I

[189] Die Frankfurter Septembertage.


Auf dem flachen sandigen Ufer des kleinen Belt, gegenüber der Nordspitze der Insel Alsen, bildet das Meer eine tiefe und breite Bucht, an deren innerstem Grunde sich die schleswigsche Stadt Apenrade anlehnt. Die rechte südliche Seite des Ufers zieht sich in einem weiten Bogen bis zur Mündung des Hafens hin, welche durch zwei kleine, mit den Ufern rechte Winkel bildende nach Norden und nach Süden auslaufende Landzungen scharf begrenzt ist.

Die nördliche Landzunge war damals militairisch[189] benutzt worden. In einer Entfernung von 50 zu 50 Schritten blickte die Mündung einer Kanone wie ein lauerndes Cyklopenauge über den Wall hinaus auf das Meer. Es waren im Ganzen vier 6- und zwei 24-Pfünder, welche diese Strandbatterie bildeten; sie schien besonders dazu bestimmt, das Hauptquartier des General von Wrangel, welches sich in dem sich über die andern Häuser Apenrades erhebenden Schlosse des Kammerherrn von Stehmann befand, vor einem Ueberfall zu schützen.

Die äußerste Spitze der südlichen Landzunge bildet ein kegelförmig gestalteter, grüner Hügel, an dessen mit dichtem Buschwerk besetzter Brust die weißschäumenden Wogen des unruhigen Beltes sich brechen.

Ein schmaler, sich durch das hohe Gras hinwindender Fußsteig führt den Hügel hinan und endet auf seinem ein wenig abgeglatteten Gipfel, in dessen Mitte ein mächtiger moosbewachsener Stein in schräger Lage aus der Erde hervorragt, welcher – seiner regelmäßigen Form nach zu[190] urtheilen – nicht durch den Zufall der Natur hierhergewälzt zu sein schien.

Es war ein heißer Augustabend. Das Meer sandte seine ewig rollenden Wellen mit träger Langsamkeit an das glühende Ufer; die Blätter der jungen Birken und Haselstauden auf dem Hügel hingen welk und glanzlos an den Zweigen nieder. Die ganze Natur lechzte nach Kühle und Erfrischung; nur ein lebendes Wesen unterbrach die Stille: es war ein Kuckuck, der seinen weit hinschallenden melancholischen Ruf in langen regelmäßigen Pausen ertönen ließ.

Die Sonne war hinter Apenrade niedergegangen, das Abendroth warf seinen dunkelrothen Wiederschein über den Hafen hin und einzelne Sterne zitterten bereits mit bleichem Lichte am tiefblauen, wolkenlosen Himmel. Da stieg ein Mann in einem blauen Staubhemde und breitrandigem Strohhut den Hügel hinan. Als er die Spitze erreicht hatte, zog er ein Fernrohr hervor, und warf durch dasselbe rings umher einen forschenden Blick, als wollte er sich überzeugen, daß[191] er von Niemandem bemerkt worden sei. Seine Beobachtungen schienen ihn befriedigt zu haben, denn er legte Fernrohr, Stock und Strohhut auf den Boden nieder und setzte sich selbst auf den alten Stein.

Nach einer kurzen Pause, während welcher er, wie es schien, nur mit seinen Gedanken beschäftigt, vor sich hinblickte, nahm er das Fernrohr wieder auf und richtete es in nordöstlicher Richtung auf das Meer, ließ es jedoch bald wieder sinken und nahm seinen Platz auf dem Stein wieder ein.

Ein dumpfes Rollen, wie der schwache Donner eines fernen Gewitters, weckte ihn plötzlich aus seiner Träumerei. Rasch sprang er empor und setzte das Fernrohr abermals an das spähende Auge. –

Ein Freuderuf entfuhr seinem Munde.

– Ah, sie haben Wort gehalten – murmelte er vor sich. – Beim Teufel, es war hohe Zeit.

Wer mit unbewaffnetem Auge auf das bereits ins Dunkel versinkende Meer hinausgeblickt hätte,[192] würde wahrscheinlich den kleinen dunkeln Punkt am nordöstlichen Horizonte übersehen haben, der dem Unbekannten ein so großes Vergnügen verursachte. Aber in dem trefflichen Glase des Rohrs zeichnete sich deutlich eine große dänische Fregatte ab, welche mit vollen Segeln auf den Hafen lossteuerte.

Der Fremde ließ jetzt wiederum sein Fernrohr sinken, vielleicht weil die schnell herannahende Nacht das Schiff seinen ferneren Beobachtungen entzog, vielleicht auch, weil er nichts weiter zu beobachten hatte. Aber er setzte sich nicht wieder, sondern starrte fortwährend auf das Meer hinaus. Eine volle halbe Stunde mochte vergangen sein, da ließ sich ein regelmäßiges leises Plätschern hören, welches dem Ufer sich näherte. Endlich schwieg das Geräusch.

Man vernahm deutlich, wie ein Boot dicht bei dem Hügel auf das Ufer gezogen wurde. Darauf erscholl von unten herauf ein helles Pfeifen.

– Bravo, mein Bursche! – sagte lächelnd der Fremde, indem er seinen Strohhut aufsetzte.[193] Darauf zog er den Knopf seines Ziegenhainers an den Mund und antwortete mit einem ähnlichen Pfiff.

– Hallo! – fluchte eine tiefe Stimme unten. – Zum Teufel mit diesen verdammten Dornsträuchern, die einen ehrlichen Kerl fester halten, als die breiteste Sandbank, und ihn ärger schinden, als das spitzeste Riff.

– Wendet Euch rechts, Capitain; – rief der Fremde hinunter – ein Dutzend Schritte am Ufer hin, da findet Ihr den Steg. – – Nun, was giebts jetzt wieder?

Diese letzte Frage galt einem neuen Ausruf des unten Tappenden, der aber mehr aus Verwunderung, als aus Unwillen zu entspringen schien.

– Nisten in dieser erbärmlichen Wüste auch Wölfe? Es wollte mir fast scheinen, als hätte ich so was durchs Gebüsch schlüpfen sehen. – Na, Gott sei gelobt, wir sind zur Stelle – – guten Abend, Lieutenant! Doch wie? seid Ihrs wirklich?[194] In solchem Aufzuge? Ihr seht ja aus wie ein wandernder Bänkelsänger.

– Laßt das jetzt, Capitain, es ist spät, und ich muß bald ins Quartier zurück, wenn ich nicht vermißt werden soll. Doch zuvor sagt, was meintet Ihr vorher mit dem Wolfe? – Er warf bei diesen Worten einen unruhigen Blick auf das Gebüsch.

– Ah, bah! Was wirds gewesen sein? Eine alte Eule, die wir im Schlafe gestört – erwiederte der Neuangekommene, ein derber, kräftiger Seemann, mit gebräuntem Gesicht und starkem Schnurr- und Knebelbart.

– Seid Ihr allein gekommen? – fragte vorsichtig der Fremde.

– Denkt Ihr, ich sei eine gemeine Theerratte, die den Säbel zuweilen auch mit der Ruderstange wechselt? Meine Burschen sind unten im Boot.

– Wie viel sinds Ihrer?

– Zum Teufel, was soll's mit diesen Fragen?

– Nun! – begütigte der Andere – ereifert[195] Euch nicht. Ihr seid Eurer Leute sicher, nicht wahr?

– Das sollte ich meinen! – rief der Capitain. – Für den Nothfall hab' ich Mittel, sie so in Sicherheit zu bringen, daß sie ferner für keine Schutzwache zu sorgen haben. – Er schlug bei diesen Worten seinen Mantel auseinander, wodurch ein mit zwei Doppelpistolen besetzter Ledergurt sichtbar wurde.

– Gut! – sagte der Fremde, sichtlich beruhigt. – Zur Sache denn! Was bringt Ihr für Nachrichten aus Copenhagen?

– Man ist der Sache bei Hofe herzlich satt und hätte ihr längst auf die eine oder die andere Weise ein Ende gemacht, wenn man nicht hätte Rücksicht auf die allgemeine Meinung, d.h. auf die wohlfeile Kriegslust des Straßenpöbels, nehmen müssen.

– Ihr scherzt!

– Schauet dort den Beweis! – sagte der Capitain, auf das Meer in der Richtung der Fregatte[196] deutend. – Der Apenrader Hafen ist in Belagerungszustand erklärt.

Der Fremde trat einen Schritt zurück.

– Und was verhandeln wir dann noch hier? – sagte er kurz und heftig. – Gute Nacht!

– Hoho! Gemach, mein Freund! Ihr segelt verdammt unterm Winde. Sorgt nur, daß Ihr nicht unversehens auf ein Riff lauft. Ich bitt' Euch, laßt Euren Anker auf dem Grunde, wir sind noch lange nicht fertig.

– Nun, was soll's noch weiter? Ich mache nicht gern unnütze Worte!

– Da habt Ihr ganz meinen Geschmack! Nicht wahr, Chevalier, Ihr wünscht diese Nacht sicherlich lieber in Eurem weichen Bette, als in einer wurmstichigen Hängematte zuzubringen.

– Was bedeutet das nun wieder? – fragte mit einer gewissen Unruhe der mit dem Titel »Chevalier« angeredete Fremde.

– Beim Himmel, ich weiß nicht, was ich Euch für Grund gegeben habe, mich für einen unbärtigen Knaben zu halten! Nicht wahr? Ihr[197] möchtet jetzt hingehen und Euch den Lohn, den Ihr dem Feinde nicht abverdienen könnt, bei Euren Freunden einzubringen suchen. Still! Ich sollte meinen, daß wir uns kennen, Chevalier. Ein Kind kann einsehen, daß der Bursche da draußen nicht umsonst die Nacht abgewartet hat, um dem Apenrader Hafen einen Besuch abzustatten. Ich hoffe, morgen mein Frühstück im Schlosse des Herrn von Stehmann einzunehmen. Verstanden? Gut; und nun, meint Ihr, werde ich Euch fortlassen, um dafür zu sorgen, daß mir statt einer kalten Rebhuhnpastete von jenen lahmen Strandläufern – er zeigte nach der andern Landzunge auf die Strandbatterie hinüber – ein Frikassee zum Willkommen gebracht wird, das mir den Appetit für immer vergehen machen möchte? –

– Ihr glaubt also, ich werde Euch verrathen?

– Teufel, Ihr seid schnell von Begriffen: das meine ich, ja.

– Ihr möchtet unter anderen Umständen so Unrecht nicht haben – lächelte Jener – doch[198] diesmal irrt Ihr. Meint Ihr wirklich, daß ein Mann, wie ich, aus bloßer Geldlust dergleichen unternimmt? Nein. Dänemark ist mir eben so gleichgültig wie Deutschland, und vollends dieser lächerliche Krieg, von der einen Seite aus Renommage, von der andern aus Hochmuth und Ländergier unternommen, von keiner mit Ernst geführt. Bei Gott, ich rührte keinen Finger deshalb, hätte ich nicht andere Gründe.

Es war zu dunkel, um das Gesicht des Redenden zu erkennen, aber in seinem erregten, zitternden Tone lag ein solcher Ausdruck von Wahrheit, daß der Capitain davon getroffen wurde.

– Nun, ich habe Euch nicht beleidigen wollen – sagte er einlenkend.

– Hört jetzt, was ich Euch zu sagen habe. Ich weiß bestimmt, daß Preußen Alles aufbieten will, um einen Waffenstillstand quand même zu Stande zu bringen. In Frankfurt wird bereits, obschon bisher ohne Erfolg, deshalb intriguirt. Willigen die Frankfurter bis zum 20. dieses Monats, heute ist der 16., also innerhalb 4 Tagen, [199] nicht ein, so wird es Preußen auf einen Separatfriedensschluß ankommen lassen. Die Vorbereitungen dazu sind bereits getroffen. Die Ausführung scheiterte bisher an der Hartnäckigkeit Wrangels, der eitel genug ist, sich auf den Titel:

»Oberkommandeur der Truppen der Reichscentralgewalt«


etwas einzubilden. Aber er wird sich fügen, wenn man ihm die Wahl läßt, nachzugeben oder den preußischen Dienst zu verlassen. Habt Ihr mich verstanden?

– Vollkommen. Fahrt fort!

– Ihr seht hiernach ein, daß es völlig unpolitisch und gegen Euer eigenes Interesse wäre, den Hafen zu forciren und Apenrade zu beschießen. Denn erstlich würde Wrangels Widerstand gegen die Abschließung des Waffenstillstandes dadurch hartnäckiger und zweitens würde das preußische Cabinet selbst nicht mehr seinen friedlichen Absichten folgen können, ohne sich zu[200] sehr zu compromittiren. Es ist klar, daß man laut über Verrath schreien würde.

– Hm! Ihr scheint mir in gutem Fahrwasser zu steuern. Doch Eins erklärt mir noch. Wie soll ich mich mit meiner Instruktion abfinden, die ausdrücklich die Beschießung, respektive Ueberrumpelung von Apenrade anbefiehlt.

– Habt Ihr sie bei Euch?

– Ja wohl; aber es ist zu dunkel, Ihr könnt nicht sehen.

– Gebt nur – erwiederte jener, eine kleine Laterne anzündend. – Stellt Euch auf diese Seite, damit der Schein nicht nach dem Lande fällt.

Der Chevalier entfaltete das Papier und las es aufmerksam durch, während der Capitain leuchtete.

– Hier steht ja noch etwas von einer zweiten, speciellen Instruktion, die Ihr am Orte Eurer Bestimmung erbrechen sollt. Habt Ihr das gethan?[201]

– Nein, dazu, dächte ich, wäre noch Zeit genug, wenn's zum Kampfe geht.

– Thor, der Ihr seid. Wenn Euch nun gerade darin der Kampf untersagt würde. Der Capitain sah seinen Gefährten verblüfft an. – Wartet einen Augenblick – sagte er, seinen Gurt abschnallend. Eine in der einen Seite desselben verborgene Tasche öffnend, zog er darauf die versiegelte Instruktion hervor und erbrach sie.

– Donnerwetter, Ihr habt, hol' mich der Teufel, recht – rief er erstaunt. – Hier steht das Gegentheil von dem, was dort. Das begreife ein Anderer.

– Das ist sehr leicht zu begreifen – sagte mit Ruhe der Chevalier. – Um ganz sicher zu sein, gab man Euch in Copenhagen eine officielle Depesche, die so lautete, wie die öffentliche Meinung, die Ihr so richtig als die Meinung des Straßenpöbels charakterisirt habt, es verlangte, und wies Euch nur in einer kleinen, unschuldig aussehenden Notiz auf die weitere specielle[202] Instruktion hin, die Ihr versiegelt erhieltet mit dem gemessenen Befehl, sie erst am Bestimmungsort zu öffnen. Das scheint mir klar wie die Sonne.

– Was soll ich da thun? – sagte zweifelhaft der Capitain.

– Welche Frage? Dem gehorchen, was man Euch befohlen hat. Doch einen Rath als Freund will ich Euch geben. Bewahrt beide Dokumente sorgfältig! Es könnte eine Zeit kommen, wo man die Verantwortlichkeit für die insgeheim angeordneten Maßregeln auf Euch wälzen möchte. Ihr könntet dann die Papiere nöthig haben zu Eurer Rechtfertigung.

– Ihr habt wieder recht, Chevalier – erwiederte der Capitain, ihm die Hand schüttelnd. – Ich werde Euch dankbar sein.

– Es ist gut! – sagte jener kalt. – Ich glaube, wir haben für heute unser Geschäft beendet. Nicht wahr, ich werde nicht in einer Hängematte schlafen müssen?[203]

– Ich bitt' Euch, schweigt davon! Es war eine Dummheit von mir. Wann sehe ich Euch wieder?

– Das weiß ich nicht. Sollte ich Euch sprechen müssen, so werdet Ihr hier um diese Zeit ein kleines Licht bemerken. Setzt Euch dann in Euer Boot und kommt herüber.

– Vortrefflich. Nun gehabt Euch wohl! – – – Holla, Bursche! – rief er nach dem Ufer hinunter. – Macht Euch fertig.

Nach einem kräftigen Händedruck stieg er den Hügel hinab.

Der Chevalier blieb mit gekreuzten Armen an dem Steine stehen und lauschte den Ruderschlägen des sich entfernenden Bootes. Als sie verklungen waren, zog er seine Blouse fester zusammen und stieg ebenfalls herab, nach der Landseite sich wendend. Bald war er im Schatten der Nacht verschwunden.

Als seine Schritte verhallt waren, bewegte sich das Gebüsch hinter dem Steine und ein menschlicher Kopf zeigte sich.[204]

Sie sind fort! – sagte eine weiche Stimme. Bald darauf trat ein noch ganz junger Mann in der grünen Uniform eines Berliner Freischärlers heraus.

– Hallunken Ihr! – sagte er, drohend die kleine Faust erhebend – ich werde Euer Teufelsgebräu Euch versalzen.

Traurig ließ er den Kopf sinken und setzte sich hart an das Meer.

– Also auch dies Blut soll umsonst geflossen sein? – sagte er vor sich hin. Es war wiederum nur ein Wahn, der uns hieher trieb, für die Größe, Einheit und Freiheit Deutschlands in den Kampf und Tod zu gehen. Fluch über die Erbärmlichen, die am grünen Tische durch meineidigen Verrath die Fesseln an einander schmieden, mit denen sie auf's Neue die deutschen Stämme in Banden schlagen wollen! Doppelten Fluch aber über die Verräther in der Paulskirche, die das Volk hingesandt, sein Recht gegen die Ränke der Fürsten zu vertheidigen, und die nun ruhig zusehen, wie man dies Recht mit Füßen tritt und die[205] Sehnsucht Deutschlands nach Freiheit verhöhnt. O Felix! Felix! Auch Du bist einer der Verräther! Aber die Rache des Volkes wird Euch Alle ereilen.

Er erhob sich. Sein Fuß stieß an einen Gegenstand. Er bückte sich. Es war das Fernrohr des Chevalier.

– Das soll mir eine Erinnerung an diese Stunde sein – sagte er, es einsteckend. Da nahten auf's Neue Tritte. Es war der Chevalier, der sein Fernrohr vermißte und zurückgekehrt war, es zu suchen.

– He, was ist das?! – –

Dieser Ausruf galt dem jungen Manne, welcher plötzlich vor dem vor Schreck Erstarrten stand. Doch nur einige Sekunden dauerte der Eindruck, dann hatte der Chevalier sich gefaßt. Mit der linken Hand griff er rasch nach der Brust des Knaben, während die Rechte in dem Brustlatz seiner Blouse etwas zu suchen schien.

– Wer bist Du? – Was suchst Du hier? – donnerte er den Knaben an, welcher von seinem[206] Zorn durchaus nicht bewegt schien, sondern ruhig stehen blieb.

– Ich suchte und fand einen Verräther am Vaterlande – erwiederte Jener kalt.

Beim ersten Laute schon war der Chevalier einige Schritte zurückgetreten.

– Alice! – sagte er mit zitternder Stimme. –

Elender Meineidiger! – fragte mit dem Tone schmerzlicher Verachtung das bleiche Weib – hast Du auch wohl überlegt, was Du beginnst? Wird Deine feige Seele den Gedanken, ein Herostrat an dem Freiheitstempel Deutschlands gewesen zu sein, ertragen?

– Du hast also gelauscht? – Alice!

– Gilbert, ich habe Dich gepflegt, als Du zum Tode verwundet, Deinem Ende entgegensahst; als Alle, auch der Fürst, Dich verlassen hatten. – – Gedenkst Du des Schwures, den Du mir geleistet, als Du, durch meine Hand genesen, vom Krankenlager erstandest?

Gilbert schwieg.[207]

– Wirst Du auch diesen Eid brechen? Antworte!

– Ich werde ihn halten – erwiederte er düster.

– Das Wort hat Dir Dein guter Engel eingegeben – sagte sie mit unveränderlicher Ruhe. Jetzt antworte mir: Weiß der Fürst Lichninsky um diesen Cabinetsstreich?

– Ich bin sein Bevollmächtigter. Wir haben hierin gleiches Interesse.

– Wie? Der alte Löwe und der feige Schakal: Beide morden ihre Opfer, um sich zu sättigen. Wann wird der Waffenstillstand ratificirt werden?

– Noch in diesem Monat.

– Wer ist von Seiten Preußens mit der Ratification beauftragt?

– Der General von Below.

– Und von Dänemark?

– Herr von Reetz.

– Der General von W. ist natürlich eingeweiht?[208]

– Er hält sich vorläufig neutral, doch wird es sich morgen entscheiden.

– So muß ich eilen! – sagte Alice zu sich selbst und setzte dann laut hinzu: Es ist gut, Du kannst gehen.

Ohne ein Wort zu erwiedern, schritt Gilbert den Hügel hinab.

Alice eilte ins Gebüsch zurück und bestieg ein Boot, das tief in einer vom Meere ausgespülten kleinen Bucht verborgen war. Ein Mann, der der Länge nach im Boote ausgestreckt lag, erhob sich bei der Ankunft Alicens und nahm die Ruder zur Hand.

– Du bist lange geblieben – sagte er, mit einem kräftigen Stoß das gebrechliche Fahrzeug in das Meer hineinschleudernd, so daß die Wellen hoch aufspritzten. – Ich war bange um Dich. Hättest Du mir nicht ausdrücklich verboten, Dir zu folgen, so hätte ich Dich aufgesucht.

– Guter Ralph! – sagte Alice mit Wehmuth – nicht wahr, Du verräthst weder mich noch das Vaterland?![209]

Ralph sah sie erstaunt an.

– Weißt Du, mit wem ich ein Rendezvous gehabt?

– Wie soll ich's wissen!

– Mit Gilbert.

Das Ruder entsank seiner Hand, als er diesen Namen hörte.

– Und Du hast ihm nicht den Dolch ins Herz gestoßen?

– Pfui, wer wird gleich so unhöflich sein!

– Du hast recht – sagte lachend Ralph – wer Pech angreift, besudelt sich.

Wohin fahren wir?

– Nach dem Schlosse. – – – Ich muß Herrn von W. noch eine Visite machen.

– Es ist ja nahe an Mitternacht! – bemerkte Jener.

Alice beantwortete diese Worte nicht. Sie war in tiefes Sinnen versunken. Nach einer kurzen Zeit landete das Boot. Alice stieg aus.

– Erwarte mich, Ralph – sagte sie, den Weg nach dem Schlosse einschlagend.[210]

Ralph streckte sich wieder in seinem Boote aus und starrte, von der lauen Sommernacht angefächelt, zu dem blauen Sternenhimmel hinauf.

Das Schloß des Kammerherrn von Stehmann, der durch die wiederholten Brandschatzungen der Dänen zu einem eifrigen Verfechter der Schleswigschen Unabhängigkeit geworden, war, theils um den edlen Kammerherrn gegen dänische Ueberfälle zu schützen, theils weil in diesem Augenblicke der General von Wrangel darin sein Hauptquartier aufgeschlagen hatte, in eine kleine Festung verwandelt worden. Die dem Meere zugekehrte Seite war zwar offen, indeß mit einer starken Wache versehen, die andern drei Seiten waren durch hohe Wälle ziemlich geschützt. Außerdem standen vor dem Hauptthor des Schlosses zwei Zwölfpfünder.

Alice wurde auf ihr Verlangen, den General zu sprechen, sogleich durch einen der wachhabenden Soldaten in das Schloß geführt und dem General gemeldet. Obgleich es schon spät war,[211] so wurde sie dennoch vorgelassen. Der General saß an einem mit Papieren und Karten bedeckten Tisch. Sein runzliches, gelbes Gesicht mit dem kurzen, borstenartigen Schnurrbart, wie ihn die Militairs aus den »Freiheitskriegen« zu tragen pflegen, seine halbgeschlossenen Augen und das graue, kurze Haar bildeten ein Ensemble, das den lebendigen Typus eines »preußischen gedienten Soldaten« darstellte, in diesem Augenblicke aber der eintretenden Alice trotz ihrer ernsten Stimmung ein Lächeln abnöthigte, da der General die Folie, auf welcher das Bild erst seinen eigentlichen Charakter erhält, nämlich die preußische Uniform abgelegt hatte und wegen der großen Hitze in einem Leinwandrocke da saß. Alice war dem General nicht unbekannt. –

– General! – begann sie, ihren Chef militairisch begrüßend – ich komme, Ihnen eine wichtige Nachricht mitzutheilen. Um 9 Uhr 35 Minuten Abends hat sich eine dänische Fregatte vor dem Apenrader Hafen gelegt.[212]

– Was Sie sagen! – rief der General erstaunt aus. – Ihre Nachricht beruht auf keinem Irrthum?

– Sie können sich selbst davon überzeugen. Unten liegt mein Boot. Wenn's Ihnen beliebt, steuern wir hinaus, den Gast in der Nähe zu besehen. Der General erhob sich und ging einige Mal, die Hände auf den Rücken gelegt, das Zimmer auf und ab. Endlich blieb er vor Alicen stehen.

– Sie sind zur glücklichen Stunde gekommen, liebe Tochter – sagte er. – Einige Minuten später und es wäre zu spät gewesen. – – – – Es ist sicher, man hat parlamentirt, um unter der Hand einen desto sichern Schlag auszuführen.

Obgleich er die letzten Worte mehr im Selbstgespräch an sich selbst als an Alicen richtete, so glaubte diese dennoch darauf antworten zu müssen.

– Ich glaube nicht, General – sagte sie.

– Was glauben Sie nicht? – fragte er rasch.

– Daß der Däne den Hafen forciren wird.[213]

– Und woraus schließen Sie das?

– Der Capitain hat eine geheime Instruktion, die es ihm verbietet.

– Eine geheime Instruktion, von der Sie Kenntniß haben? – fragte er, ungläubig lächelnd.

– So ist's, General. Sie glauben mir nicht, so will ich Ihnen den Beweis geben, daß ich gut unterrichtet bin. Man trifft Vorbereitungen zu einem Waffenstillstande, vielleicht zu einem Friedensschlusse; Vorbereitungen, die bisher an Ihrem Widerstande gescheitert sind. Da hat man Sie auf die republikanischen Tendenzen hingewiesen, die sich in den unter Ihrem Oberbefehl stehenden Truppen kund gegeben und daraus die Nothwendigkeit abgeleitet, besonders die süddeutschen Truppen zu entlassen. Morgen hätten Sie sich entschieden, und zwar für den Waffenstillstand entschieden. Deshalb bin ich gekommen, um Ihnen zu sagen, daß das Ganze eine abgekartete Verrätherei ist, der sich als Werkzeug zu leihen für einen braven Soldaten keine Ehre sein kann.[214]

Das Erstaunen des Generals wuchs.

– Der dänische Capitain hat deshalb ausdrücklichen Befehl, sich völlig passiv zu verhalten, um Sie nicht zum aktiven Widerstande gegen ihn und dem zufolge auch gegen den Waffenstillstand zu reizen. Ich meine, daß Sie keine Ursache haben werden, dies Alles für bloße Träumerei zu halten. – – Denken Sie daran, General, daß Sie in diesem Augenblicke die höchste militairische Ehrenstelle in Deutschland bekleiden, Sie das Oberkommando der deutschen Reichstruppen inne haben. Wollen Sie Deutschlands Ehre, Deutschlands Freiheit den separatistischen Gelüsten der Fürsten, die Sympathieen des ganzen Volks den absolutistischen Intriguen weniger Dutzend Diplomaten zum Opfer bringen? –

Ich bin eine Frau, General, aber ich würde eher mein Leben hingeben, als diese Verantwortlichkeit auf mich nehmen. – Mein Geschäft ist vollendet; leben Sie wohl, General, und möge der Himmel Ihren Entschluß zum Segen des Volkes lenken.[215]

– Ich werde die heutige Nacht nicht vergessen – sagte der General, sichtlich bewegt. –

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Auf dem Schloßhofe begegnete Alice Gilbert, welcher ebenfalls zum General eilte, dessen Geheimsekretair er war.

– Ha – sagte er mit unterdrückter Wuth – Verrätherin! Du meinst, ich habe die Langmuth eines Lammes, daß Du es wagst, mich zum Aeußersten zu reizen. Du warst beim General?

Alice würdigte ihn keines Blicks, sondern eilte dem Ausgange zu.

– Du sollst mir Rede stehen! Hast Du mich verrathen?

– Es steht Euch gut, Chevalier – sagte Alice mit schneidendem Hohne – Euch gegenüber von meiner Verrätherei zu reden. Indessen rathe ich Euch, Eurer Zunge nicht allzusehr den Zügel schießen zu lassen und Euer heißes Blut etwas abzukühlen. Meine Feldapotheke enthält vortreffliche Pillen, welche eine wunderbare Kraft der Beruhigung besitzen. Seht! – diese kleine[216] Phiole ist damit bis zum Rande gefüllt. Sie hielt ihm die Mündung eines niedlichen Terzerols entgegen. –

Adieu!

Gilbert verharrte einen Augenblick in seiner Stellung, als sei er unschlüssig, ob er ihr folgen solle oder nicht. Dann wandte er sich kurz um und ging mit zögernden Schritten zum General hinauf.[217]

Quelle:
Louise Aston: Revolution und Contrerevolution. Bde. 1–2, Band 2, Mannheim 1849, S. 189-218.
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