen,

Von dem man wohl in heut'gen Tagen spricht:

Man könne achtzehntausend Orte wählen –

Sie fassen alle die Bevölkrung nicht;

Und ob die Häuser schon drei Stockwerk' zählen,

Schläft auf der Straße doch manch armer Wicht.

Man sagt, ein Schloß ließ sich der Sultan bauen,

An Pracht und Reichtum wunderbar zu schauen,
[16]

64.

Und fünfzehntausend Mann hab' er als Wache,

Die alle Christenrenegaten sei'n,

Bei sich darinnen unter einem Dache

Mit Pferden und mit Fraun und Kinderlein.

Astolf will sehn, wie durch das Land, das flache,

Der Nil sich senkt und fließt ins Meer hinein

Bei Damiette: dort werde, hört er sagen,

Wer kommt, gefangen oder totgeschlagen.


65.

Der Mündung nahe sei am Nilgestade

Ein Kerl (Bewohner eines Turmesbaus),

Der arg den Bauern und den Wandrern schade;

Bis Kairo zieh' er plündernd jeden aus;

Nichts nütze Widerstand auf seinem Pfade,

Stets komm' er lebend vom Gefecht heraus,

Empfing er auch schon hunderttausend Wunden.

Kein Mittel sei für seinen Tod gefunden.


66.

»Der Parze Werk verhelf' ich wohl zum Ziele«,

Denkt Astolf, hat sich nach Damiette gewandt,

Dort auszublicken nach dem Kerl Orrile

(Denn also war der Räubersmann genannt),

Und beim Zusammenfluß von Meer und Nile

Sieht er den großen Turm an Flusses Rand,

Von jenem Zaubrer als sein Nest erkoren,

Den einem Elf hat eine Fee geboren.


67.

Er sieht im Gang ein Aufeinanderschlagen

Zwischen Orril und einem Kämpferpaar.

Die zwei sind im Gedränge, schon erlagen

Sie jenem bösen Zaubrer um ein Haar.

Doch einen hochberühmten Namen tragen

Die beiden Ritter in der Heldenschar;

Die Söhne Olivers das Erdrund kannte, –

Grifon ist weiß, und schwarz ist Aquilante.
[17]

68.

Ein großer Vorteil freilich stand im Streite

Dem bösen Hexenmeister zu Gebot:

Ein Untier nämlich gab ihm das Geleite,

Wie jene Gegend ganz allein es bot.

Es lebt im Fluß und an der Uferseite,

Und Leichen waren ihm sein täglich Brot:

Die armen Wanderer und Schifferleute,

Wenn unvorsichtig, fielen ihm zur Beute.


69.

Im Sande, nah dem Hafen, ist zu sehen

Das Tier, getötet durch der Brüder Hand;

Es war kein Unrecht an Orril geschehen,

Wenn einer mit dem andern sich verband.

Wird er zerstückt, wills nie ans Leben gehen;

Zerstückt auch, leistet er noch Widerstand:

Ob er um eine Hand, ein Bein gebracht sei,

Er knetet's neu, wie wenn's aus Wachs gemacht sei.


70.

Grifon hat bis zum Mund den Kopf durchhauen

Und Aquilant schlug bis zur Brust hinab –:

Er lacht des Hiebs, so groß ist sein Vertrauen;

Die wüten, denn sie mühn umsonst sich ab.

Wer je den Fluß des Silbers konnte schauen,

Dem die Chemie Merkur als Namen gab –

Er streut und sammelt alle seine Glieder –,

Dem kommt hierbei wohl die Erinnrung wieder.


71.

Er steigt vom Pferd, wenn er den Kopf verloren,

Und tastet rings umher nach ihm zu Fuß,

Nimmt ihn drauf an den Haaren oder Ohren:

Der Kopf hat auf dem Hals sogleich Verschluß.

Mit langem Arm packt Grifon nun den Mohren

Und wirft, es scheint umsonst, ihn in den Fluß;

Denn wie ein Fisch schwimmt jener bei dem Bade

Und kommt mit heilem Kopf an das Gestade.
[18]

72.

Ehrbar geschmückt, zwei Damen auserlesen,

Die eine weiß und die in schwarzem Kleid,

Die jenes Kampfes Ursach' sind gewesen,

Schauen am Ufer zu dem grimmen Streit.

Die Feen sind es, die zwei güt'gen Wesen,

Die sich den Söhnen Olivers geweiht,

Seit sie die beiden Knäblein, zart zu schauen,

Zwei großen Vögeln nahmen aus den Klauen.


73.

Gismonden ward das Kinderpaar entrissen,

Und weit mit ihnen fort die Vögel flohn.

Doch mehr zu sagen, bin ich nicht beflissen,

Denn alle Welt kennt die Geschichte schon

(Beim Autor muß man nur den Vater missen,

Den er vertauscht – warum wohl? – mit dem Sohn).

Wir sahn, wie brav die jungen Männer stritten;

Gehorsam folgten sie der Damen Bitten.


74.

In jener Gegend war der Tag geschwunden,

Noch auf Fortunas Inseln mocht' er sein;

Die Schatten hatten alles schon umwunden

Unter des Monds unsichrem Dämmerschein,

Als nach dem Turm Orril den Weg gefunden,

Denn beide Schwestern stimmten überein,

Es werde dieser bittre Kampf verschoben,

Bis neu am Himmel sich die Sonn' erhoben.


75.

Astolf, der Grifon dort und Aquilante

Am Wappen, mehr noch am gewalt'gen Hieb,

Von Anfang auf den ersten Blick erkannte,

Den Brüdern art'gen Gruß nicht schuldig blieb.

Als er sich nun den Pardelritter nannte,

Er, der den Riesen wie ein Lasttier trieb

(Am Hofe wurde Astolf so geheißen),

Sie gleicher Höflichkeit sich gern befleißen.
[19]

76.

Zur Ruhe führten dann die beiden Damen

Die Ritter nach dem nahen Schlosse hin;

Sie waren halben Weges schon, da kamen

Mit lichten Fackeln Knapp' und Dienerin.

Die Rosse Wartung durch den Knecht bekamen.

Man legt die Waffen ab; im Garten drin

Sehn sie das Mahl bereit bei einer Quelle,

Die lieblich sich dahinschlingt, frisch und helle.


77.

Den Riesen lassen sie im Frei'n bewahren

Mit einer andern Kette, dick und fest,

An einer Eiche, hart von vielen Jahren,

Die nicht durch Rütteln sich zerreißen läßt.

Zehn Mann noch wachen über den Barbaren,

Damit er nicht des Nachts den Platz verläßt,

Um sie zu schädigen und zu bekriegen,

Derweil sie ahnungslos im Schlaf sich wiegen.


78.

Bei Tisch mit vielen und erlesnen Speisen,

Drin des Vergnügens kleinster Teil bestand,

Ward auf Orril und seine Kampfesweisen,

Die wunderbaren, das Gespräch gewandt:

Man meint, es müsse sich als Traum erweisen,

Daß Kopf und Arm sich auf der Erde fand,

Und er sie holte, gleich sich neu bewehrte

Und wilder stets zum Kampfe wiederkehrte.


79.

Astolf hatt' in dem Buche schon gefunden

(Das zeigt, wie man sich gegen Zauber wehrt):

Man kann Orril nicht töten, nur verwunden,

Bleibt ihm ein einzig Kopfhaar unversehrt.

Doch wenn's verletzt ward oder ihm entwunden,

Trotz Sträubens aus dem Leib die Seele fährt.

Dies sagt das Buch, doch nicht, wie auf dem Kopfe

Das Haar man kenne bei so starkem Schopfe.
[20]

80.

Als hab' er schon des Sieges Palm' errungen,

So freut sich Astolf auf den nächsten Strauß;

Mit ein paar Hieben, hofft er, ist's gelungen:

Er reißt dem Zaubrer Haar und Seele aus.

Auf eigne Schultern hätt' er gern geschwungen,

Was sich ergeben möge, Last und Graus.

Durch ihn nur soll Orril den Tod erleiden,

Gestatten ihm zu kämpfen jene beiden.


81.

Die lassen gern ihm den Versuch, zu siegen,

Und meinen, ganz umsonst streng' er sich an.

Aurora war am Himmel aufgestiegen,

Da kam Orril herunter auf den Plan. –

Seht, wie die Schläge urgewaltig fliegen!

Der drängt mit Keule, der mit Schwert heran.

Astolf erhofft den Streich von tausend Streichen,

Der aus dem Fleisch die Seele macht entweichen.


82.

Die Faust mit ihrer Keule haut er nieder,

Bald diesen Arm, bald jenen, auf den Grund;

Quer durch den Harnisch schneidet er dann wieder,

Verstümmelt diesen Teil und den jetzund;

Doch stets vom Boden nimmt Orril die Glieder

Und setzt sie an und ist aufs neu gesund.

Und hätt' er ihn zerhaun in tausend Stücke –

Der schafft sich das Verlorene zurücke.


83.

Einen zuletzt schlug er von tausend Hieben,

Der zwischen Kinn und beide Schultern fiel.

Und losgelöst sind Kopf und Helm geblieben.

Vom Hengst springt Astolf schleunig, wie Orril,

Hat dann das Roß zur Eile angetrieben

Und fliegt mitsamt dem Kopfe hin zum Nil,

Den blut'gen Haarschopf um die Hand gewunden:

Nie werd' er wieder von Orril gefunden!
[21]

84.

Dem Toren ist dies unbemerkt geblieben,

Er tastet suchend in den Staub hinein.

Dann wird ihm klar, das Pferd ist fortgetrieben

Und trägt inzwischen seinen Kopf waldein:

Er geht zu seinem Gaul, springt auf, mit Hieben

Jagt er ihn hinterm Kopfesräuber drein.

Gern möcht er rufen: »Halt!« und »Wenden, wenden!«

Allein sein Mund ist in des Herzogs Händen.


85.

Nun faßt er Mut und braucht die Sporen weiter

Und folgt und drängt mit aller Macht heran,

Doch weit läßt hinter sich den Zauberreiter

Der wunderbare Renner Rabikan.

Derweil sucht auf der Kopfhaut Englands Streiter

(Bis zu den Brauen, von dem Nacken an),

Ob er vielleicht das eine Haar erkenne,

Mit dem Orril sich schier unsterblich nenne.


86.

Von all den Haaren, die gar nicht zu zählen,

Durch Krümmung, Länge keins dem Blick sich bot;

Wie sollte Astolf wohl das rechte wählen,

Es auszureißen zu des Räubers Tod?

»Nehm' ich sie alle,« sagt er, »kann's nicht fehlen!«

Rasierzeug stand ihm jetzt nicht zu Gebot,

So dacht' er's mit dem Schwerte zu probieren:

Das schnitt so gut, man nähm' es für Rasieren.


87.

Er hielt das Haupt nur an der Nas' im Schweben

Und schnitt es vorn und hinten rattenkahl.

Mit andern Haaren traf er jenes eben,

Und das Gesicht ward plötzlich bleich und fahl,

Der Blick verdreht, entflohen ist das Leben

– Die Zeichen machten's klar – mit einemmal.

Der Körper, dem der Kopf war abgeschnitten,

Fiel von dem Sattelplatz, drauf er geritten.
[22]

88.

Astolf kam hin, wo er die Herrn und Damen

Gelassen, mit dem Haupte in der Hand,

Auf das die Zeichen echten Todes kamen,

Und wies auch, wo den Rumpf man liegen fand.

Weiß nicht, ob es die Ritter gern vernahmen,

Wenn guter Ton zu Freundlichkeit sie band.

Neid, daß nicht sie den Sieg davongetragen,

Mochte den Brüdern doch am Herzen nagen.


89.

Auch, daß die Schlacht zu Ende so gediehen,

Den beiden Damen, glaub' ich, kaum gefiel.

Sie hatten, für die Brüder hinzuziehen

Des herben Schicksals unheilvolles Spiel

(Von Frankreich fern, konnt' ihm das Paar entfliehen),

Die Helden hergeleitet zu Orril,

Voll Hoffnung, sie so lange hier zu halten,

Bis nicht zu fürchten mehr der Sterne Walten.


90.

Damiettes Herr vernahm aus sichrem Munde,

Daß seinen Tod Orril, der Räuber, fand,

Und unverzüglich ward die frohe Kunde

Durch einer Taube Flügel ausgesandt:

Sie ging nach Kairo, und zur selben Stunde

Andre nach andrem Ort, wie's Brauch im Land.

So ward es ganz Ägypten kundgegeben

Auf einmal, daß Orril nicht mehr am Leben.


91.

Der Herzog riet nach dieses Handels Ende

Eindringlich jetzt dem edlen Brüderpaar

(Wohin von selbst schon ihre Neigung stände,

So daß ein Stachel gar nicht nötig war),

Daß es fürs röm'sche Reich die Kraft verwende

Und für der Kirche heiligen Altar:

Des Ostens Fehden sollten sie verachten

Und in dem Heimatland nach Ehre trachten.
[23]

92.

Von seiner Dame schied und in die Weite

Strebte wie Grifon Ritter Aquilant.

Ob es den Damen Leid und Schmerz bereite,

Es gab dagegen keinen Widerstand.

Auch Astolf scheidet nach der rechten Seite:

Wo Gott im Fleisch gelebt, im Heil'gen Land,

Da drängt es ihn, daß er die Stätten ehre,

Eh er zurück zum Frankenlande kehre.


93.

Man konnte links gehn auf bequemen Wegen,

Die hübsch und eben sind die ganze Zeit,

Und niemals sich vom Meere fortbewegen;

Doch wählen sie der Öde Furchtbarkeit,

Denn ging man da Jerusalem entgegen,

So hatte man sechs Tage minder weit.

Gras gab es, Wasser auch wohl allenfalles,

Allein von andern Dingen fehlte alles.


94.

Bevor sie drum sich auf die Reise wenden,

Wird angeschafft, was alles nötig war;

Man packt es auf den Riesen (seine Lenden

Und Rücken trügen einen Turm fürwahr).

Als dann die öden, rauhen Wege enden,

Da beut von hohem Berg dem Blick sich dar

Das Heil'ge Land, wo mit dem eignen Blute

Die Sünden Liebe wegwusch, uns zugute.


95.

Sie fanden, als sie grad im Tore waren,

Dort einen Jüngling, ihnen lieb und wert,

Aus Mekka, Samsonet, klug, wohlerfahren,

In allen Rittertugenden bewährt,

Durch Güt' und Trefflichkeit, ob jung an Jahren,

Berühmt und von den Leuten hoch verehrt.

Roland, der ihn zum Christentum bekehrte,

War's, dessen Hand ihn durch die Taufe ehrte.
[24]

96.

Der Jüngling legte gegen den Kalifen eben,

Den von Ägypten, eine Feste an

(Auch wollt' er den Kalvarienberg umgeben

Mit einem Walle von zwei Meilen dann).

Zwei helle Augen das »Willkommen« geben,

Wie innre Liebe nur es geben kann,

Und im Palast, zu dem er sie begleitet,

Wird ihnen Wohnung, königlich, bereitet.


97.

Der Kaiser ließ als Herrn im Land ihn schalten

(Bewahren sollt' er dort des Reiches Macht).

Der Herzog schenkt ihm jenen Ungestalten

Mit mächt'gem Leib und Gliedern ungeschlacht,

Der Lasten kann auf seinen Schultern halten,

Zehn Zugtier' hätten's nicht zustand gebracht

Den Riesen gibt ihm Astolf und daneben

Das Netz, das ihn in seine Hand gegeben.


98.

Und er erhielt von Samsonet dagegen

Ein Schwertgehänge, schön und reich genug,

Auch Sporen (an den Füßen anzulegen),

Von denen jeder Schnall' und Rädchen trug.

Einstmals gehörten sie, man sagt, dem Degen,

Der für die Jungfrau jenen Drachen schlug.

Aus Jaffa war der reiche Schmuck gekommen,

Als Samsonet die schöne Stadt genommen.


99.

Sie ließen Ablaß sich im Kloster geben,

Das im Geruche guten Beispiels stand,

Um dann sich zu den Tempeln zu begeben,

Wo Christi Passion Verkündung fand

Und die für Mohren jetzt zum Himmel streben,

Ach, zu der Christen ew'ger Schmach und Schand'.

In Waffen steht die Welt, Kriegsrufe schallen:

Die hehrsten Rufe ungehört verhallen.
[25]

100.

Derweil die Seele sich zur Andacht wandte,

Auf Schulderlaß und frommen Brauch bedacht,

Da hat ein Grieche, der Herrn Grifon kannte,

Ihm Nachricht, schwer und schmerzenreich, gebracht,

Die seinem Sinn ganz andre Wege sandte,

Als er ersehnt und schon im Geist gemacht,

Und solche Gluten seine Brust umfingen,

Daß Trieb und Lust zu Bittgesang vergingen.


101.

Das Unheil wollt' es, daß in Lieb' er diene

Gar schlimmer Dame, Orrigill genannt,

Und schöner, traun, als sie an Wuchs und Miene

Man unter tausend wohl nicht eine fand,

Doch untreu, schlecht –: so weit die Sonne schiene,

Vergebens suchtest du in Stadt und Land,

Auf fester Erd' und Inseln fern im Meere

Nach einer zweiten, die so niedrig wäre.


102.

Er ließ, von heißer Fieberglut umfangen,

Sie in der großen Stadt des Konstantin.

Sie nun zu sehn in ihrer Schönheit Prangen

Und zu genießen, lockte Hoffnung ihn;

Da hört er: nach Antiochien gegangen

Ist sie mit neuem Freund, weil, wie es schien,

Ganz unerträglich bei so frischen Jahren

Einsame Lagerstätten nachts ihr waren.


103.

Seit Grifon diese Kunde hat erhalten,

Seufzt er bei Nacht sowie bei Tage sehr.

Was andere für Lust und Kurzweil halten,

Verbittert seine Launen nur noch mehr.

Es weiß, wem jemals Amors Pfeile galten:

Gar scharf gespitzt, ach, fliegen sie daher.

Und was den Ritter über alles plagte,

War, daß vor Scham er's nicht zu sagen wagte,
[26]

104.

Weil tausendfach er aus Erfahrung kannte:

Dem Bruder war der Liebeshandel leid.

Oft schalt ihn drob der weise Aquilante

Und hätte gern ihn ganz von ihr befreit,

Die er die Greulichste von allen nannte,

Die je gelebt zu irgendeiner Zeit.

Grifon nimmt sie in Schutz vor seinen Rügen –:

Ach, eignes Urteil will gar oft betrügen.


105.

Doch sein Gedanke war, für sich verstohlen,

Ohne daß Aquilant davon gewußt,

Zu gehn und aus Antiochien sie zu holen,

Die ihm das Herz nahm mitten aus der Brust;

Auch ihn entdecken, der sie ihm gestohlen,

Und Rache üben recht nach Herzenslust.

Wie er das ausgeführt hat, will ich sagen

Im nächsten Sang, und was sich zugetragen.

Quelle:
Ariosto, Ludovico: Der rasende Roland. In: Sämtliche poetischen Werke, Berlin 1922, Band 2, S. 1-27.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der rasende Roland
Die Historia vom Rasenden Roland
Ludovico Ariosts Rasender Roland nacherzählt von Italo Calvino

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