5. Kerker-Phantasie

[16] Es liegt vor mir das Wort des Herrn,

Die Bibel, aufgeschlagen;

Daraus gemahnt mich, bleich und fern,

Der Geist von alten Tagen.

Du hast Erlösung prophezeit!

Erlösung bringst du nicht –

Und die verheiß'ne Seligkeit

Ist nur ein Traumgesicht!
[16]

Mich starrt es an, das Wort des Herrn,

Das nie mir Trost gewährte.

Mir strahlte nie der gold'ne Stern,

Der Bethlehem verklärte.

Mich mahnt's unheimlich, graunerfüllt,

Und bringt den Tod mir nah',

Das schmerzentstellte Götterbild,

Das Kreuz auf Golgatha!


Der Kreuzestod, die Grabesnacht,

Die finstern Bilder alle;

Die Angst, die bang und betend wacht,

Vor neuem Sündenfalle;

Die Buße, die sich selbst kasteit,

Des Himmels Strafgericht!

O, meines Kerkers Einsamkeit

Begrüßt kein rettend Licht!
[17]

Das Kreuz – ich fühle seine Last,

Wie ein dämonisch Walten –

Von seiner Macht bin ich erfaßt,

Unrettbar festgehalten.

Es bindet mich für Ewigkeit

Der Weihe heil'ger Spruch,

Und namenlosem Schmerz geweiht

Hat mich dies Himmelsbuch!


»Er sei Dein Herr!« das Wort besteht,

Wie es von je bestanden!

Weil ich dies Herrenthum geschmäht,

Seufz' ich in schweren Banden.

Doch meine Seele bleibe frei

Trotz Fesseln und Gefängniß,

Und trage in der Sklaverei

Bewußt ein groß' Verhängniß!
[18]

Quelle:
Louise Aston: Wilde Rosen. Berlin 1846, S. 16-19.
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