Vierundvierzigster Gesang

[356] 1.

In niedern Hütten, wo sich Nöte finden

Und Kümmernis und schwerer Trübsal Last,

Wird Freundschaft kräftiger die Herzen binden

Als unter neid'schem Reichtum und in Glast

Und Üppigkeit des Hofs: gar oft entwinden

Sich Hinterlist und Argwohn dem Palast,

Wo's mit der Liebe meist gar schlecht bestellt ist

Und nur sich Freundschaft kundgibt, die verstellt ist.


2.

So kommt es denn: der fürstlichen Parteien

Verträg' und Pakte brechen gar geschwind:

Ob heut im Bund Papst, König, Kaiser seien, –

Vielleicht, daß sie schon morgen Feinde sind.

Was für ein Bild der Anschein möge leihen,

Im Herzen ist man anders stets gesinnt.

Recht oder Unrecht will nicht viel verschlagen:

Was Nutzen bringt, nur das pflegt man zu fragen.


3.

Kann Freundschaft kaum in solche Herzen dringen

(Denn gerne weilt sie an den Orten nicht,

Wo man in ernsten und in leichten Dingen

Nur heuchlerische, falsche Worte spricht),

So braucht ein herbes Los sie nur zu bringen,

Vereint, an eine Stätte still und schlicht, –

Da werden sie an Freundschaft mehr erfahren

In kurzer Zeit als sonst in langen Jahren.
[357]

4.

Der gute Greis knüpft mit so starken Banden

Zur Liebe beide Gäste seiner Klaus',

Daß sich an Königshöfen kaum wohl fanden

So feste Knoten, und im Fürstenhaus.

Getreu die Ritter zueinander standen,

Erst mit dem Leben ging die Freundschaft aus.

Der Alte sah sie wacker, rein von Sinnen:

Wie außen weiß der Schwan ist, sind sie's innen.


5.

Er sieht, ein edles Herz ist ihnen eigen,

Nicht jenen gleich – wie ich Euch dargetan –,

Die, ganz verworfen, nie sich offen zeigen

Und immer nur sich voll Verstellung nahn.

Versenkt blieb in Vergessenheit und Schweigen,

Was sie sich Übles hatten angetan:

Sie liebten sich wie eines Stamms Genossen,

Als wären sie dem gleichen Schoß entsprossen.


6.

Rinald zumal ließ Roger widerfahren

Der Ehren viel und jede Freundlichkeit;

Teils, weil er mit den Waffen schon erfahren

Des Jünglings Mut und Kraft in frührer Zeit;

Teils, weil gewinnend Rogers Sitten waren

Und hold wie keines Ritters weit und breit;

Zumeist doch, weil Rinald herausgefunden,

Wie mannigfach er Roger war verbunden.


7.

Er wußte, daß er aus den schwersten Nöten

Befreite dort den jungen Richardet,

Als ihn der Spanierkönig wollte töten

(Er fand ihn ja in seiner Tochter Bett);

Auch eh ihr Blut den Boden konnte röten,

Wußt' er den Söhnen Bovos ihre Kett'

Aus Mohrenhänden und Gewalt der bösen

Scharen des Mainzer Bertolas zu lösen.
[358]

8.

Verpflichtet fühlt' er sich, ihn recht zu lieben:

So dünkte jene Dankesschuld ihn schwer.

Daß sie zu tilgen lange unterblieben

– Er konnt' es früher nicht –, bedrückt ihn sehr.

Damals war Roger Agramant verschrieben,

Und er, Rinald, stand noch in Kaisers Heer.

Nun freut er sich, da er als Christ ihn findet,

Zu tun, wozu die Pflicht ihn längst verbindet.


9.

Mit Ehr' und Artigkeit ihn zu umringen,

Ist drum Rinald bestrebt die ganze Zeit.

Der kluge Greis hat Lust an diesen Dingen

Und tritt zu ihnen voll Behaglichkeit

Und spricht: »Noch eines gilt es zu vollbringen,

Und machen wird sich's, denk' ich, ohne Streit:

Daß, wie sich Freundschaft schon bei euch entfaltet,

Auch zwischen euch sich Schwägerschaft gestaltet,


10.

Damit Geschlecht sich und Geschlecht vereine,

Wie auf der Welt kein drittes mehr besteht,

Ein Stamm entsprieße, der noch heller scheine

Als Licht, so weit die Sonne nur sich dreht,

Und immer größrer Glanz dem Glanz sich eine,

Wenn Jahr um Jahr im Zeitenlauf vergeht

(Wie mir der Herr für sich es kundgetan hat),

Solang der Himmel die gewohnte Bahn hat!«


11.

Und weiter rät der Greis: Rinald soll geben

Dem neuen Freund die Schwester Bradamant:

Die zwei zu bitten, war nicht nötig eben.

Auch Oliver und Roland von Anglant,

Die solchen Bund als wünschenswert erheben,

Hoffen, daß Karl, der Herr vom Frankenland,

Ihn billige, und Haimon auch und allen

Im Reiche diese Bande wohlgefallen.
[359]

12.

Sie wissen nicht, daß, wie sie dieses sagen,

Herr Haimon mit des Kaisers Willen schon

Die Tochter halb vergab in diesen Tagen

An Kaiser Konstantin, der auf dem Thron

Der Griechen sitzt; er hatt' ihr angetragen

Des Reiches Erben, Leo, seinen Sohn;

Er war noch nie mit Bradamant zusammen,

Stand bloß auf ihrer Kühnheit Ruf in Flammen.


13.

Die Antwort Haimons war, er geb' einstweilen

Noch nicht Bescheid und werd' ihn erst dem Herrn

Nach Rückkehr seines Sohns Rinald erteilen;

Denn dieser sei zurzeit von Hofe fern.

Er werde nun wohl gleich zum Schlosse eilen;

So hohen Schwager seh' er sicher gern.

Aus Achtung woll' er immerhin vermeiden,

Allein in solcher Sache zu entscheiden.


14.

Und so versprach Rinald, ohn' alle Kunde,

Was auf des Kaisers Antrag dort geschah,

Roger die Schwester jetzt mit Hand und Munde.

Roland und, die mit ihm noch weiter da,

Zeigten ihr Wohlgefallen an dem Bunde;

Am freudigsten jedoch der Greis ihn sah.

Und Haimon, meint er, werde mit Vergnügen

Sich einem solchen Schwiegersohne fügen.


15.

Sie bleiben Tag und Nacht beim klugen Greise

Und auch vom nächsten Tag noch einen Teil,

Gedenken fast nicht mehr, so scheint's, der Reise,

Verheißen gleich die Winde Glück und Heil.

Den Schiffern nur behagt's in keiner Weise;

Sie schicken Boten, mahnen sehr zur Eil'

Und laden alle dringend nach dem Schiffe,

Daß sie vom Klausner scheiden und vom Riffe.
[360]

16.

Aus der Verbannung, die so lange währte

(Denn von dem Felsen wich er ja nicht mehr),

Ging Roger, und vom Greis, der ihm erklärte,

Der heil'ge Meister, wahren Glaubens Lehr';

Und Roland gab ihm außer seinem Schwerte

Frontin, den guten Hengst, und Hektors Wehr,

Um seine große Liebe recht zu zeigen;

Auch waren sie ja früher schon ihm eigen.


17.

Das Schwert zwar, das gefeite, zu behalten,

Hätt' ein viel beßres Recht der Paladin

(Denn damals mußt' er alle Kraft entfalten,

Es jenem Schreckensgarten zu entziehn),

Als Roger, der vom Diebe ihn erhalten,

Zusammen mit dem Hengste, dem Frontin.

Doch gern, sobald der Wunsch ward kundgegeben,

Ließ er die Waffen, ohne Widerstreben.


18.

So kehren alle mit des Greises Segen

Endlich zurück an ihres Schiffes Bord:

Die Segel schwellen, Ruder frisch sich regen;

Bei klarem, heitrem Wetter geht es fort,

Und nicht aufs Beten braucht man sich zu legen,

Heil zu gelangen in Marseilles Port.

Dort mögen sie nun bleiben eine Weile,

Bis ich noch Astolf ihnen zuerteile.


19.

Der Herzog hatte von dem Sieg erfahren

(Gar blutig ging er, wenig fröhlich aus),

Und sah, daß nun die Franken sicher waren

Vor Afrika und weiterm Schlachtengraus.

Der Nubierkönig mit den schwarzen Scharen,

Der ziehe, meint er, wiederum nach Haus,

Und auf dem Wege zwar, den er gegangen,

Um zu dem Sturm Bisertas zu gelangen.
[361]

20.

Die Flotte, die den Feind schlug auf den Wogen,

Hatt' Holgers Sohn zurückgesandt durchs Meer.

Ein neu Mirakel, hört! Davongezogen

War aus den Schiffen kaum das schwarze Heer,

Als Bug und Heck sich rasch zusammenbogen,

Und alles wurde Blätter wie vorher.

Die heben sich, gejagt von schnellen Winden,

Hoch in die Lüfte, wo sie bald verschwinden.


21.

Die Nubierscharen wurden heimgesendet;

Zu Fuß, zu Pferde zogen alle ab.

Vorher hatt' Astolf großen Dank gespendet,

Und unvergänglichen, an den Senap,

Der selber kam, nachdem er aufgewendet

Das ganze Volk, dem er Befehle gab.

Den Südwind auch, im Schlauche fest gefangen,

Ließ er durchs Heer ins Nubierland gelangen.


22.

Er gab den Wind ihm – sagt' ich –, eingeschlossen,

Der her von Mittag bläst (mit solcher Wut,

Daß dürrer Sand kommt himmelwärts geschossen,

Sich bäumend, hoch wie Wellen in der Flut):

Sie möchten achten auf den Sturmgenossen –

Weil er ja unterwegs leicht Schaden tut –,

Und dann, sobald sie nach der Heimat kämen,

Ihn frei zu lassen, aus dem Schlauche nehmen.


23.

Turpin erzählt: sie waren an den Seiten

Des hohen Atlas; – plötzlich ward zu Stein

Ein Pferd ums andre, all zu gleichen Zeiten;

So wie man auszog, zog man wieder ein. –

Doch Astolf muß nunmehr nach Frankreich reiten!

Er läßt, fürs Mohrenland besorgt zu sein,

In all die wicht'gen Plätze Mannschaft legen

Und drauf den Hippogryph die Schwingen regen.
[362]

24.

Ein Flügelschlag! – Sardinien ist zur Stelle,

Und Korsika erscheint mit seinem Strand;

Nun geht der Weg ob blauer Meereswelle

(Ein Ruck am Zaum lenkt etwas linker Hand).

Zuletzt grüßt er die Niederung, die helle

Und reiche, dort im Provenzalenland.

Und hier ist mit dem Flügeltier geschehen,

Was der Evangelist vorausgesehen.


25.

Bloß zur Provence soll er den Sporn ihm geben –

Das war's, worauf der heil'ge Jünger drang –,

Es dann entlassen, ja nicht widerstreben,

Mit Zaum und Sattel, seinem Freiheitsdrang.

Hin, wo Verlornes weilt, schien aufzuschweben,

Zum niedern Himmel, schon des Hornes Klang:

Der Ton – seit er zum heil'gen Ort gedrungen –

War nicht nur leiser, nein, durchaus verklungen.


26.

Am Tag, als Astolf zu Marseille erschienen,

Kam auch Graf Roland an, und Oliver;

Der Herr von Montalban war dort mit ihnen,

Sobrin der wackre, Roger, wacker mehr.

Des Freunds Gedenken wehrt den Paladinen

Den allzugroßen Jubel: fehlt doch er!

Ein jeder klagt, daß er im Grabe liege,

Und kann nicht recht sich freun am schönen Siege.


27.

Karl hatte von Sizilien schon die Kunde

Vom Tod der Herrn und, daß in Haft Sobrin,

Und Brandimart verschied mit blut'ger Wunde.

Auch über Roger unterwies man ihn.

Er stand beglückt, mit freudehellem Munde,

Weil eine Last ja nun gehoben schien,

Die seine Schultern gar zu schwer empfanden:

Er blieb gebeugt, als schon die Sorgen schwanden.
[363]

28.

Zu ehren, die des Reiches Säulen waren,

Des heiligen, durch Kraft und hohen Sinn,

Schickt Karl (um seinen Gruß zu offenbaren)

Des Landes Edle bis zur Saône hin.

Er selbst, mit den Erlesnen seiner Scharen,

Fürsten und Herrn, und mit der Kaiserin

Verließ die Mauer im Geleit von Frauen

Und edlen Fräulein, lieblich anzuschauen.


29.

Der Kaiser – strahlend – und, die mit ihm gingen,

Verwandte, Paladine, Freundeschar,

Der Adel und das Volk, sie alle bringen

Den Nahenden der Liebe Zeichen dar.

Mongran' und Clermont! rings die Rufe klingen.

Der Jubel zeigte die Begeistrung klar,

Als Roland, Oliver, Rinald sich rührten

Und Roger hin zu Karl, dem Kaiser, führten.


30.

Aus Risa, sagten sie, von Roger stamme

Der Held und sei an Wert dem Vater gleich.

Die Unsern wissen, wie herniederflamme

Des Hochgemuten Schwert mit wucht'gem Streich.

Nun kam Marfisa und die tugendsame

Gefährtin Bradamant, an Anmut reich.

Die eine hat den Bruder froh umfangen;

Voll Haltung kommt die Kriegerin gegangen.


31.

Der Kaiser heißt den Jüngling wieder reiten

(Denn ehrfurchtsvoll stieg er herab vom Pferd):

Als sein Genosse muß er ihn begleiten.

Was edlem Gast an Ehren widerfährt,

Davon läßt Karl kein Tüpfelchen beiseiten.

Er wußte, Roger habe sich bekehrt:

Denn als die Ritter kaum im Trocknen waren,

So ließen sie's den Herrscher gleich erfahren.
[364]

32.

Mit Siegespomp und festlich hohem Reigen

Ziehn alle miteinander nach der Stadt

(Wo Laubgehänge prangt mit grünen Zweigen

Und selbst das Pflaster Teppichdecken hat,

Und Blumengrüße sich den Siegern neigen

Von oben und den Seiten, Blüt' und Blatt,

Die schöne Damen dort mit vollen Händen

Herab aus Fenster und Balkon entsenden).


33.

Und Ehrenpforten, herrliche, mit vielen

Trophän und Bogen waren für sie da;

Gemalt war, wie Bisertas Mauern fielen,

Und manches, was noch sonst im Krieg geschah;

Dann Schaugerüste, wo man außer Spielen

Viel Lustbarkeit und Pantomimen sah;

Und aller Orten stand in großen Lettern

Die Inschrift, gut und wahr: »Des Reiches Rettern!«


34.

Derweil die Hörner und die Pfeifen schallen

Und alle Art Trompeten und Schalmein

Mit Lachen und mit Jubelruf von allen,

Die kaum mehr in die Straßen gehn hinein,

Steigt ab der Kaiser vor des Schlosses Hallen,

Und Tag um Tag ergötzt er hinterdrein

Die Menge mit Turnier und Spiel und Tanze

Und Späßen, Gasterein und Mummenschanze.


35.

Rinald sagt eines Tags dem Vater, freien

Solle Jung-Roger Schwester Bradamant,

Und Oliver und Roland Zeuge seien:

Dem Helden ward versprochen ihre Hand;

Sie meinten, so wie er, mehr Glanz verleihen

Könnt' ihrem Hause kein Verwandtschaftsband:

Kein Freier übertreff' ihn, und es gleiche

An Blut und Wert kaum einer ihm im Reiche.
[365]

36.

Daß die Verlobung, ohn' ihn zu befragen,

Der Sohn bestimmt, legt Haimon übel aus:

Sie, der ein Kaisersohn sich angetragen,

Soll mit dem jungen Roger ziehn hinaus,

Der nicht nur ohne Land ist, nein, zu sagen

Ist er nicht mal imstand: das ist mein Haus!

Mag edlem Blute hoher Wert entstammen,

Erst Reichtum fügt das Ganze gut zusammen.


37.

Noch stärker ist Beatrix ungehalten,

Und störrisch nennt den Sohn die Herzogin:

Nie solle Roger Bradamant erhalten;

Heimlich und offen hat sie eins im Sinn,

Betreibt's mit aller Macht: ihr Kind soll schalten

Im fernen Osten dort als Kaiserin.

Auf allem aber will Rinald bestehen:

Von seinem Wort soll auch kein Jota gehen.


38.

Beatrix, wähnend, daß zu ihr im Streite

Die Tochter halte, stolz, dringt auf sie ein:

Eh Bradamant solch armen Ritter freite,

Möchte die Mutter gleich des Todes sein.

Doch stehe sie dem Bruder gar zur Seite,

Nicht länger sei sie dann ihr Töchterlein.

Sie solle standhaft sein vor allen Dingen:

Rinald vermög' es doch nicht zu erzwingen!


39.

Stumm bleibt das Fräulein, denn sie darf nicht wagen,

Zu widersprechen so geradheraus:

Sie denkt als gutes Kind in allen Lagen

Niemals an einen Widerstand im Haus.

Doch wär's auch ein Vergehen, ja zu sagen,

Wenn sie im voraus weiß: sie führt's nicht aus,

Sie führt's nicht aus, weil sie nicht kann – verschwunden

Ist ihre Kraft, seit Amor sie gebunden.
[366]

40.

Nicht weigern kann sie sich, nicht drein sich geben:

Sie seufzt; doch schweigend bleibt sie immerdar,

Nur wenn sie unbemerkt allein ist, heben

Sich Tränen, fließen wie ein Strom fürwahr.

Der Busen muß die Qualen miterleben,

Die sie zerfleischen, und das blonde Haar:

Das rauft sie aus, und den die Fäuste schlagen;

Die Zähren rinnen, und die Lippen sagen:


41.

»Kann ich denn wollen, was sie mir verwehren,

Die über meinen Willen haben Macht?

Darf ich der Mutter Wunsch so wenig ehren,

Daß ich nur meines Willens hätte acht?

Was kann ein Mädchen, ach, so sehr beschweren,

Was hätt' ihm größern Tadel eingebracht,

Als ihr entgegen einen Gatten wählen,

Die, was es immer sei, hier darf befehlen?


42.

Weh! soll ich mich der Kindespflicht vertrauen?

Soll ich entsagen dir, o Roger mein?

Soll ich auf eine neue Liebe bauen?

Auf neuen Wunsch? Darauf voll Hoffnung sein?

Soll ich mißachtend auf die Ehrfurcht schauen,

Die gute Kinder guten Eltern weihn?

Soll ich mich fragen nur, was meinen Augen

Gefällt, was mir und meinem Glück wird taugen?


43.

Ich weiß, wonach ich Arme sollte trachten;

Ich weiß, wie handeln muß ein gutes Kind.

Allein was hilft's, wenn in des Busens Schachten

Schwach die Vernunft ist, stark die Sinne sind,

Verstand und Willen auf die Flucht sich machten

Vor Amor? Wenn ich nur Gedanken find',

Auf ihn gerichtet, wie ich ihm vor allen

Mit Worten und mit Taten mag gefallen?
[367]

44.

Haimons und Beatrices Tochter bin ich,

Zugleich auch Amors Sklavin und sein Gut.

Ich hoffe, wenn ich irr' geh, so gewinn' ich

Vergebung bei den Eltern; – sie sind gut!

Doch kränk' ich Amor, dann vergebens sinn' ich,

Wer mich beschützen wird vor seiner Wut:

Er wird auf meine Gründe gar nicht hören;

Er wird mich töten gleich, wird mich zerstören.


45.

Zum wahren Glauben Roger hinzuziehen,

Hab' ich mit Mühen lang und schwer gesucht,

Und endlich wird Erfüllung mir verliehen: –

Was hilft es, pflücken andre nun die Frucht?

So ist's der Biene nicht zu Nutz gediehen,

Daß sie jahraus, jahrein den Honig sucht.

Doch lieber wollt' ich, daß mein Ende käme,

Als daß ich einen andern Gatten nähme!


46.

Und wenn ich nicht gehorsam mich erweise

Den Eltern, folg' ich meinem Bruder doch,

Der mehr als sie verständig ist und weise:

Voll hat er das Gehirn im Kopfe noch.

Vom Sinn Rinalds ist Roland gleicherweise,

Und der und jener; mehr hält beide hoch

Die ganze Welt – stehn diese zwei zusammen –

Als alle sonst, die unserm Haus entstammen.


47.

Wenn sie nun Clermont Glanz und Glorie geben,

Daß keiner ihren Wert zu leugnen wagt,

Und über alle höher sich erheben,

Als übern Fuß hinaus die Stirne ragt; –

Soll ich dann Haimons Wunsch zu folgen streben,

Mehr, als was Roland wie Rinald mir sagt?

Zumal die meinem Ritter fest verhießen,

Was meine Eltern dort in Zweifel ließen?«
[368]

48.

Wenn so das Fräulein bitter sich gequält hat,

Ist auch nicht ruhevoll des Jünglings Brust,

Weil ihm der Dinge Lauf sich nicht verhehlt hat,

Wiewohl die Stadt noch nichts davon gewußt.

Er klagt sein Schicksal an, daß ihm gefehlt hat

Genuß des Glücks in Freudigkeit und Lust,

Weil es ihm Geld und Güter vorenthalten,

Damit so reichlich tausend Schlechtre schalten.


49.

Von allem Guten sonst, ob man erreichen

Es kann durch Fleiß, ob es Natur verleiht,

Besitzt er, was sich füglich darf vergleichen

Den höchsten Gaben irgendeiner Zeit:

Denn jede Schönheit muß der seinen weichen,

Es triumphiert die Kraft in jedem Streit,

Und er verdient an Glanz und Edelsinne,

Daß er vor andern solchen Preis gewinne.


50.

Allein das Volk, das Ehren pflegt zu geben

Und sie beliebig hierhin, dorthin streut

(Und überm Volke steht nur der mir eben,

Der wirklich hohen Geistes sich erfreut;

Tiara nicht noch Kron' und Zepter heben

Die Päpst' und Kaiser über andre Leut',

Was doch allein Verstand und Urteil können

– Der Himmel will es wenigen vergönnen –),


51.

Nun also dieses Volk – so wollt' ich sagen –,

Das voll Verehrung nur vom Reichtum spricht,

Es pflegt zu ihm die Augen aufzuschlagen,

Und alles andre sieht's und achtet's nicht,

Sei's Kraft des Körpers, Schönheit, kühnes Wagen,

Gewandtheit, Tugend und des Geistes Licht,

Güte des Herzens, – und in Heiratssachen

Will Gold noch mehr als sonst sich geltend machen.
[369]

52.

Herr Roger sprach: »Hegt Haimon das Verlangen,

Daß seine Tochter trage Kaiserkron',

Ei, warten mög' er, bis ein Jahr vergangen!

Nicht jetzt geschlossen sei der Handel schon.

Das Reich des Leo denk' ich zu erlangen,

Und seinen Vater jag' ich von dem Thron:

Hab' ich die Krone jenem fortgenommen,

Bin ich als Schwiegersohn ihm wohl willkommen.


53.

Doch will zum Schwiegervater sich gestalten

Von Bradamant schon jetzt Herr Konstantin,

Und Haimon das Versprechen mir nicht halten,

Gemacht von Roland und Rinald für ihn

In Gegenwart des gottgesandten Alten,

Vor Markgraf Oliver und Fürst Sobrin, –

Was soll dann ich tun? Soll ich mich bescheiden?

Soll ich, bevor ich's dulde, Tod erleiden?


54.

Was soll ich tun? Soll ich voll Zorn erfassen

Den Vater der Geliebten? Nicht genug,

Daß solches Tun mir wenig könnte passen

– Es mag dahin stehn: ist es dumm, ist's klug? –

Setz' ich den Fall, ich ließe ihn erblassen;

Wenn ich mit ihm sein ganzes Haus erschlug,

Wird mir daraus kein Vorteil sich entfalten,

Vielmehr zum Gegenteil muß sich's gestalten.


55.

Nach ihrer Liebe ging und geht mein Trachten

Und nicht nach ihrem Haß: wenn nun den Tod

Dem Vater Haimon meine Hände brachten,

Und ihrem Haus durch mich Verderben droht,

Muß sie mich nicht als ihren Feind erachten?

Gilt ihr dann Trennung nicht als Pflichtgebot?

Was soll ich also tun? Mich drein ergeben? –

Beim Himmel, nein! Dann lieber nicht mehr leben!
[370]

56.

Nein, leben will ich! Aber er soll sterben,

Leo, der Griechenprinz, mit größerm Recht,

Der herkam, mir die Freude zu verderben;

Er sterbe mit dem Vater arg und schlecht!

So ward bestraft nicht Paris für sein Werben,

So ward nicht an Pirithous gerächt

Proserpina, wie sie mein Weh und Grollen,

Der Vater und der Sohn, bezahlen sollen!


57.

Vielleicht, mein Leben, läßt du ohne Grämen

Roger um jenen Griechen dort im Stich?

O könntest du, weil's Haimon will, ihn nehmen,

Hätt' er auch deine Brüder noch für sich?

Dem Wunsch des Vaters lieber dich bequemen

Und lieber ihn befriedigen als mich?

Im Glanz der Kaiserkrone lieber scheinen,

Als einem schlichten Ritter dich vereinen?


58.

Wär's möglich, daß der Name zu dir spräche,

Der Königsprunk, der Titel Kaiserin,

Und meiner Trauten hohen Wert bestäche,

Tugend und großes Herz und edlen Sinn,

Daß sie, die Treu geringer achtend, bräche,

Was sie gelobt, und Schwüre gäbe hin?

Statt ihres Vaters Grollen zu ertragen

Und, was sie sagte, immer mir zu sagen?«


59.

Dies und noch vieles sprach der Grambetörte

Bei sich, und sprach es so zu mancher Zeit,

Daß, was ihm also schwer den Sinn verstörte,

Erlauscht ward, stand ein Mensch gerad nicht weit.

So kam es, daß zuletzt auch sie es hörte,

Um die dem Jüngling ward so großes Leid.

Und dies zu hören, schuf ihr solche Schmerzen,

Daß sie nicht stärkre litt für sich im Herzen.
[371]

60.

Doch nichts von dem, das ihr aus seinem Munde

Durch Weitersagen wurde dargetan,

Schlägt wie des Liebsten Furcht so schwere Wunde,

Sie laß ihn, sei dem Griechen zugetan!

Ihn aufzurichten durch willkommne Kunde

Und auszutreiben jenen bösen Wahn,

Ließ sie zu Roger eine Botschaft tragen

Durch ihre Magd und folgendes ihm sagen:


61.

»Roger, so wie ich war, so bleib' ich immer,

Bis in den Tod und weiter, wenn es geht,

Ob Amor Dunkel schickt, ob Glückes Schimmer,

Und wie sich auch Fortunas Rad mir dreht.

Von Treue weich' ich gleich dem Felsen nimmer,

Der fest im Meer bei Sturmeswüten steht.

In Glück und Leid sahst du mich niemals schwanken;

So bleib' ich dir getreu ohn' alles Wanken.


62.

Aus Blei gemachte Feil' und Meißel bringen

Viel eher eine Form dem Diamant,

Eh's Amors Zorn und Unheil soll gelingen,

Mein Herz zu beugen, dir nur zugewandt;

Zum Bergesgipfel siehst du eher dringen

Des brausend wilden Stromes Schlamm und Sand,

Als daß in andre Bahn mein Herz, mein Denken

Des Glückes oder Unglücks Fälle lenken.


63.

Ihr habt von mir mein ganzes Reich erhalten,

O Roger; und vielleicht ist's nicht so klein;

Und keinem Herrscher treure Schwüre galten,

So viele je geschworen mögen sein.

Kein Kaiser oder König kann entfalten

Macht und Besitz, die mehr gesichert sei'n:

Ihr braucht Euch keines Turmbaus zu befleißen

Aus Furcht, ein andrer könn' es Euch entreißen,
[372]

64.

Weil ohne Söldnerschar in Eurem Lohne

An diesem Reich sich jeder Angriff bricht;

Dem Reichtum wird sein Ansturm nur zum Hohne:

So niedrig gibt ein edles Herz sich nicht.

Nicht Rang und Adel nützt und Herrscherkrone,

Was dummem Volke blendet das Gesicht.

Mag Schönheit leicht den schwachen Sinn verführen,

An Euer Bild wird keine Macht mir rühren.


65.

Meint Ihr, mein Herz hab' neue Form erlitten?

O wißt, daß die Besorgnis schwinden mag!

Zu tief ist Euer Bild hineingeschnitten.

Es muß drin bleiben bis zum letzten Tag.

Nicht trag' ich Wachs in meines Herzens Mitten,

Denn oft schon führte Amor Schlag um Schlag,

Bevor davon ein Splitter war gesprungen,

Bis Eure Form sich hat dem Stein entrungen.


66.

Was immer mag dem Meißel widerstreben,

Harte Juwelen oder Elfenbein,

Es bricht, läßt keine Formung mehr sich geben,

Behält nur jene, die man grub hinein.

Nicht anders ist's mit meinem Herzen eben:

Es wahrt die Formung wie der Marmelstein,

Und Amor könnt' es eher ganz zerspalten,

Als es in neue Schönheit umgestalten.«


67.

Und andre Worte weiß sie ihm zu schenken,

Des Trostes voll, und voll von Lieb und Treu;

Und starb er tausendmal, es müßt' ihn lenken

Zurück zum Leben tausendmal aufs neu.

Als sie der Hoffnung Schiff im Hafen denken

Und, daß kein Wettergraus es mehr bedräu' –

Ach, schleudert sie ein neuer Sturm gerade

Ein wütender, ins Meer, weit vom Gestade.
[373]

68.

Denn Bradamante wollte mehr vollführen

– Unendlich mehr noch – als ihr Wort verhieß.

Sie fühlte den gewohnten Mut sich rühren,

So daß sie Rücksicht gänzlich von sich stieß.

Sie trat vor Karl und sprach: »Wenn Lohn gebühren

Will dem, was Eure Hoheit wacker hieß,

Und wenn ich jemals, Herr, bestand in Ehren,

So wollt mir eine Gnade nicht verwehren.


69.

Bevor mein Wunsch sich klar Euch kann entfalten,

Bitt ich, daß ihr bei Eurem Wort versprecht,

Ihn zu erfüllen! Hab' ich das erhalten,

Sollt ihr auch sehn: gut ist es und gerecht.«

»Mich zwingt dein Wert, nach Willen dir zu schalten,

Mein Kind; zu bitten, ist dein gutes Recht,«

Sprach Karl; »willst du, daß dir ein Teil gehöre

Von meinem Reich? Ich geb' ihn dir, ich schwöre.«


70.

»Was ich von Eurer Hoheit Huld erflehe,«

Die Jungfrau sprach, »ist dies: laßt keinem Mann,

Der um mich freien will, mich geben, ehe

Er über mich im Kampf den Sieg gewann.

Wer mich begehrt, im Streite mich bestehe;

Mit Schwert und Lanze stürm' er auf mich an.

Dem ersten Sieger will ich mich vertrauen;

Sieg' ich, mag er nach andrer Gattin schauen.«


71.

Der Kaiser sagt mit Lächeln und Behagen,

Die Bitte sei fürwahr der Jungfrau wert;

Sie möge jeder Sorge sich entschlagen:

Geschehen soll es, wie von ihr begehrt.

Das hat sich so geheim nicht zugetragen,

Es fügt sich, daß die Welt davon erfährt:

Am gleichen Tag will alles sich dem alten

Haimon und Frau Beatrix schon entfalten.
[374]

72.

Gleich stark hat dies zu Ärger sie entzündet

Und höchlich auf die Tochter aufgebracht;

Denn jene Bitte hatte ja verkündet,

Sie habe Rogers mehr als Leos acht:

Zu einem Plan nun ist das Paar verbündet,

Weil's anders gehn will, als es sich gedacht!

Derweil die beiden listig Fäden spannen,

Nach Rochefort führten sie ihr Kind von dannen.


73.

Herr Haimon hatte eine Burg empfangen

Von Kaiser Karl, bei Perpignan: sie stand,

Wenn man auf Carcassonne zu will gelangen,

An wicht'ger Stelle, hoch am Meeresrand,

Dort hielt man in der Hoffnung sie gefangen,

Sie fortzuschicken nach dem Morgenland,

Bis sie, ob gern, ob ungern, sich bequeme,

Daß sie von Roger lasse, Leo nehme.


74.

Obwohl das Fräulein, sittsam und bescheiden

Nicht minder wie voll Kühnheit und voll Kraft,

Keine Bewachung hatte zu erleiden

(Ein freier Ausgang ward ihr dort verschafft),

Blieb sie gehorsam unterm Zaum der beiden;

Jedoch entschlossen, lieber Tod und Haft

Und alle Qual und Marter zu ertragen,

Als Roger, ihrem Teuren, zu entsagen.


75.

Rinald, der sich durch Hinterlist des Alten

Die Schwester sieht genommen aus der Hand

Und seiner Macht entrückt, daß er zu halten,

Was er versprach, nicht länger ist imstand,

Denkt nicht als guter Sohn sich zu verhalten:

An Haimon hat er klagend sich gewandt.

Doch dieser läßt dadurch sich wenig rühren

Und will den Fall nach seinem Sinne führen.
[375]

76.

Roger vernimmt's und muß Besorgnis hegen,

Die Heißgeliebte lass' ihn bald allein:

Sie werde, könne Leo noch sich regen,

Ihn, sei's aus Liebe, sei's gezwungen, frein;

Darum beschließt er, ihn ins Grab zu legen:

»Augustus« soll nun bald ein »Divus« sein –

Er hofft, den Vater auch vom Thron zu heben

Und ihm das Reich zu nehmen und das Leben.


77.

Die gute Wehr, die Hektor trug vor Zeiten

Und später Mandrikard, die legt er an,

Bestellt Frontin – er denkt den Hengst zu reiten –

Und wechselt Schild und Kleid und Helmbusch dann.

Der weiße Adler soll ihn nicht begleiten,

Im himmelfarbnen Feld; er wählt fortan

Ein weißes Einhorn zu dem Wappenbilde;

Hell wie die Lilie steht's in rotem Schilde.


78.

Er läßt den treusten Mann zu Pferde steigen,

Gesellt nur ihn sich als Begleiter bei

Und schärft ihm ein, allübrall zu verschweigen,

Daß sein Gebieter Ritter Roger sei.

Nun geht's zu Maas und Rhein, und wo sich zeigen

Östreichs und Ungarns Auen mancherlei.

Am rechten Strand des Isterstroms, da streichen

Sie hin, bis sie Belgrad die Stadt erreichen.


79.

Wo in die Donau läßt die Fluten rinnen

Die Sav' und mit ihr weiter strebt zum Meer,

Erblickt er vieles Kriegsgezelt und drinnen

Mit Konstantins Panier ein großes Heer.

Der Kaiser will die Stadt zurückgewinnen

(Die der Bulgaren Faust ihm nahm vorher).

Die Herrscher selbst, er und Prinz Leo waren

Hier mit der ganzen Macht an Kriegerscharen.
[376]

80.

In Belgrad, auf den Bergen allerwegen

Und wo die Au hinab zum Strom sich senkt,

Stehn der Bulgaren Kämpfer ihm entgegen;

So daß der Savefluß zwei Heere tränkt.

Der Grieche will die Brücke drüber legen,

Was der Bulgar' ihm zu verwehren denkt;

Roger erscheint: – ein ganz gewaltig Raufen

Ist schon im Gange zwischen beiden Haufen.


81.

Die Griechen, stark (vier gegen einen), stehen

Mit Brückenschiffen rings am Uferrand;

Sie wollen mit Gewalt hinübergehen –

Die Lust ist da, man sieht's – zum andern Strand.

Leo derweil, versteckt und ungesehen,

Hat sich vom Strome seitwärts hingewandt,

Schwenkt dann zu ihm, die Brücke rasch zu schlagen

Und nach dem andern Ufer hinzujagen.


82.

Mit großer Macht – zu Fuß, im Sattel – drängt er

(An zwanzigtausend fehlt auch nicht ein Mann)

Am Ufer hin; mit wildem Ansturm sprengt er

Auf der Bulgaren Flankenreih' heran.

Kaum hat der Kaiser das gesehn, so fängt er

Den Übergang zum linken Ufer an,

Anreihend Schiff an Schiff und Brück' an Brücken,

Darauf die Scharen stracks hinüberrücken.


83.

Und der Bulgarenfürst, Vatran, in Waffen

Als Held erprobt, ein Krieger stark und gut,

Sucht sich zum Widerstand noch aufzuraffen

Und wehrt sich, hier und da, mit kühnem Mut;

Er wird umringt – am Pferde Wunden klaffen:

Es stürzt, begräbt ihn unter sich im Blut.

Und weil er nicht dem Feind sich will ergeben,

So rauben tausend Schwerter ihm das Leben.
[377]

84.

Noch hatten die Bulgaren widerstanden,

Doch als ihr Oberherr gefallen war,

Und sie den Angriff immer wachsend fanden,

Nahm, statt der Stirn, der Feind den Rücken wahr.

Wie Roger – mitten unter Griechenbanden –

Das sieht, denkt er nicht lang und eilt, der Schar

Der Fliehnden – Konstantin muß er ja hassen,

Und Leo mehr – Hilf' angedeihn zu lassen.


85.

Er spornt Frontin, dem Windesschnelle eigen

– All andern Rennern fliegt der Hengst voraus –,

Erreicht sie, die voll Furcht bergaufwärts steigen

Und aus der Ebne fliehn entsetzt hinaus.

Er stellt, zwingt sie, das Kinn dem Feind zu zeigen,

Senkt selber dann den Speer und sprengt zum Strauß

Ins Griechenheer mit wilder, stolzer Miene,

Daß er für Mars und Zeus erschrecklich schiene.


86.

Voraus den andern ward ein Herr gefunden

(In rotem Kleid, mit Gold und Stickerein;

Darin ein Kolben, noch dem Stiel verbunden,

Aus Seide: Hirse war's nach allem Schein),

Des Kaisers Neffe (doch zu allen Stunden

Ihm teuer, wie ein Sohn es könnte sein):

Schild, Harnisch bricht er ihm wie Glas zu Stücken,

Und handbreit ragt der Speer noch aus dem Rücken.


87.

Den läßt er tot, und Balisarda schwingt er

Auf eine Kriegerschar mehr nahebei,

Und gegen den, dann gegen jenen springt er,

Schlägt dem den Rumpf und dem den Kopf entzwei,

Und dem die Seite, dem die Brust durchdringt er,

Und legt dem andern dort die Kehle frei,

Drauf Arm und Händ' und Schultern abzuhauen –

Im Tal das Blut ist wie ein Bach zu schauen.
[378]

88.

Als man gewahr wird solch ein greulich Morden,

Ist keiner mehr, der noch zu kämpfen wagt:

Der Schlacht Gesicht ist plötzlich anders worden;

Denn der Bulgar, noch eben ganz verzagt,

Bietet die Stirne jetzt den Griechenhorden;

Das Wild, das floh, geht selber auf die Jagd,

Und alle Ordnung hat miteins geendet;

Die Fahnen sämtlich sind zur Flucht gewendet.


89.

Es nahm von einem Hügel hochgelegen

Leo der Prinz die Flucht der Seinen wahr;

Bestürzt und traurig blickt er auf den Degen

(Denn von da drüben sah er alles klar),

Dem von dem Griechenvolk so viel erlegen:

Durch ihn vernichtet schien das Heer sogar,

Wie sehr der Held ihm Schaden bringt dort oben,

Er kann nicht anders, nein: – er muß ihn loben.


90.

Am Wappen und am Kleid läßt sich gewahren

Und an der Rüstung goldgeschmückt und licht: –

Erschien er gleich, zu helfen den Bulgaren,

Von diesen Feinden einer ist es nicht.

Er sieht das mehr als menschliche Gebaren

Und fragt sich: stieg vom Himmelsangesicht

Ein Engel wohl zum Fluch der Griechen nieder?

Wir waren Gottes Willen oft zuwider!


91.

Statt ihn, wie's mancher täte, nun zu hassen,

Will er – von Herzen groß – die Herrlichkeit

Des kühnen Helden voller Lieb' umfassen

Und säh' ihn gern bewahrt vor allem Leid.

Wo einer von den Seinen muß erblassen,

Verlör' er lieber sechse noch im Streit,

Würd' einen Teil auch seines Reiches missen,

Als solchen hohen Helden tot zu wissen.
[379]

92.

Ein Kind, das von der Mutter ward geschlagen,

Von ihr in Zorn und Unmut weggedrängt,

Wird nicht bei Schwester oder Vater klagen;

Es kommt, bis jene liebend es umfängt.

So kann auch Leo, ward ihm gleich erschlagen

Durch Roger eine Schar und mehr bedrängt,

Nicht hassen; denn er wird vom Wert zum Lieben

Mehr als durch Schädigung zum Zorn getrieben.


93.

Wenn Leo Roger Liebe schenkt und Ehre,

So geht er einen schlechten Handel ein;

Denn Roger haßt ihn; sein Ergötzen wäre,

Sein höchstes, selber ihn dem Tod zu weihn.

Er sucht nach ihm, hält Umfrag' auch im Heere,

Wo nur der Prinz zu finden sei; allein

Von Leos Klugheit und von seinem Sterne

Ward es gefügt: der Ritter blieb ihm ferne.


94.

Leo tritt, Rückzug blasend, um das Leben

Des Heers zu retten, rasch den Heimweg an

Und schickt zum Kaiser, ihm den Rat zu geben,

Den Fluß hinüber führ' er Mann für Mann;

Lasse der Weg sich noch gewinnen eben,

So sei ihr Volk fürwahr recht glücklich dran,

Kam er dort auf der Brücke erst herüber,

So geht er jetzt, mit wenig Volk, hinüber.


95.

Es blieben viel in Händen der Bulgaren,

Am Berg getötet und am Uferrand,

Und allen wäre solches widerfahren,

Doch bot der Fluß zum Glück noch Widerstand.

Von Brücken stürzen sie hinab in Scharen,

Und wieder andre fliehen unverwandt

Weithin, zur Furt des Stromes zu gelangen.

Nach Belgrad schleppt man viele fort gefangen.
[380]

96.

Nachdem somit die Schlacht zu End' geschlagen,

Drin die Bulgaren nach des Herren Tod

Viel Schimpf und Schande hätten zu beklagen,

Wenn sich als Retter nicht der Krieger bot,

Der Held, von dem das Einhorn wird getragen,

So leuchtend weiß und hell im Schilde rot, –

Da eilen sie, den Ritter zu umringen

Jubelnd, der ihnen Rettung wollte bringen.


97.

Die beugen sich: »Willkommen!« schallts von denen,

Die küssen ihm die Hand, die Füße die;

Ihm nah zu sein, ist eine Wonne jenen:

Selig, wem ihn zu schaun das Glück verlieh!

Mehr noch, wer ihn berührt! Die Guten wähnen,

Der Himmel sandt' ein Wunder her für sie.

Und zu den Wolken auf die Rufe schallen,

Ihr Herr und Fürst zu sein mög' ihm gefallen.


98.

Roger versetzt, ihr König oder Leiter,

So wie sie das sich wünschten, woll' er sein;

Doch rühr' er nicht an Stab und Zepter; weiter

Geh' er jetzt nicht, zieh' nicht in Belgrad ein;

Ehe der Prinz noch heimwärts seine Streiter

Führ' übern Fluß hin, müss' er hinterdrein,

Und keine Ruhe woll' er jenem geben,

Bis er ihn treffe; jenem geh's ans Leben.


99.

Nur darum sei er lange Meil' auf Meile

Geritten, und aus keinem andern Grund.

So läßt er denn die Scharen sonder Weile,

Den Weg entlang, da (solches ward ihm kund)

Leo zur Brücke zog in großer Eile,

Aus Furcht vielleicht, man sperre sie jetzund.

Roger hat seinen Knappen ganz vergessen

Und sprengt davon, auf Rache nur versessen.
[381]

100.

Dem Prinzen war beim Fliehn das Glück verbunden

(Der Rückzug wurde besser Flucht genannt):

Der Übergang ward offen noch gefunden;

Er bricht die Brücke, setzt die Schiff in Brand.

Als Roger kommt, ist schon die Sonn' entschwunden

Und für die Nacht kein Obdach rings zur Hand.

Er reitet weiter, denn der Mond scheint helle;

Doch weder Dörfer trifft er noch Kastelle.


101.

Weil er nicht weiß, wohin, so muß er reiten,

Ohn' abzusteigen, jene ganze Nacht.

Links sieht er eine nahe Stadt sich breiten,

Als in der Früh' das erste Licht erwacht.

Dort, um dem Renner Ruhe zu bereiten,

Will er verweilen, bis ein Tag vollbracht;

Er ließ das Tier bisher nicht aus dem Zügel,

Nur immer traben über Tal und Hügel.


102.

Ein Freund des Konstantin und sein Genosse,

Ungard, war Hausherr hier, dem Kaiser wert.

Dem hat er für den Krieg aus seinem Trosse

Gar manchen Mann gestellt, zu Fuß, zu Pferd.

Und weil man keinem Reiter wehrt noch Rosse,

Tritt Roger ein: Empfang wird ihm gewährt

So gut und schön: er braucht nicht fortzugehen,

Nach einem bessern Obdach auszuspähen.


103.

Am Abend kommt ein Krieger angeritten,

Die Nacht zu bleiben, aus Romania;

Er hat in jenem Kampfe mitgestritten,

Der Rogers Tat für die Bulgaren sah.

Mit Mühe war er seiner Hand entglitten,

Voll Schrecken über das, was dort geschah.

Er bebt noch jetzt, und überall voll Grauen

Meint er den Einhornritter zu erschauen.
[382]

104.

Kaum hat er auf den Schild den Blick gerichtet,

So nimmt er jenes Ritters Zeichen wahr,

Der in der Schlacht die Griechen hat vernichtet

Und umgebracht so manche Kriegerschar.

Er läuft zum Schloß; dem Hausherrn wird berichtet,

Ein wicht'ger Bote stelle just sich dar.

Und der erzählt – was? (will's Euch nicht verschlagen),

Verbleibe meinem nächsten Sang zu sagen.

Quelle:
Ariosto, Ludovico: Der rasende Roland. In: Sämtliche poetischen Werke, Berlin 1922, Band 3, S. 356-383.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der rasende Roland
Die Historia vom Rasenden Roland
Ludovico Ariosts Rasender Roland nacherzählt von Italo Calvino

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