Zweiundzwanzigster Gesang

[217] 1.

Die ihr mit einer Liebe seid zufrieden,

Ihr edlen Damen, eurem Freunde wert

(Ist von so vielen, vielen auch hienieden

Gar selten einer solch ein Sinn beschert),

Grollt nicht, hab' ich den Tadel nicht gemieden,

Da gegen jene sich mein Zorn gekehrt,

Und lass' ich jetzt noch manches Verslein fließen,

Des Grimmes Schale über sie zu gießen.


2.

So war sie ja: – »Du künde recht die Dinge!«

Gebeut man mir: ich bin gehorsam, ganz.

Wobei ich keinem Ruhm Verdunklung bringe,

Wenn eine strahlt in reinen Herzens Glanz.

Der einst den Herrn verriet um Silberlinge,

Nahm Petri Ruhm nicht fort und nicht Johanns.

Und keinen Eintrag tut es Hypermnestern,

Daß sie umgeben war von bösen Schwestern.


3.

Muß ich die Schändlichkeit der einen weisen

(Anders gestattet's die Historie nicht),

Will ich dafür gern hundert andre preisen,

Sie heller zeigen als das Sonnenlicht.

Doch nun zum Werk, dem viele Gunst erweisen

(Heil ihnen!), weil's an Reiz ihm nicht gebricht: –

Ich sprach gerade von dem Schottenritter,

Und jenem lauten Schrein entgegen ritt er.
[218]

4.

Wo zwischen Höhn ein enger Pfad sich windet,

Erschallt der Ruf; nicht weit von diesem Ort

Zerbin ein Tal, ein ringsumschloßnes, findet

Und tot am Boden einen Ritter dort;

Wen, sag' ich später; denn die Muse bindet

Nach Osten mich, vom Frankenreiche fort,

Bis wir den wackern Helden Astolf sehen

Gen Sonnenuntergang die Straße gehen.


5.

Ich hab' ihn in der bösen Stadt verlassen,

Wo er mit seines Hornes Schauerklang

Die wilden Frauen scheuchte aus den Straßen

Und, mit Gefahren viel, von dannen drang.

Die Freunde flohen, eilig übermaßen –

– Unrühmlich sehr derweil – die Flut entlang,

Er aber zog hinweg vom Räuberstrande,

Armenienwärts, und schied aus diesem Lande.


6.

In Anatolien drauf in wenig Tagen

War er und hielt die Richtung Bursa ein,

Den Weg vom andern Meerstrand einzuschlagen

Ins weite Land der Thrazier hinein,

Ließ sich, der Donau nach, durch Ungarn tragen –

Als ob der Renner Flügel hätt' am Bein –:

Durch Mähren, Böhmen, Franken ging es grade

In zwanzig Tagen nach dem Rheingestade.


7.

Durch den Ardennenwald hindurch nach Aachen,

Brabant und Flandern und an Schiffesbord.

Als dann in See mit ihm die Schiffer stachen,

Blies in die Segel starker Wind nach Nord;

Astolf sah mittags schon: die Wellen brachen

An Englands Küste sich; er landet dort,

Steigt rasch zu Pferde, gibt dem Tier die Sporen

Und ist am Abend noch an Londons Toren.
[219]

8.

Als er dort über Otto nun erfahren,

Der sei schon manchen Monat in Paris,

Wo jeder einzle Mann der Ritterscharen

Sich solchen hohen Beispiels würdig wies,

Beschließt er, selber nach Paris zu fahren,

Und kehrt zum Themsehafen, den er ließ;

Aufs neue gleich die Anker dort sie lichten,

Um nach Calais des Schiffes Bug zu richten.


9.

Sacht bläst ein Lüftchen, rührt von links die Wellen,

Lockt wie ein Köder in das Meer hinaus,

Um nach und nach gewaltig anzuschwellen.

Der Schiffer, überwunden, muß dem Graus

Des Sturms entgegen rasch den Backbord stellen;

Sonst taucht das Schiff hinab – und bald ist's aus.

Dem Plan zuwider just in allen Stücken,

Fliegt hin das Schifflein auf des Meeres Rücken,


10.

Bald rechts, bald links (die Richtung kam abhanden),

Hier-, dorthin, wie das Schicksal will, die Bahn,

Um bei Rouen zu guter Letzt zu landen.

Astolf läßt satteln seinen Rabikan,

Sobald sie an dem lieben Strand sich fanden,

Ergreift sein Schwert und zieht die Rüstung an,

Und vorwärts sprengt er, stets das Horn zur Seiten,

Das mehr nützt, als wenn tausend ihn begleiten.


11.

Voran, durch einen Wald, ging's unverdrossen,

Da floß ein heller Quell in Berges Hut;

Die Stunde war's, da, von der Hütt' umschlossen

Oder im hohlen Fels, die Herde ruht.

Von Durst geplagt und Schweiß, den er vergossen,

Nahm er den Helm ab vor der Sonne Glut,

Band fest den Renner in den dichten Zweigen,

Und auf den Born begann er sich zu neigen.
[220]

12.

Noch rührten nicht die Lippen an die Welle,

Da springt ein Kerl, der ins Gebüsch geriet,

Hervor und nimmt den Hengst von seiner Stelle,

Schwingt in den Sattel sich hinauf und flieht.

Astolf blickt auf beim Lärm von seiner Quelle,

Und als er hier sich Schaden drohen sieht,

Vergißt er allen Durst; statt sich zu letzen,

Folgt er dem Diebe nach in mächt'gen Sätzen.


13.

Dem ist es nicht zu tun um höchste Eile,

Er wäre sonst viel weiter schon voran;

Er galoppiert und trabt drauf eine Weile,

Zieht fest den Zaum und lockert ihn sodann:

Verschwunden ist der Waldrand mittlerweile,

Und beide langen an der Stelle an,

Wo nicht gefangen sind viel edle Ritter,

Doch mehr gefangen als mit Schloß und Gitter.


14.

Der Kerl jagt in das Schloß mit jenem Pferde,

Das fast den Winden gleicht an Schnelligkeit,

Und Astolf – denn der Schild macht ihm Beschwerde

Und Helm und andre Waffen – ist noch weit.

Als er nun kommt – verschwunden von der Erde

Ist die verfolgte Spur, denn weit und breit,

Wie weit er suchend läßt die Augen gehen,

Nicht Rabikan ist noch der Kerl zu sehen.


15.

Er läuft umher und sucht an allen Ecken,

Durch Gänge, Zimmer, bis zum Dach hinauf,

Jedoch kein Lohn wird aller Müh' des Recken,

Den argen Räuber treibt er nirgends auf.

Er forscht umsonst, wo Rabikan mag stecken,

Der jedes andre Tier besiegt im Lauf,

Und gänzlich ohne Frucht bleibt sein Beginnen,

Ob auf und ab er suche, draußen, drinnen.
[221]

16.

Verwirrt und müde, sich zu drehn im Kreise,

Merkt er, daß dieser Ort verzaubert war,

Und jenes Büchleins, das ihm für die Reise

In Indien Logistilla reichte dar,

Weil's gegen Zauber nützlich sich erweise,

Dacht' er, und des Registers nahm er wahr:

Da fand er bald heraus, auf welchem Blatte

Man gegen solchen Spuk ein Mittel hatte.


17.

Vom Zauberhaus war viel an jener Stelle

Des Buchs die Rede, und man gab auch an,

Auf welche Weise er den Magier prelle

Und der Gefangnen Bande löse dann:

Ein Geist sei eingeschlossen in der Schwelle,

Der all den Trug und Zauberspuk ersann;

Hebt man den Stein, die Gruft ihm zu erschließen,

So wird durch ihn das Haus in Rauch zerfließen.


18.

Ein Werk so ruhmeswürdig zu vollenden,

Ist eifrig unser Paladin erpicht:

Er bückt sich, prüft dann sorglich mit den Händen,

Wie schwer wohl sein mag jenes Steins Gewicht.

Als Atlas sieht, es naht, den Trug zu enden,

Ein Armepaar, das leicht den Zauber bricht,

Schaut er besorgt dem, was geschieht, entgegen

Und sucht mit neuem Spuke sich zu regen.


19.

Den andern ließ er Astolf jetzt erscheinen,

Durch Geister, in Gestalten mannigfalt:

Er war ein Ries', ein Bäuerlein den einen,

Während er jenen als ihr Todfeind galt;

Und allesamt just den zu sehen meinen,

Von dem sich Atlas borgte die Gestalt:

Den Dieb, durch den bald dies, bald das verschwunden,

Den wähnen sie im Paladin gefunden.
[222]

20.

Roger, Gradaß, Irold und Bradamante,

Prasild und Brandimart – in voller Hast

Auf Astolf jeder, ihn zu töten, rannte,

Von blinder Wut und Irrtum jäh erfaßt;

Doch der jetzund zu seinem Horn sich wandte,

Vor dem der kühnste Mut gar rasch erblaßt.

Half er sich nicht durch seines Hornes Klänge,

Tot läge schon der Herzog im Gedränge.


21.

Allein nun er das Horn geführt zum Munde

Und schallen läßt den grauenvollen Ton,

Wie Tauben vor dem Schuß, so in der Runde

Die edlen Ritter stäuben all davon.

Der Hexenmeister ist zur selben Stunde

Entsetzt aus seinem Höhlenloch geflohn:

Bleich und verstört, fort eilt er weite Strecken,

Bis nicht mehr hörbar ist das Horn der Schrecken.


22.

Der Wächter flieht und sie, die er in Haft hat,

Es flieht zum Stall hinaus der Pferde Hauf,

Weil jetzt kein Strick mehr, sie zu halten, Kraft hat,

Und folgen ihrem Herrn in vollem Lauf.

Selbst Katz' und Maulwurf aus dem Haus geschafft hat

Der Ton, der immer dröhnt: Nur drauf! Nur drauf!

Und Rabikan wär' auch davongegangen,

Ward aber von dem Herrn am Tor gefangen.


23.

Als Atlas und die andern laufen gingen,

Hob Astolf von der Schwelle jenen Stein

Und fand ein Bild mit sonst noch andren Dingen,

Die zu beschreiben nicht wird nötig sein.

Vernichtung all dem Zauberwerk zu bringen,

Schlug er, was er gefunden, kurz und klein,

So wie's in seinem Buch war angegeben,

Und sah das Schloß in Rauch und Dunst entschweben.
[223]

24.

Er fand, von goldner Kette festgehalten,

Den Renner, der einst Roger ward beschert

Von jenem Mohrenzauberer, dem alten;

Hin zu Alcine trug ihn dieses Pferd,

Und Logistilla ließ den Zaum gestalten:

Nach Frankreich ist er dann zurückgekehrt,

Nachdem von Indien bis zum Land der Britten

Er schier die halbe Erdenwelt durchritten.


25.

Er ließ ihn dort, an einen Baum gebunden,

Am Tag – ich weiß nicht, ob Ihr Euch entsinnt –,

Da, nackt, vor Rogers Blick war fortgeschwunden,

Ihm zum Verdruß, von Galafron das Kind.

Das Flügelpferd hat dann den Weg gefunden,

Derweilen Roger staunt, zum Herrn geschwind

Und ist bei ihm die ganze Zeit geblieben,

Bis jetzt des Zaubers Kraft ward ausgetrieben.


26.

Erwünschtres konnte wahrlich nicht geschehen,

Als unserm Herzog ward jetzund beschert,

Denn um zu schaun, was noch verblieb zu sehen,

Von Meer und Ländern, wie sein Herz begehrt,

Und durch die Welt in kurzer Zeit zu gehen,

Kommt höchst gelegen dieses Flügelpferd.

Er weiß gar wohl, es kann ihn trefflich tragen,

Weil er's erprobte schon in frühern Tagen.


27.

Damals in Indien war's, als von Melissen,

Der gütigen und weisen Zauberin,

Er ward der Hand der Schändlichen entrissen,

Die ihn gebannt hielt in der Myrte drin.

Wohl gab er acht und sah, wie mit gewissen

Griffen sie zwang des Hengstes trotz'gen Sinn,

Und ihn zu lenken ganz nach seinem Willen,

Erlernte Roger dort bei Logistillen.
[224]

28.

Entschlossen, auf dem Hengst davonzureiten,

Legt' er den eignen Sattel auf das Tier,

Und einen Zaum verstand er zu bereiten

Aus dem und jenem, bis es paßte schier;

Denn als die Pferde flohn nach allen Seiten,

Blieben von ihnen viele Zügel hier.

Sofort würd' er das Tier gen Himmel lenken,

Doch Rabikans muß er mit Sorge denken.


29.

Und wohl war, ihn zu lieben, Grund vorhanden:

Beim Lanzenritt, da war kein Roß wie er;

Von Indien weit in fernsten Morgenlanden

Trug er ihn nach dem Frankenreiche her.

Er sann – bis beßre Pläne nicht sich fanden,

Als daß er einem Freund zu schenken wär';

Man durft' ihn doch nicht auf der Straße lassen,

Wo ihn der erste beste konnte fassen.


30.

Lang lugt er aus, ob er nicht sähe schreiten,

Sei's Jäger oder Bauer, durch den Wald,

Der irgendwo ihn könne hingeleiten,

Wo Rabikan find' einen Aufenthalt.

Er steht und blickt umher nach allen Seiten

Den ganzen Tag; schon naht der Morgen bald.

Da meint er bei dem früh'sten Dämmergrauen

Im Dickicht einen Rittersmann zu schauen.


31.

Nun kann ich jetzt noch nicht von Weitrem singen,

Will erst nach Roger sehn und Bradamant.

Als nicht das Schreckenshorn mehr hörte klingen

Das schöne Paar und schon sich weit befand,

Da mußte Roger zum Bewußtsein dringen,

Was ihm bisher verbarg des Atlas Hand:

Die Möglichkeiten, kennen sich zu lernen,

Wußt' ihnen jener immer zu entfernen.
[225]

32.

Er schaut sie an, in seligem Entzücken;

Aus ihren Blicken helles Staunen sprüht,

Daß ihm von jenes Alten Zauberstücken

Verdunkelt wurden Augen wie Gemüt.

Er muß ans Herz die schöne Holde drücken,

Darob sie höher als die Rose glüht.

Das Glück vergönnt ihm, von den zarten Lippen

Der Liebe süßen Blütenhauch zu nippen.


33.

Das Herzen und das Küssen will nicht enden,

Wie halten sie so innig sich umfaßt!

Welch frohe Seufzer sie zum Himmel senden!

Die hohe Wonne sprengt den Busen fast.

Sie klagen nur, daß in den Zauberwänden

Sie ziellos irrten in beklommner Hast,

Blind für einander, wie behexte Toren,

Und daß so mancher Glückstag ging verloren.


34.

Gewillt ist Bradamant, ihm zu bescheren

Die Freuden alle, die ein Mägdelein

Dem Liebsten wohl vergönnen mag in Ehren,

Um ihn von jeder Trauer zu befrein,

Und sagt, woll' er das Höchste nicht entbehren

Nicht spröd und hart sie machen obendrein,

Mög' er um sie bei Haimon werben gehen;

Doch vorher wolle sie getauft ihn sehen.


35.

Und er, nicht nur als Christ für sie zu leben

Wär' er in seiner Liebesglut bereit,

So wie es einst sein Vater war, daneben

Das ganze Haus einmal in frührer Zeit,

Nein, freudig würd' er auch sein Leben geben

Und hätt' es augenblicklich ihr geweiht:

»Für dich«, sprach er, »nicht nur ins Wasserbecken

Würd' ich den Kopf, nein, auch ins Feuer stecken.«
[226]

36.

Zur Taufe, und – die Gattin zu erringen,

Macht er sich auf den Weg mit Bradamant.

Sie eilt, nach Vallombrosa ihn zu bringen

(Ein schönes Kloster wurde so genannt,

So reich wie fromm, gastfrei vor allen Dingen,

Drin Aufnahm' allzeit jeder Wandrer fand).

Da sehn sie, als sie aus dem Walde gehen,

Ein Mädchen tiefbetrübt am Walde stehen.


37.

Als Roger – mild und gütig alle Zeiten,

Gegen ein Weib noch mehr als einen Mann –

Die holde Tränenflut sah lieblich gleiten,

Wie sie vom zarten Antlitz niederrann,

Erführ' er gern, was ihr solch Weh bereiten

Wohl könne, und sogleich kam er heran

Mit freundlich art'gem Gruß, um sie zu fragen,

Was Schmerzliches sich habe zugetragen.


38.

Sie hebt den Blick, läßt ihn die Strahlen schauen,

Die feuchten, und gibt höflich ihm Bescheid,

Nicht zögernd, ihm die Gründe zu vertrauen,

Danach er fragt, von ihrer Traurigkeit:

»Wenn Tränen«, spricht sie, »dies Gesicht betauen,

So fließen sie, mein edler Herr, vor Leid;

Denn eines Jünglings Schicksal muß mich rühren,

Den sie bei einem Schloß zum Tode führen.


39.

In Liebe einem schönen Kind verbunden,

Das Herrn Marsils, des Königs, Tochter war,

Im Frauenkleid, den Schleier umgebunden,

Erhoben mädchenhaft das Augenpaar,

Hatt' er des Nachts bei ihr sich eingefunden,

Und niemand in dem Hause ward's gewahr.

Doch kein Geheimnis ist so fein gesponnen,

Es muß zuletzt hervor ans Licht der Sonnen.
[227]

40.

Einer bemerkt's, von dem es zwei erfahren,

Von diesen mehr, bis es zum König kam:

Worauf nun gestern einer aus den Scharen

Die Liebenden im Bett gefangennahm:

Fern voneinander eingeschlossen waren

Sie beide bald im Turm, zu Leid und Gram.

Und kaum den Tag verbringt der Jüngling heute;

In schwerer Qual wird er des Todes Beute.


41.

Ich floh, das Gräßliche nicht anzusehen;

Denn lebend wird der Arme ja verbrannt.

Mir könnte Schlimmres wahrlich nicht geschehen,

Als daß für ihn ein solch Geschick zur Hand,

Und keine Freude kann für mich bestehen,

Denn alles ist in Schmerzen gleich gewandt,

Bringt mir Erinnerung die Flamme wieder,

Die bald nun frißt so feine, schöne Glieder.«


42.

Als Bradamant es hört, steht sie in Sinnen,

Und diese Nachricht, scheint's, bestürzt sie sehr:

Sie hegt um jenen Furcht im Herzen drinnen,

Als ob es einer ihrer Brüder wär'.

Und füglich kann hier Sorge Raum gewinnen,

Wie Ihr von mir noch hören sollt nachher.

Gekehrt zu Roger, sprach sie: »Unsre Waffen

Bekommen, scheint mir, wohl für den zu schaffen.«


43.

»Getröste dich,« drauf spricht sie zu der Bangen,

»Und laß uns heimlich in die Mauern ein.

Ist er bisher nicht in den Tod gegangen,

So lebt er fort, des magst du sicher sein.«

Auch Roger steht in Feuer vor Verlangen,

Aus schlimmer Not den Jüngling zu befrein:

Daß er dem grausen Tode werd' entrissen,

Sieht er die edle Herrin ja beflissen.
[228]

44.

Zu ihr, aus deren Augen Tränen quellen

In Bächen, spricht er: »Auf! Was wartest du?

Nicht Weinen, Helfen nützt in solchen Fällen:

Zeig', wo er weilt, und führ' dem Ort uns zu.

Wir ziehn aus tausend Lanzen den Gesellen,

Und Schwertern, doch geleit' uns fort im Nu!

Es gilt, sich übermaßen anzustrengen,

Daß nicht vorher die Flammen ihn versengen!«


45.

Die stolze Sprach' und Haltung beider Recken,

Der wunderkühne Mut in diesem Paar

Aufs neue jetzt die Hoffnung dort erwecken,

Von wo sie gänzlich schon entwichen war.

Allein weil, mehr noch als die weiten Strecken,

Verlegter Weg jetzt drohte mit Gefahr,

Daß es kaum möglich schien, hinzugelangen,

Stand noch das Mädchen zweifelnd und befangen.


46.

Drauf sprach sie: »Wenn geraden Weg wir reiten,

Der gut und eben führt nach jenem Ort,

Dann kämen wir, so glaub' ich, wohl zu Zeiten;

Das Feuer würde noch nicht lodern dort.

Doch schlechten, krummen Weg muß ich euch leiten,

Mehr als den ganzen Tag nimmt der uns fort;

So daß man, wären wir dann auch zur Stätte,

Den Jüngling wohl schon längst getötet hätte.«


47.

»Warum den kürzern Weg nicht lieber gehen?«

Sprach Roger, und erhielt Bescheid sodann:

»Man sieht dort eine Burg der Grafen stehen

Von Pontier, wo ein schlimmer Brauch begann;

Den ließ, drei Tag' sind's, als Gesetz ergehen

An Damen und an fahrnden Rittersmann

Er, der der ärgste Schelm auf alle Fäll' ist

Und Anselms Sohn, von Haut'rive Pinabel ist.
[229]

48.

Kein Ritter kommt und keine Dame weiter,

Die nicht erfahren hätte Schmach und Leid.

Absteigen müssen sie, und jeder Reiter

Läßt dort die Wehr und jede Frau das Kleid.

Kein Frankenspeer senkt sich auf beßre Streiter

– Und hat sich nicht gesenkt in langer Zeit –,

Als jene vier sind, die im Schloß versprochen,

Daß Pinabels Gesetz bleib' ungebrochen.


49.

Drei Tag' alt ist der Brauch; wie er entstanden

Dort ist im Grafenschloß, tu ich euch kund,

Und sehen sollt ihr gleich: war wohl vorhanden

Für jenen Schwur gut' oder schlechter Grund?

Ein schlimmes Weib hat Pinabel in Banden;

Kein ärgres gibt es auf dem Erdenrund;

Die ward einmal – ich weiß nicht, wann's gewesen –

Verhöhnt von einem Ritter auserlesen.


50.

Verlacht von dieser, einer Alten wegen,

Die auf dem Roß er hielt in seiner Hut,

Focht er mit Pinabel, der nur verwegen,

Doch kraftlos ist in seinem Übermut.

Ihn streckt er hin, sie muß die Füße regen

Und zeigen, ob sie häßlich geht, ob gut:

Zu Fuße muß sie sich von dannen heben,

Vorher jedoch ihr Kleid der Alten geben.


51.

Sie, die zu Fuß bleibt und, voll Durst nach Rache,

Vor Ärger wütend Gift und Galle speit,

Im Bund mit ihm, der jede schnöde Sache

Und Unheil recht zu fördern stets bereit,

Rastlos bei Tag und Nacht hält lauernd Wache

Und sagt, sie kenne nimmer Fröhlichkeit,

Bis tausend Ritter sinken auf die Erde

Und ihr das Kleid von tausend Frauen werde.
[230]

52.

Nun wollt' es sich am gleichen Tage fügen,

Daß ein sich stellten hoher Ritter vier,

Die, heimgekehrt von fernen Wanderzügen,

Erst vor ganz kurzer Zeit erschienen hier;

Man fände vier, die solche Hiebe schlügen

Im Kriegsspiel, nicht auf weiter Erde schier:

's ist Samsonet, Grifon und Aquilante,

Und er, den man den wilden Guido nannte.


53.

Im Schlosse hat sie Pinabel empfangen,

Mit freundlichem Gesicht voll Heuchelei,

Und nachts im Bett sie allesamt gefangen.

Er gab sie nimmer vor dem Schwure frei,

Daß, bis ein Jahr und noch ein Mond vergangen

(Erforderlich just dieser Zeitraum sei),

Sie bleiben würden und die Rüstung nehmen

Den fahrnden Rittern allen, die da kämen,


54.

Und allen Damen, die sie bei sich hätten,

Entreißen erst das Roß, danach das Kleid.

Gebunden sind sie durch des Schwures Ketten

Und halten ihn, ob auch voll Schmerz und Leid.

Sie pflegen jeden in den Sand zu betten;

Noch keiner hielt sich bis zu dieser Zeit.

Unzähl'ge kamen ihnen ins Gehege

Und gingen ohne Rüstung ihre Wege.


55.

Ein jeder ist durch das Gesetz gebunden,

Daß, den das Los trifft, sich zum Kampfe stellt.

Doch hat er dann den Feind so stark befunden,

Daß der im Sattel bleibt, er aber fällt,

Müssen die andern drei, zur Schar verbunden,

Anstürmen, bis bezwungen wird der Held.

Ist einer schon gewaltig, magst du sehen,

Wie's wird, wenn alle dann zusammenstehen.
[231]

56.

Auch darf euch unsre große Not nicht zwingen

(Sie duldet Zögern ja und Aufschub nicht)

Zum Aufenthalt, im Kampf für uns zu ringen,

Und wenn auch euer Aussehn Sieg verspricht,

Und ich vermein', es werd' euch wohl gelingen,

In einer Stund' ist's doch nicht eingericht'.

Und zaudert man, ihm beizustehen heute,

So wird der Jüngling sichre Todesbeute.«


57.

»Uns mag,« sprach Roger, »was da will, geschehen,

Wir machen, was man eben machen kann.

Der Rest mag nach des Himmels Willen gehen

Oder des Glücks! Fängt dieser Handel an,

So wirst du aus dem Strauße gleich ersehen,

Ob wir geeignet sind, den jungen Mann

Zu retten, dem sie heut aus nicht'gen Gründen

Den Scheiterhaufen, wie du sagst, entzünden.«


58.

Ohn' Antwort ist sie drauf vorangeschritten

Und geht auf kürzrem Pfad den beiden vor.

Die sind auf ihm drei Meilen kaum geritten,

So stehn sie an der Brück' und an dem Tor,

Wo viele Raub an Wehr und Kleid erlitten

Und Mancher auch das Leben schon verlor.

Zwei Glockenschläge in die Weite schicken

Die Wächter, die vom Turm die Schar erblicken.


59.

Da sieh, vom Tor her trabt ein alter Reiter

In großer Eil' auf einem schlechten Tier,

Und »Wartet, wartet, halt!« im Nahen schreit er,

»Holla! Bleibt dort! Denn Zoll bezahlt man hier,

Und ward die Satzung euch bekannt nicht weiter,

Die man hier einhält, hört sie jetzt von mir!«

Und jenen Brauch begann er darzulegen,

Den Pinabel bestimmt hat allen Degen.
[232]

60.

Des weitern will er guten Rat noch spenden,

So wie er sonst die Ritter hat belehrt:

»Dem Fräulein, Kinder, laßt das Kleid entwenden,

Von euch sei Roß und Rüstung nicht verwehrt!

Zu trotzen solchen Kriegern, Schwert in Händen,

Das wäre sehr gefährlich und verkehrt:

Pferd, Kleider, Waffe kriegt man immer wieder,

Doch nicht das Leben und gesunde Glieder.«


61.

»Genug, genug,« sprach Roger, »denn soeben

Hört' ich den Handel, und ich habe Lust

Jetzt zu erproben, ob ich für mein Leben

Das bin, was mir die Stimme sagt der Brust.

Pferd, Wehr und Kleider werd' ich niemand geben,

Der nur zu drohn und winken hat gewußt.

Auch wird mein Freund hier wohl nicht daran denken,

Sein gutes Rößlein einfach wegzuschenken.


62.

Doch eile dich, um Gott, uns den zu zeigen,

Der uns das Pferd will nehmen und das Kleid;

Wir müssen jenen Berg noch übersteigen,

Und lang zu weilen hier, bleibt uns nicht Zeit.«

»Dort naht er schon, dem solche Absicht eigen«,

Der Alte sprach. So war's in Wirklichkeit.

Ein Ritter kam in rotem Waffenkleide,

Mit Blumen drauf gestickt aus weißer Seide.


63.

Ihr doch zu lassen dieses erste Ringen,

Ward Roger sehr bestürmt von Bradamant:

Gern aus dem Sattel auf die Erde bringen

Möchte sie den im blumigen Gewand;

Es durchzusetzen, wollt' ihr nicht gelingen,

Und Rogers Wille sie gehorsam fand.

Den ganzen Handel woll' er selbst bestehen;

Sie mußte sich begnügen zuzusehen.
[233]

64.

Als Roger fragt, wie sich der Ritter nenne,

Der aus dem Tor als erster sich bewegt:

»'s ist Samsonet,« der Alte spricht, »ich kenne

Am Kleid ihn und den Blumen, die er trägt.«

Von hier, von dort, daß er den Feind berenne,

Strebt jeder; keiner nur die Lippen regt.

Sie suchen sich, gesenkt die Lanzenspitze;

Die Rosse stürmen an mit gleicher Hitze.


65.

Inzwischen kam mit Pinabel geschritten

Ein Haufe Fußvolk aus der Burg heraus,

Er zieht dem Streiter stets, der Sturz erlitten,

Gleich nach dem Kampfe seine Rüstung aus.

Die kühnen Krieger kamen angeritten,

Die mächt'gen Speere eingelegt zum Strauß

(Zwei Handbreit dick, aus heimatlichen Eichen),

Die bis aufs Eisen ganz einander gleichen.


66.

Ein Dutzend wohl der mächtigen Gebilne

Ward auf Befehl von Samsonet gefällt

Vom grünen Stamme, nah im Waldgefilde,

Und für Turnier und Zweikampf hergestellt.

Von Demant müssen Harnisch sein und Schilde

Und alles, das bei solchem Stoß sich hält.

Den einen Speer hat Roger gleich bekommen,

Den andern hat er für sich selbst genommen.


67.

Mit diesen, stark, um Amboß zu durchspalten

(Vorn, festgestählt, die Spitze sich befand),

Grad auf den Schild die beiden Recken halten

Und treffen vollen Laufes aufeinand.

Herrn Rogers Schild (ihn mußten einst gestalten

Nackte Dämonen) leistet Widerstand;

Der Schild, von dessen Kraft ich schon gesprochen,

Von Atlas stammend, der blieb ungebrochen. –
[234]

68.

Vom Zauberglanz, der sich im Schild befindet,

Sagt' ich, sobald er in ein Auge bricht,

Geschieht's, daß jedem das Bewußtsein schwindet,

Trifft er, von Hülle frei, das Angesicht.

Drum – außer wenn die Not die Hüll' entwindet –

Verdeckt ein Schleier stets des Schildes Licht.

Auch Undurchdringlichkeit muß er besitzen:

Der mächt'ge Lanzenstoß konnt' ihn nicht ritzen.


69.

Der andre darf auf Widerstand nicht hoffen,

Ihn schuf ein Meister minder kund'ger Hand:

Er barst entzwei, gleichwie vom Blitz getroffen,

Worauf das Eisen just die Mitte fand;

Sie fand die Mitte, und darunter offen

Lag nun der Arm ohn' allen Widerstand:

Herr Samsonet muß aus dem Sattel fliegen;

Verwundet sieht man ihn am Boden liegen.


70.

Das war der erste der Gefährten drinnen,

Die sich dem Schutz des schlechten Brauchs geweiht:

Die fremde Rüstung konnt' er nicht gewinnen,

Und aus dem Sattel flog er selbst im Streit.

So folgt das Leid auf lachendes Beginnen,

Und oft zu Launen ist das Glück bereit.

Aufs neu erklingt der Glockenschlag vom Turme

Und lädt die andern Ritter jetzt zum Sturme.


71.

Derweil hat Pinabel sich Bradamante

Genaht, zu hören, wer der Kämpe gut,

Der seinen Ritter ihm vom Pferde rannte

Mit solcher Heldenkraft und solchem Mut.

Gott war es, der ihn dieses Weges sandte

(Für Schuld zu büßen hier mit seinem Blut)

Auf jenem Pferd, drauf er der Flucht beflissen,

Als es durch Trug ward Bradamant entrissen.
[235]

72.

Der achte Monat war gerad vollendet,

Seit ihr der Mainzer das Geleite gab

(Ihr wißt's, wenn Ihr die Blicke rückwärts wendet),

Beim Grab Merlins, da stieß er sie hinab;

Durch einen Zweig ward Rettung ihr gesendet,

Der – und ihr Glück – hielt stützend sie als Stab;

Der Mainzer, wähnend, sie sei umgekommen,

Hatt' ihren Renner mit sich fortgenommen.


73.

Ihr Pferd erkennend, kennt sie auch den Reiter,

Den ungetreuen Grafen Pinabel:

Und als sie seine Stimme hört und weiter,

Aufmerkend schärfer, mustert den Gesell,

Sagt sie: »Das ist der schurkische Begleiter,

Der mich verderben wollt', ich seh' es hell:

Auf diesen Weg mußt' ihn die Untat führen,

Den Lohn zu finden, der ihm will gebühren.«


74.

Drohung und rascher Griff nach ihrem Degen

War eins und anzusprengen mit dem Roß.

Zuvor jedoch galt's, ihm den Weg verlegen,

Daß er nicht fliehen könne nach dem Schloß.

Wie in der Fall' ein Fuchs sich schlecht kann regen,

Der Rettung Hoffnung Pinabel verfloß:

Aufschreiend sucht er in des Waldes Hecken

Ohn' allen Widerstand sich zu verstecken.


75.

Bleich und entsetzt strebt er davonzujagen,

Denn in der Flucht beruht sein letztes Heil.

Die Maid, die grimme, ist ihm dicht am Kragen,

Und mancher Hieb und Stoß wird ihm zuteil.

Es dröhnt der Wald mit Ächzen und mit Klagen;

Sie bleibt ihm auf den Fersen alldieweil.

Davon vernehmen nichts die von der Feste,

Denn nur auf Roger blicken deren Gäste.
[236]

76.

Nun waren auch die andren drei erschienen,

Sie hielten noch bisher im Schlosse Wacht;

Und jene böse Hexe war mit ihnen,

Die solches schlimme Weggesetz erdacht.

Sie meinen, besser, als in Schmach zu dienen,

Werd' ihnen ehrenvoller Tod gebracht.

Schamröte sieht man auf den Wangen stehen,

Daß drei auf einen Mann zum Kampfe gehen.


77.

Sie, die den Brauch hat eingeführt, den schlechten,

Die grausam ränkevolle Buhlerin,

Ruft jetzt den Schwur, im Kampf für sie zu fechten,

Aufs neue den drei Rittern in den Sinn.

»Mein Speer allein hilft dir zu deinen Rechten,

Was schickst du da mir noch Begleiter hin?«

Guido der Wilde sprach. »Und sollt' ich lügen,

Nimm mir den Kopf, gern will ich drein mich fügen.«


78.

Allein beim Kampfe will ein jeder bleiben,

Auch Grifon und sein Bruder Aquilant;

Sie wollen lieber sich dem Tod verschreiben,

Als auf den einen stürzen miteinand.

»Warum viel Worte, und ein Ding betreiben«,

Sprach sie, »ganz ohne Nutzen und Verstand?

Ich bracht' euch, daß ihr Rüstung tragt von hinnen,

Und nicht, ein neu Gesetz hier zu ersinnen.


79.

Als ihr in Haft wart, Weigerungen galten,

Doch nicht an diesem Ort; es ist zu spät.

Ihr seid gezwungen, das Gesetz zu halten,

Genug geschwätzt, auf, an die Arbeit geht!«

»Ihr möchtet Waffen gern und Pferd erhalten«,

Rief Roger, »mit dem neuen Sattel, seht!

Das Kleid der Dame auch, der ich Begleiter;

Wenn ihr das wollt, was zaudert ihr noch weiter?«
[237]

80.

Hier drohte scheltend jenes Weib vom Schlosse,

Dort höhnte Roger sie mit Stimm' und Hand;

So spornten sie zusammen denn die Rosse,

Die Wangen rot und heiß in Scham entbrannt;

Voran der erste und der zweite Sprosse

Des edlen Grafen vom Burgunderland.

Entfernt von ihnen eine kleine Strecke,

Auf schwererm Roß kommt Guido auch, der Recke.


81.

Der Speer, der Samsonet daniederstreckte,

Der gleiche war's, den diesmal Roger trug,

Mitsamt dem Schild (den noch die Hülle deckte)

Des Atlas auf Pyrenes Höhenzug,

Dem Zauberschild, der jedes Aug' erschreckte

Und dessen Glanz kein Menschenkind ertrug,

Des Helden letztes Mittel in Gefahren,

Die durch nichts andres zu bestehen waren.


82.

Nur dreimal half er sich auf diese Weise,

Und zwar in Nöten wirklich übergroß.

Zweimal, als zu der Tugend ging die Reise

(Er riß sich aus der Wollust Banden los):

Dann, als die Orka, nimmersatt der Speise,

Blieb ungefüttert in der Wogen Schoß,

Da sie die schöne Nackte fressen sollte,

Die also bösen Dank dem Retter zollte.


83.

Sonst, ausgenommen die drei Schlachten eben,

Blieb auf dem Schild der Schleier immerdar,

Derart, daß er bequem und leicht zu heben,

Gebot' es eine dringende Gefahr:

So ausgerüstet, voller Mut und Leben,

Kam er geritten, aller Furcht so bar,

Daß die drei Ritter, schien's, ihm minder galten

Als zarter Kindlein schwächliche Gestalten.
[238]

84.

Da, wo Visier und Schild zusammenkommen,

Da trifft den Gegner Ritter Rogers Speer;

Das Gleichgewicht ist Grifon ganz genommen:

Er taumelt, fällt zur Erde hinterher.

Auch Rogers Schild hat einen Stoß bekommen,

Doch nicht gerade, sondern nur die Quer':

Der Speer muß von dem glatten Stahl zur Seiten,

Unschädlich, mit verkehrter Wirkung, gleiten.


85.

Der Schleier reißt, der bergend hielt umschlossen

Das fürchterliche zauberhafte Licht,

Vor dem, sobald die Strahlen sich ergossen,

Geblendet jeder Mensch zusammenbricht.

Herr Aquilant, zur Seite des Genossen,

Zerfetzt ihn ganz –: der Schild blitzt frei und licht,

So daß er Blendung jenem Paar bereitet,

Auch Guido, der gleich hinter ihnen reitet.


86.

Vom Schild sind nicht die Augen bloß geblendet

(Die Krieger sinken auf den Boden schwer),

Auch jedes andern Sinnes Regung endet.

Ohn' Ahnung, daß hier keine Kämpfer mehr,

Kehrt Roger um; und wie das Pferd er wendet,

Faßt er den schneidigen und spitzen Speer

Und sieht: kein Streiter stellt sich mehr von allen,

Denn beim Zusammenstoß sind sie gefallen.


87.

Die Ritter fielen und dazu die Frauen

Und wer zu Fuß kam aus der Burg hervor;

Die Pferde liegen, sind wie tot zu schauen;

So strecken sie die Glieder steif empor.

Er wagt zuerst den Augen nicht zu trauen,

Dann sieht er, links in Fetzen hängt der Flor,

Den seidnen Schleier mein' ich, drin er immer

Verborgen hielt des Schildes bösen Schimmer.
[239]

88.

Umkehrt er rasch, und seine Blicke spähen

Nach ihr, der vielgeliebten Kriegerin:

Er sucht sie, wo er sie vorher gesehen,

Als Zeugin bei des ersten Kampfs Beginn.

Dann denkt er sich: es trieb sie, fortzugehen

Zu dem vom Tod bedrohten Jüngling hin,

Aus Furcht, er mög' am Ende schon verbrennen,

Derweil man Zeit verliert mit Lanzenrennen.


89.

Das Mädchen, das die Schöne hergeleitet,

Liegt auch besinnungslos bei jenen dort,

Er nimmt sie, wie sie schläft, aufs Pferd und reitet,

Im Innern ganz verstört, des Weges fort.

Den Mantel, den sie überm Kleid hat, breitet

Er auf den Zauberschild, und sieh, sofort

Ist sie vom Schlaf erwacht; sie kam zu Sinnen,

Sobald der Glanz erlosch im Mantel drinnen.


90.

Er reitet, Scham in Zügen und Gebärden,

Das glühnde Antlitz tief gesenkt, voran,

Ihm ist, als säh' ein jeder Mensch auf Erden

Den Sieg, den wenig rühmlichen, ihm an.

»Wie mag ich dieser Schande ledig werden?

Ob ich wohl diese Schuld vernichten kann?

Man wähnt nun jeden Sieg, der mir gelungen,

Durch Zauber, nicht durch meinen Wert, errungen.«


91.

So reitend, brütend, tief versenkt in Sinnen,

Erblickt er das, wonach der Sinn ihm stand,

Urplötzlich, mitten in dem Wege drinnen:

Es war ein tiefer Brunnen, den er fand.

Hier ließ sich Wasser in die Kehle rinnen,

Die Herde, weidesatt, im Mittagsbrand.

Er sprach: »O Schild, ich muß mir Mühe geben,

Durch dich nicht andre Schande zu erleben!
[240]

92.

Du sollst mir keinen weitern Vorwurf bringen

Auf dieser Welt, denn dich behalt' ich nicht.«

Er spricht es, eilt vom Renner sich zu schwingen

Und nimmt ein Felsstück groß, schwer von Gewicht,

Knüpft's an den Schild, und sieh, die Fluten schlingen

Die Last hinab, weit, weit vom Sonnenlicht!

Er spricht dazu: »Nun liege hier begraben!

Mit dir soll meine Schmach ein Ende haben.«


93.

Der Brunnen hohl und bis zum Rand die Fluten!

Schwer war der Schild und jenes Felsstück schwer.

Sie sanken, bis sie tief im Grunde ruhten,

Und weiches Wasser wallte drüber her.

Fama verschwieg die Tat des Hochgemuten,

Die edle, große, nicht und preist sie sehr:

Mit vollem Klang läßt sie ihr Horn ertönen,

Daß Frankreich, Spanien und die Welt erdröhnen.


94.

Als durch die ganze Welt von Mund zu Munde

Dies seltsam' Abenteuer ward bekannt,

Aufbrachen viele Helden da zur Stunde

Nach jenem Schild aus nah- und fernem Land.

Doch nicht vom Waldesraum ward ihnen Kunde,

Darin der heil'gen Waffe Brunnen stand,

Weil jenes Mädchen, das die Nachricht brachte,

So Land wie Brunnen niemals kenntlich machte.


95.

Als Roger sich auf seinem Weg befunden,

Nach leichtem Siege, fern von jenem Schloß,

Wo er vier große Kämpen überwunden –

Strohpuppen gleich sank diese Schar vom Roß –,

War mit dem Schild nun auch das Licht verschwunden,

Das Augen wie Besinnung jedem schloß;

Und die vorher wie Tote sanken nieder,

Erhoben staunend sich vom Boden wieder.
[241]

96.

Gesprochen ward an diesem Tag von allen

Nichts andres, als was diesen Fall betraf:

Wie jeder durch das Schreckenslicht gefallen

In einem Nu in diesen Zauberschlaf.

Als sie so reden, hört man Kunde schallen:

Erschlagen liege Pinabel, der Graf.

Daß er getötet sei, hat man erfahren,

Doch übern Täter ist man nicht im klaren.


97.

Inzwischen war erreicht auf engem Pfade

Der Erzschelm Pinabel von Bradamant,

Und hundertmal in Brust und Leib zum Bade

Taucht bis zum Heft das Schwert in ihrer Hand:

Es scheide von der Welt der Fluch, der Schade,

Der angesteckt hat rings das ganze Land.

Drauf ist sie von dem Platz in Waldesmitten

Auf rückerlangtem Roß davongeritten.


98.

Sie will zurück zu ihrem Roger wieder,

Verfehlt jedoch den Weg, sie weiß nicht wie.

Sie sprengt die Höhn hinauf, die Täler nieder,

Die ganze Gegend schier durchreitet sie.

Allein so sehr ist ihr das Glück zuwider:

Dorthin, wo Roger weilt, gelangt sie nie.

Wer sein Behagen fand an den Geschichten,

Dem soll der nächste Sang noch mehr berichten.

Quelle:
Ariosto, Ludovico: Der rasende Roland. In: Sämtliche poetischen Werke, Berlin 1922, Band 2, S. 217-242.
Lizenz:
Ausgewählte Ausgaben von
Der rasende Roland
Die Historia vom Rasenden Roland
Ludovico Ariosts Rasender Roland nacherzählt von Italo Calvino

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