10. An Ihn

[31] Kann ich lindern dieses Sehnen,

Das mich träumend Dir vereint?

Dir verhaßt sind diese Thränen,

Die der blasse Kummer weint;

Die ein Opfer des Geschickes

Weint am Grab entschwund'nen Glückes! –

»Ihre Todten zu begraben,

Laß' die Todten sich bemüh'n!

Doch des Lebens reichste Gaben

Mögen den Lebend'gen blüh'n.
[31]

Ewig soll's im Herzen lenzen,

Neue Triebe, neue Kraft!

Und mit frischen Blüthenkränzen

Schmücke sich die Leidenschaft!

Was im Sturm der Zeit verloren,

Sei verjüngt und neugeboren!

Wenn der Sonne Glanz versunken,

Wenn verglüht des Tages Pracht;

Steige auf, von Wonne trunken,

Gluterfüllte Liebesnacht!« –


Und doch rührt mich frisches Leben

Nicht mit seinem Zauberstab.

Träumende Gedanken schweben

Um entschwund'ner Zeiten Grab;

Und es grüßt die bange Klage

Abendroth versunk'ner Tage.

Will ich kräftig mich ermannen,

Fliehen der Erinn'rung Fluch;

Fehlt, die Geister fortzubannen,

Mir der mächt'ge Zauberspruch!
[32]

Schau' umher ich tiefbekümmert,

Alles wird zur Elegie;

Und im Innersten zertrümmert

Ist der Seele Harmonie;

Klagend in Erinnerungen,

Eine Glocke, die gesprungen!

Wer dem machterfüllten Beben

Ihrer Töne einst gelauscht;

Hört, wie jetzt zerriss'nes Leben

In gebroch'nen Klängen rauscht.


Schöne Tage, kehret wieder!

Bringt das Herrliche zurück!

Seiner Freiheit wilde Lieder;

Seiner Liebe mildes Glück!

Ja, vergessen war mein Dulden,

Und vergeben mein Verschulden!

Deiner Lehre treuer Jünger

Weint' ich keinem Glücke nach,

Denn ein neuer Freudenbringer

Stieg empor der neue Tag.
[33]

Sprach'st Du mir von Männerwürde,

Von der Freiheit Herrlichkeit,

Warf ich eig'ner Sorgen Bürde

In das weite Meer der Zeit.

Eine Schranke muß ja fallen,

Und ein Morgen tagt uns allen!

Wenn den unterdrückten Knechten

Erst der Freiheit Sonne scheint;

Wird das Weib mit gleichen Rechten

Einst dem freien Mann vereint.


Nimmer lausch' ich mehr dem Worte,

Das mein Innerstes durchklang;

Pochend an der Zukunft Pforte

In der Jugend Thatendrang,

Raubend von des Himmels Heerde

Licht und Feuer für die Erde.

Solcher Liebe heißes Werben

Wurde rasch des Friedens Grab;

Und in seliges Verderben

Stürzt' ich freudig mich hinab. –
[34]

Kann ich lindern dieses Sehnen,

Das mich träumend Dir vereint?

Dir verhaßt sind diese Thränen,

Die der blasse Kummer weint!

Wohl! so will ich schmerzhaft ringen,

Finst're Trauer zu bezwingen: –

»Ihre Todten zu begraben,

Laß die Todten sich bemüh'n;

Doch des Lebens reichste Gaben

Mögen den Lebend'gen blüh'n!«
[35]

Quelle:
Louise Aston: Wilde Rosen. Berlin 1846, S. 31-36.
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